Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 910/2009
Zurück zum Index II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2009
Retour à l'indice II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2009


Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_910/2009

Urteil vom 29. Januar 2010
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Kernen, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber Nussbaumer.

Parteien
S.________, vertreten durch Rechtsanwalt
Dr. Peter M. Conrad,
Beschwerdeführer,

gegen

Ausgleichskasse Promea, Ifangstrasse 8, 8952 Schlieren,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Alters- und Hinterlassenenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
18. August 2009.

Sachverhalt:

A.
Die am ... Februar 1996 im Handelsregister eingetragene Firma X.________ GmbH
war bis Ende 2001 der Ausgleichskasse Promea angeschlossen. Für ausstehende
Beitragsforderungen in Höhe von Fr. 18'457.70 stellte das Betreibungsamt
Y.________ der Ausgleichskasse am ... Juli 2002 einen definitiven
Pfändungsverlustschein aus. Am ... Oktober 2002 wurde über die Firma X.________
GmbH der Konkurs eröffnet, das Verfahren mangels Aktiven am ... Januar 2003
aber wieder eingestellt.
Mit Verfügung vom 20. September 2004 verpflichtete die Ausgleichskasse
S.________, einziger einzelzeichnungsberechtigter Gesellschafter und
Geschäftsführer der konkursiten Firma mit einer Stammeinlage von Fr. 20'000.-,
zur Bezahlung von Schadenersatz in der Höhe von Fr. 34'610.60 für entgangene
paritätische Sozialversicherungsbeiträge. Mit Einspracheentscheid vom 2.
Februar 2005 reduzierte sie die Schadenersatzforderung auf Fr. 25'294.90.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau mit Entscheid vom 18. August 2009 teilweise gut und verpflichtete den
Beschwerdeführer, der Ausgleichskasse Schadenersatz in Höhe von Fr. 6837.20 zu
bezahlen.

C.
S.________ führt mit Eingabe vom 25. Oktober 2009 und durch seinen
Rechtsvertreter mit Eingabe vom 28. Oktober 2009 Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, das Urteil des
Versicherungsgerichts, soweit dieses ihn zu Schadenersatzzahlungen verpflichte,
sei aufzuheben und es sei ihm eine Parteientschädigung zuzusprechen.
Die Ausgleichskasse Promea schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das
Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Erwägungen:

1.
1.1 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich
weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die
Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen
als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der
Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (BGE 134 V 250 E.
1.2 S. 252 mit Hinweisen; 133 III 545 E. 2.2 S. 550; 130 III 136 E. 1.4 S.
140). Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen
Begründungspflicht der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur
die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu
offensichtlich sind (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254).

1.2 Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG) und kann deren
Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn
sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von
Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). Eine unvollständige
Sachverhaltsfeststellung stellt eine vom Bundesgericht ebenfalls zu
korrigierende Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 lit. a BGG dar (SEILER/VON
WERDT/GÜNGERICH, Kommentar zum Bundesgerichtsgesetz, Bern 2007 N 24 zu Art.
97).

2.
Streitig ist einzig, ob die vorinstanzlich der Ausgleichskasse zugesprochene
Schadenersatzsumme im Teilbetrag von Fr. 6837.20 ebenfalls verjährt ist.

2.1 Das kantonale Gericht stellte in tatsächlicher Hinsicht fest, dass sich der
am ... Juli 2002 der Ausgleichskasse zugestellte definitive
Pfändungsverlustschein nicht auf den gesamten Schaden, sondern nur auf die
Schlussabrechnung für Lohnbeiträge der Abrechnungsperiode 2001 in Höhe von Fr.
18'457.70 beziehe. Für die beiden übrigen Forderungen von Fr. 2020.75 und Fr.
4816.45 sei daher die Verjährungsfrist nicht mit der Zustellung des
Pfändungsverlustscheins am ... Juli 2002 ausgelöst worden, sondern erst mit der
Publikation der Einstellung des Konkurses mangels Aktiven vom ... Januar 2003
im Schweizerischen Handelsamtsblatt. Somit sei der Schadenersatzanspruch im
Umfang von Fr. 6837.20, welcher sich ausschliesslich auf bundesrechtliche
Sozialversicherungsbeiträge beziehe, bei Erlass der Schadenersatzverfügung am
20. September 2004 noch nicht verjährt gewesen. Ein Pfändungsverlustschein für
einen einzelnen Schadensposten vermöge keinen Schadenseintritt für andere
Schadensposten zu begründen. Ebensowenig werde dadurch die Verjährungsfrist
eines anderen Schadenspostens ausgelöst. Es komme auch vor, dass - auch bei
Vorliegen von Pfändungsverlustscheinen - spätere Betreibungen für andere
Beitragsforderungen wieder erfolgreich seien. Die Ausgleichskasse müsse alle
tatsächlichen Umstände über die Existenz, die Beschaffenheit und die
wesentlichen Merkmale des Schadens kennen und in der Lage sein, die Höhe der
Forderung zu beziffern (Hinweis auf das Urteil H 105/05 des Eidg.
Versicherungsgerichts vom 19. Januar 2006, E. 4.1 mit Hinweisen).

2.2 Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, die Ausgleichskasse
hätte unter Beachtung der ihr zumutbaren Aufmerksamkeit erkennen müssen, dass
ihre gesamten offenen Forderungen gegenüber der Firma nicht mehr einbringlich
gewesen seien. Einerseits sei ihr am ... Juli 2002 der Pfändungsverlustschein
zugestellt worden, andererseits sei am ... Oktober 2002 über die Firma der
Konkurs eröffnet worden, welcher am ... Januar 2003 mangels Aktiven eingestellt
worden sei. Es habe für die Ausgleichskasse genügend Anhaltspunkte gegeben,
sodass sie mit der ihr zumutbaren Aufmerksamkeit hätte erkennen müssen, dass
die Beiträge nicht mehr eingefordert werden könnten. Diese Anhaltspunkte seien
für die Ausgleichskasse allesamt im Jahr 2002 erkennbar gewesen. Aus diesem
Grund habe die einjährige Verwirkungsfrist für den gesamten Forderungsbetrag im
Jahr 2002 zu laufen begonnen, weshalb der Schadenersatzanspruch verwirkt sei.
Für die letztinstanzlich zur Diskussion stehenden Schadenspositionen von Fr.
2020.75 und Fr. 4816.45 stelle das kantonale Gericht auf den Zeitpunkt der
Einstellung des Konkursverfahrens am ... Januar 2003 ab. Dieses Vorgehen sei
willkürlich, da für die Ausgleichskasse bereits rund ein halbes Jahr früher
ersichtlich gewesen sei, dass die Forderung nicht mehr eingefordert werden
könne.

3.
3.1 Der Beschwerdeführer legt seiner Argumentation die einjährige
Verwirkungsfrist des Art. 82 Abs. 1 AHVV, in Kraft gestanden bis 31. Dezember
2002, zu Grunde. Das kantonale Gericht hat jedoch zutreffend erwogen, dass
intertemporalrechtlich der seit 1. Januar 2003 in Kraft stehende Art. 52 Abs. 3
AHVG zur Anwendung gelangt. Danach verjährt der Schadenersatzanspruch zwei
Jahre, nachdem die zuständige Ausgleichskasse vom Schaden Kenntnis erhalten
hat, jedenfalls fünf Jahre nach Eintritt des Schadens (Satz 1). Diese Fristen
können unterbrochen werden (Satz 2). Wie das Bundesgericht in BGE 134 V 353
entschieden hat, ist Art. 52 Abs. 3 AHVG auch anwendbar, wenn der
Schadenersatzanspruch - wie hier - vor dem 1. Januar 2003 entstanden und in
diesem Zeitpunkt nach altArt. 82 Abs. 1 AHVV noch nicht verwirkt ist. Dabei ist
die unter dem alten Recht abgelaufene Zeit an die zweijährige Verjährungsfrist
anzurechnen. Im vorliegenden Fall hatte die Ausgleichskasse auch nach der
Auffassung des Beschwerdeführers frühestens mit dem Eingang des definitiven
Pfändungsverlustscheins am ... Juli 2002 Kenntnis des Schadens. Da somit die
einjährige Verwirkungsfrist des altArt. 82 Abs. 1 AHVV beim Wechsel zur neuen
Rechtslage am 1. Januar 2003 noch nicht abgelaufen war, wird sie durch die
zweijährige Verjährungsfrist des Art. 52 Abs. 3 AHVG abgelöst.

3.2 Streitig ist letztlich, ob die Ausgleichskasse mit Eingang des definitiven
Pfändungsverlustscheins am ... Juli 2002 auch für die beiden Schadenspositionen
im Betrag von Fr. 2020.75 und Fr. 4816.45 die fristauslösende Kenntnis hatte.
Dies kann jedoch zum Vornherein lediglich für den Betrag von Fr. 2020.75 in
Frage kommen. Die dieser Schadenersatzsumme zugrunde liegende Beitragsforderung
von Fr. 1907.10 machte die Ausgleichskasse mit Verfügung vom 8. Juli 2002, also
vor Ausstellung des Pfändungsverlustscheins, geltend. Die andere noch strittige
Schadensposition von Fr. 4816.45 beruht auf der Nachtragsverfügung vom 22.
November 2002. Diese Beitragsforderung resultierte aus der gestützt auf Art.
162 Abs. 2 AHVV infolge des Verbandsaustritts am 18. November 2002
vorgenommenen Schlusskontrolle. Erst auf Grund dieser Arbeitgeberrevision
erhielt die Ausgleichskasse zunächst einmal überhaupt Kenntnis von den
geschuldeten Beiträgen (Urteile H 74/05 vom 8. November 2005, E. 4.2, und H 30/
02 vom 3. März 2003, E. 3.2, des Eidg. Versicherungsgerichts). Frühestens in
diesem Zeitpunkt könnte auch der Eintritt des Schadens und die Kenntnis des
Schadens liegen. Bei Erlass der Schadenersatzverfügung vom 20. September 2004
war daher in Bezug auf den Betrag von Fr. 4816.45 die zweijährige
Verjährungsfrist noch nicht abgelaufen.
3.3
3.3.1 Der Erlass einer Schadenersatzverfügung setzt voraus, dass die
Ausgleichskasse Kenntnis vom Eintritt eines Schadens hat und ihr die
Ersatzpflichtigen bekannt sind (ZAK 1991 S. 128 unten mit Hinweisen). Nach der
Rechtsprechung gilt der Schaden als eingetreten, sobald anzunehmen ist, dass
die geschuldeten Beiträge aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht mehr
erhoben werden können (BGE 129 V 195 E. 2.2, 126 V 444 Erw. 3a, 121 III 384
Erw. 3b/bb, 388 Erw. 3a, 113 V 257 f., je mit Hinweisen). Dies trifft dann zu,
wenn die Beiträge im Sinne von Art. 16 Abs. 1 AHVG verwirkt sind oder wenn sie
wegen Zahlungsunfähigkeit des beitragspflichtigen Arbeitgebers nicht mehr im
ordentlichen Verfahren nach Art. 14 ff. AHVG erhoben werden können (BGE 123 V
15 Erw. 5b mit Hinweisen). Dieser Sachverhalt liegt u.a. vor, wenn die Beiträge
gemäss Art. 15 AHVG auf dem Wege der Betreibung eingefordert werden und das
Betreibungsverfahren zu einem definitiven Verlustschein führt (ZAK 1990 S. 288
Erw. 3b/cc) oder wenn das Konkursverfahren mangels Aktiven eingestellt wird
(ZAK 1990 S. 289 Erw. 4b).
3.3.2 Wie das Eidg. Versicherungsgericht im Urteil H 34/01 vom 17. August 2001
(E. 3b) entschieden hat, entsteht der Schaden grundsätzlich erst in Bezug auf
die Beitragsausstände, die dem mit dem definitiven Pfändungsverlustschein
verurkundeten Betrag zugrunde liegen. Bezüglich weiterer Beitragsforderungen
habe sich ein für den Schadenseintritt massgeblicher Sachverhalt noch nicht
verwirklicht. Wie auch bei den übrigen Regelzeitpunkten kann ausnahmsweise von
diesem Zeitpunkt abgewichen werden (Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts vom
2. Juli 2004, H 162/03, E. 5.2; Thomas Nussbaumer, Das Schadenersatzverfahren
nach Art. 52 AHVG, in: Aktuelle Fragen aus dem Beitragsrecht der AHV, St.
Gallen 1998, S. 109; Marco Reichmuth, Die Haftung des Arbeitgebers und seiner
Organe nach Art. 52 AHVG, Diss. Freiburg 2008, Rz. 364 S. 89). Da im
vorliegenden Fall die der strittigen Schadensposition zugrunde liegende
Beitragsforderung lediglich Fr. 1907.10 ausmachte, ist die Auffassung des
kantonalen Gerichts nicht bundesrechtswidrig, wenn es für den Schadenseintritt
und die Schadenskenntnis auf den Regelzeitpunkt der Einstellung des
Konkursverfahrens am ... Januar 2003 abstellte. Es ist durchaus möglich, dass
die Ausgleichskasse den geringen Betrag bei betreibungsrechtlicher Durchsetzung
hätte erhältlich machen können. Die Beschwerde ist daher unbegründet.

4.
Bei diesem Verfahrensausgang ist der Beschwerdeführer kostenpflichtig (Art. 66
Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 1000.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 29. Januar 2010
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Nussbaumer