Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 952/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_952/2009

Urteil vom 2. März 2010
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Seiler,
Gerichtsschreiberin Helfenstein Franke.

Verfahrensbeteiligte
S.________,
Beschwerdeführer,

gegen

Ausgleichskasse des Kantons Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Alters- und Hinterlassenenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern
vom 6. Oktober 2009.

Sachverhalt:

A.
S.________ war einziges Verwaltungsratsmitglied der Firma C.________ AG über
die am ... der Konkurs eröffnet und am ... mangels Aktiven eingestellt wurde.
Mit Verfügung vom 7. Mai 2008 und Einspracheentscheid vom 27. Mai 2009
verpflichtete die Ausgleichskasse des Kantons Bern, welcher die Konkursitin als
beitragspflichtige Arbeitgeberin angeschlossen gewesen war, S.________ zur
Bezahlung von Schadenersatz in der Höhe von Fr. 3'894.- für entgangene bundes-
und kantonalrechtliche Sozialversicherungsbeiträge (einschliesslich
Mahngebühren, Verzugszinsen und Verwaltungskosten).

B.
Die gegen den Einspracheentscheid erhobene Beschwerde wies das
Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 6. Oktober 2009 ab.

C.
S.________ führt Beschwerde ans Bundesgericht mit dem sinngemässen Antrag, er
sei von jeglicher Schadenersatzpflicht zu befreien, eventualiter sei die
Schadenersatzforderung zu reduzieren. Zudem ersucht er um Gewährung der
unentgeltlichen Rechtspflege im Sinne der Befreiung von den Gerichtskosten.

Erwägungen:

1.
Die Zuständigkeit der II. sozialrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts zum
Entscheid über die streitige Schadenersatzpflicht erstreckt sich auch auf die
Forderung für entgangene Sozialversicherungsbeiträge nach kantonalem Recht
(Urteil 9C_704/2007 vom 17. März 2008 E. 1, nicht publ. in: BGE 134 I 179, aber
in: SVR 2008 FL Nr. 1 S. 1, 9C_720/2008 vom 7. Dezember 2009, E. 1).

2.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzung gemäss den Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes
wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder
auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2
BGG; vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG). Mit Blick auf diese Kognitionsregelung ist
aufgrund der Vorbringen in der Beschwerde ans Bundesgericht zu prüfen, ob der
angefochtene Gerichtsentscheid in der Anwendung der massgeblichen materiell-
und beweisrechtlichen Grundlagen (u.a.) Bundesrecht verletzt (Art. 95 lit. a
BGG), einschliesslich einer allfälligen rechtsfehlerhaften
Tatsachenfeststellung (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG). Das Bundesgericht
darf nicht über die Begehren der Parteien hinausgehen (Art. 107 Abs. 1 BGG).

3.
Die Vorinstanz hat die Bestimmungen über die Arbeitgeberhaftung (Art. 52 AHVG;
Art. 14 Abs. 1 AHVG in Verbindung mit Art. 34 ff. AHVV) sowie die hiezu
ergangene Rechtsprechung, insbesondere über Eintritt des Schadens und Zeitpunkt
der Kenntnis des Schadens (BGE 129 V 193, 128 V 10, 119 V 89 E. 3 S. 92), die
subsidiäre Haftung der Organe eines Arbeitgebers (BGE 129 V 11, 126 V 237, 123
V 12 E. 5b S. 15, je mit Hinweisen), den zu ersetzenden Schaden (BGE 126 V 443
E. 3a S. 444, 123 V 12 E. 5b S. 15, je mit Hinweisen), die erforderliche
Widerrechtlichkeit (BGE 118 V 193 E. 2a S. 195 mit Hinweisen), die
Voraussetzung des Verschuldens und den dabei zu berücksichtigenden -
differenzierten - Sorgfaltsmassstab (BGE 108 V 199 E. 3a S. 202, ZAK 1992 S.
248 E. 4b, je mit Hinweisen; vgl. auch Thomas Nussbaumer, Die Haftung des
Verwaltungsrates nach Art. 52 AHVG, in: AJP 9/96, S. 1081) zutreffend
wiedergegeben. Darauf wird verwiesen.

4.
4.1 In Frage steht die Schadenersatzpflicht des Beschwerdeführers.

Wie das kantonale Gericht verbindlich (vgl. E. 2 hievor) festgestellt hat, hat
die konkursite Gesellschaft in der Lohnbescheinigung 2004 eine um Fr. 25'600.-
zu tiefe Lohnsumme deklariert; die entsprechenden Beiträge konnten nicht mehr
nachgefordert werden, weil im Zeitpunkt der Arbeitgeberkontrolle im Oktober
2006 der Konkurs bereits geschlossen worden war. Die Konkursitin ist damit den
ihr als Arbeitgeberin obliegenden Beitragsabrechnungs- und -zahlungspflichten
gemäss Art. 14 Abs. 1 AHVG in Verbindung mit Art. 34 ff. AHVV nur unvollständig
nachgekommen und hat damit Vorschriften im Sinne von Art. 52 Abs. 2 AHVG
missachtet (vgl. statt vieler: BGE 118 V 187 E. 1 am Ende), was grundsätzlich
die volle Schadenersatzpflicht gemäss Art. 52 AHVG nach sich zieht.
Umstritten und als Rechtsfrage frei zu prüfen ist, ob diese zum Beitragsverlust
führende Pflichtverletzung der Arbeitgeberin dem Beschwerdeführer - seines
Zeichens einziges Verwaltungsratsmitglied und damit formelles Organ einer
juristischen Person - als grobfahrlässiges Verhalten im Sinne von Art. 52 AHVG
anzurechnen ist. Dies haben Vorinstanz und Verwaltung bejaht, wogegen der
Beschwerdeführer geltend macht, eine grobfahrlässige Verletzung seiner
Arbeitgeberpflichten könne ihm nicht vorgeworfen werden.

4.2 Die Beurteilung der Frage, ob der Beschwerdeführer als verantwortliches
Arbeitgeberorgan seinen Sorgfaltspflichten im Zusammenhang mit der Einhaltung
der Beitragspflicht nachgekommen ist, also die verschuldensmässige Wertung der
Beitragspflichtverletzung, hat in Würdigung der gesamten Umstände, die zum
Zahlungsrückstand geführt haben, zu erfolgen (Urteile H 44/01 vom 16. Mai 2002,
H 438/00 vom 13. Februar 2002 und H 50/01 vom 9. November 2001, je mit
Hinweisen). Dabei ist nach ständiger Rechtsprechung nicht jede Verletzung der
öffentlich-rechtlichen Aufgaben der Arbeitgeberin als Institution der
Versicherungsdurchführung ohne weiteres als qualifiziertes Verschulden ihrer
Organe im Sinne von Art. 52 AHVG zu werten. Das absichtliche oder
grobfahrlässige Missachten von Vorschriften verlangt vielmehr einen
Normverstoss von einer gewissen Schwere (BGE 121 V 243 E. 4b S. 244).

4.3 Die Vorinstanz führte zur verschuldensmässigen Wertung der begangenen
Pflichtverletzung aus, zu den Pflichten des Beschwerdeführers habe auch gehört,
die Lohnsummen hinreichend zu deklarieren und für die Bezahlung der
Sozialversicherungsbeiträge besorgt zu sein, was nicht geschehen sei. Damit
habe der Beschwerdeführer zumindest in grobfahrlässiger Weise die ihm
obliegenden Pflichten verletzt. Zudem verneinte sie die vom Beschwerdeführer
geltend gemachten Exkulpations- oder Rechtfertigungsgründe im Zusammenhang mit
Sanierungsbemühungen und der versuchten Kontaktnahme mit der Ausgleichskasse.
Damit stützte sich das kantonale Gericht einzig auf die mit der
Lohnbescheinigung 2004 erfolgte Angabe einer zu geringen Lohnsumme. Wie die
Vorinstanz in ihrem Entscheid selbst ausführte, dürfen sich jedoch Verwaltung
und Sozialversicherungsgericht bei festgestellter Verletzung der
AHV-Vorschriften nicht auf die Prüfung beschränken, ob Exkulpations- oder
Rechtfertigungsgründe vorliegen, sondern haben vorgängig festzustellen, ob ein
qualifiziertes Verschulden im Sinne von Art. 52 AHVG anzunehmen ist (Urteil H
91/06 vom 20. Juni 2007 E. 5.1 mit Hinweisen). Weshalb die einmalige
Pflichtverletzung im Zusammenhang mit der Lohnbescheinigung 2004 als
grobfahrlässiges Verhalten zu werten ist, begründete die Vorinstanz jedoch in
keiner Weise. Eine solche einmalige Verfehlung kann denn auch für ein
qualifiziertes Verschulden, wie es im Rahmen von Art. 52 AHVG erforderlich ist,
nicht genügen, zumal jegliche Hinweise dafür fehlen, dass der Beschwerdeführer
beim Ausfüllen der Lohnbescheinigung 2004 absichtlich gewisse Positionen nicht
deklariert hätte oder es sonstwie an der erforderlichen Sorgfalt hätte mangeln
lassen, solche Verdachtsmomente auch die Vorinstanz nicht festgestellt hat und
es sich schliesslich im Verhältnis zur jährlichen Lohnsumme von rund Fr.
800'000.- Franken nur um eine relativ geringe Abweichung handelt. Die
Qualifikation dieses einmaligen Normverstosses als grobfahrlässig liefe
vielmehr auf eine nach Gesetz und Rechtsprechung unzulässige, da in Art. 52
AHVG nicht vorgesehene Kausalhaftung hinaus (vgl. bereits ZAK 1985 S. 51 E. 2a
mit Hinweisen).

Daran ändert im Übrigen nichts, dass bei der Arbeitgeberin - wie die Verwaltung
in ihrem Einspracheentscheid zur Begründung aufführte - bereits früher mittels
der Jahresschlussrechnungen regelmässig grössere Beiträge nachgefordert werden
mussten. Diese Korrekturen führten nicht zu einem Beitragsausfall, da sie
jeweils bezahlt wurden, und waren deshalb auch nicht kausal für den in Frage
stehenden Schaden, abgesehen davon, dass bis zum Inkrafttreten des Art. 35 Abs.
2 AHVV am 1. Januar 2001 ohnehin aus dem Umstand, dass sich der Schaden aus der
Differenz zwischen den Pauschalrechnungen und der Schlussabrechnung ergab und
die Anpassung der Pauschalzahlungen unter dem Jahr unterlassen wurde, kein
grobfahrlässiges Verhalten abgeleitet werden konnte (SVR 2003 AHV Nr. 1 S. 3 E.
6a, Urteil H 239/03 vom 25. Oktober 2004).

4.4 Zusammenfassend kann entgegen der Auffassung von Vorinstanz und Verwaltung
nicht von einem haftungsbegründenden qualifizierten Verschulden ausgegangen
werden, womit eine Haftung des Beschwerdeführers nach Art. 52 AHVG ausser
Betracht fällt.

5.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdegegnerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Das Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege im Sinne der Befreiung von den Gerichtskosten ist gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, vom 6. Oktober 2009 und
der Einspracheentscheid der Ausgleichskasse des Kantons Bern vom 27. Mai 2009
werden aufgehoben.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 700.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 2. März 2010
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Meyer Helfenstein Franke