Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 901/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_901/2009

Urteil vom 5. Februar 2010
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber Scartazzini.

Parteien
K.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dieter Studer,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Thurgau,
St. Gallerstrasse 13, 8500 Frauenfeld,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau
vom 23. September 2009.

Sachverhalt:

A.
Der 1972 geborene K.________ war von 1995 bis 2002 als Maschinenschlosser und
ab 1. Januar 2003 als Chauffeur tätig. Am 22. November 2005 erlitt er einen
Verkehrsunfall und am 13. Dezember 2006 meldete er sich bei der
Invalidenversicherung zum Bezug von Leistungen an. Durch die Medizinische
Abklärungsstelle (MEDAS) wurde am 7. Juni 2007 im Auftrag des
Unfallversicherers ein polydisziplinäres Gutachten erstellt. Auf Veranlassung
der IV-Stelle des Kantons Thurgau unterzog sich der Versicherte einer
polydisziplinären Untersuchung im medizinischen Begutachtungsinstitut
X.________. Im Gutachten vom 29. Mai 2008 wurden eine rezidivierende depressive
Störung mit einer gegenwärtig leichten Episode, ein chronisches zervikozephales
und zervikobrachiales Schmerzsyndrom rechts sowie ein chronisches lumbales
Schmerzsyndrom mit pseudoradikulären Schmerzausstrahlungen in das rechte Bein
diagnostiziert. Mit Verfügung vom 6. März 2009 sprach die IV-Stelle eine bis
31. März 2008 befristete halbe Invalidenrente mit Wirkung ab 1. November 2006
zu und verneinte einen weiteren Leistungsanspruch ab 1. April 2008 aufgrund
eines Invaliditätsgrades von 20 %.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons
Thurgau, soweit es darauf eintrat, mit Entscheid vom 23. September 2009 ab.

C.
K.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Rechtsbegehren, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei die
Sache an die IV-Stelle zur weiteren Abklärung und anschliessenden Neuverfügung
zurückzuweisen. Eventualiter seien ihm die gesetzlichen Leistungen
zuzusprechen.
Während IV-Stelle und Vorinstanz auf Abweisung der Beschwerde schliessen,
verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) auf eine
Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzung gemäss den Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes
wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder
auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2
BGG; vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG). Mit Blick auf diese Kognitionsregelung ist
aufgrund der Vorbringen in der Beschwerde an das Bundesgericht (Art. 107 Abs. 1
BGG) nur zu prüfen, ob der angefochtene Gerichtsentscheid in Anwendung der
massgeblichen materiell- und beweisrechtlichen Grundlagen (unter anderem)
Bundesrecht verletzt (Art. 95 lit. a BGG), einschliesslich einer allfälligen
rechtsfehlerhaften Tatsachenfeststellung (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG).
Hiezu gehört insbesondere auch die unvollständige (gerichtliche) Feststellung
der rechtserheblichen Tatsachen und die Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes
als einer wesentlichen Verfahrensvorschrift (Urteile 9C_534/2007 vom 27. Mai
2008, E. 1 mit Hinweis auf ULRICH MEYER, N. 58-61 zu Art. 105, in: Niggli/
Uebersax/Wiprächtiger [Hrsg.], Basler Kommentar Bundesgerichtsgesetz, Basel
2008; SEILER/VON WERDT/ GÜNGERICH, Kommentar zum Bundesgerichtsgesetz, Bern
2007, N. 24 zu Art. 97).

2.
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze über die
Voraussetzungen und den Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 2 IVG) sowie
die Invaliditätsbemessung nach der allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs
(Art. 16 ATSG) zutreffend dargelegt. Ebenfalls richtig sind die Ausführungen zu
den bei einer rückwirkenden Zusprechung einer befristeten Invalidenrente
geltenden Grundsätzen (analoge Anwendung von Art. 17 ATSG in Verbindung mit
Art. 87 IVV) sowie zum Beweiswert ärztlicher Berichte und Gutachten und zur
Beweiswürdigung (BGE 125 V 351 E. 3 S. 352 ff.; 122 V 157 E. 1c S. 160 ff., je
mit Hinweisen; vgl. auch BGE 132 V 393 E. 4.1 S. 400). Darauf wird verwiesen.

3.
Streitig und zu prüfen ist der Rentenanspruch des Versicherten ab 1. April
2008. Dabei steht insbesondere in Frage, ob Vorinstanz und Verwaltung bei der
Beurteilung der Arbeitsfähigkeit zu Recht auf das Gutachten des medizinischen
Begutachtungsinstituts X.________ vom 29. Mai 2008 abgestellt haben.

3.1 Das kantonale Gericht hat festgestellt, dass im April 2008 beim
Versicherten sowohl aus somatischer wie auch aus psychiatrischer Sicht eine
Verbesserung des Gesundheitszustandes und der Arbeitsfähigkeit von 50 % auf 80
% eingetreten war. Die Vorinstanz erwog, dem Gutachten des medizinischen
Begutachtungsinstituts X.________ komme volle Beweiskraft zu. Sie begründete
dies insbesondere damit, dass die rechtsprechungsgemässen Kriterien an ein
beweiskräftiges Gutachten erfüllt seien und die untersuchenden Gutachter zu den
Diskrepanzen in früheren medizinischen Beurteilungen nachvollziehbar Stellung
genommen hätten. Die Vorbringen des Beschwerdeführers, die lumbale
Schmerzproblematik sei nicht ausreichend berücksichtigt und beurteilt worden,
erachtete das Gericht als nicht massgeblich, weil der Gutachter Dr. med.
S.________ des medizinischen Begutachtungsinstituts X.________ aus
neurologischer Sicht keine objektivierbaren Befunde zu erheben vermochte,
welche die geklagten Beeinträchtigungen erklären würden. Auch weitere
Abklärungen in rheumatologischer Hinsicht seien entbehrlich, da bereits im
Rahmen der MEDAS-Begutachtung eine Beurteilung erfolgt war, aus welcher
hervorgehe, dass beim Beschwerdeführer viele Zeichen für nicht organisches
Krankheitsverhalten vorlägen, sodass auch keine Notwendigkeit bestanden habe,
MRI-Aufnahmen der lumbalen Wirbelsäule durchführen zu lassen. Bezüglich der
lumbosacralen Diskushernie sei im Austrittsbericht des Spitals Y.________ vom
25. Januar 2005 festgestellt worden, dass damals unter konservativer Therapie
eine Beschwerdefreiheit aufgetreten war und der Versicherte seine Arbeit wieder
aufnehmen konnte. An dieser Beurteilung vermöge auch der nachträglich
eingereichte Bericht des Spitals Y.________ vom 15. Juni 2009 nichts zu ändern,
weil aufgrund der MRT-Untersuchung vom 11. Juni 2009 die
Nervenwurzel-Kompressionen im Bereich L5 und S1 lediglich als möglich
bezeichnet wurden. Zudem sei diese neue Untersuchung über drei Monate nach dem
Erlass der angefochtenen Verfügung vom 6. März 2009 erfolgt. Nicht zu
beanstanden sei, dass im Rahmen der Begutachtung des medizinischen
Begutachtungsinstituts X.________ keine neuropsychologische Teilbegutachtung
stattgefunden hat, und schliesslich sei der Beschwerdeführer auch in
psychiatrischer Hinsicht umfassend abgeklärt worden.

3.2 Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes und
macht geltend, weder ein Rheumatologe noch ein Orthopäde habe eine Begutachtung
vorgenommen. Im Gutachten des medizinischen Begutachtungsinstituts X.________
sei einzig die Schleudertrauma-Problematik untersucht worden, obwohl der
Beschwerdeführer vor dem Unfall aufgrund einer Diskushernie L5/S1 wiederholt
arbeitsunfähig gewesen sei. Probleme bereite auch die in der MRT vom 11. Juni
2009 objektivierte mediane bis medio-lateral beidseitige Diskushernie L4/5,
wobei zudem eine beidseitige Reizung der Nervenwurzel S1 möglich sei. Trotz
angenommener Nervenwurzelkompressionen sei der radiologische Bericht des
Spitals Y.________ vom 15. Juni 2009 bisher keinem Arzt oder medizinischen
Gutachter zur erneuten Arbeitsfähigkeitsschätzung vorgelegt worden. Auch wenn
am 25. Januar 2005 eine Beschwerdefreiheit festgestellt worden war, sei im
Bericht der Klinik des Spitals Y.________ vom 8. Mai 2008 aber bereits wieder
eine Wurzelirritation S1 aktenkundig. Schliesslich habe die Vorinstanz mit der
Bestätigung des durch die Verwaltung festgesetzten Zeitpunktes der
Rentenaufhebung eine Rechtsverletzung begangen, weil bei wesentlicher
Verbesserung des Gesundheitszustandes seit April 2008 die Einstellung der
Leistung erst ab 1. Juli 2008 zulässig sei.

3.3 Die vorinstanzlichen Feststellungen zur Arbeitsfähigkeit betreffen
grundsätzlich eine Tatfrage, welche bloss unter dem eingeschränkten Blickwinkel
von Art. 97 Abs. 1 BGG zu prüfen ist (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397 ff.). Dagegen
beschlägt die Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes und der
Beweiswürdigungsregeln eine Rechtsfrage (Art. 61 lit. c ATSG; BGE 132 V 393 E.
3.2 und 4 S. 397 ff.; Urteil 8C_74/2008 vom 22. August 2008, E. 2.3).

3.4 Die Vorinstanz ist aufgrund der vorhandenen medizinischen Unterlagen zu
Recht zum Schluss gelangt, dass die untersuchenden Gutachter des medizinischen
Begutachtungsinstituts X.________ zu den verschiedenen Beurteilungen
nachvollziehbar Stellung genommen hatten. Die chronische lumbale
Schmerzproblematik sowie die stationäre Behandlung des Versicherten im Spital
Y.________ im Jahre 2005 wurden im Gutachten des medizinischen
Begutachtungsinstituts X.________ zutreffend berücksichtigt. Richtig wurde aber
auch festgehalten, dass im MEDAS-Gutachten vom 7. Juni 2007 die allgemeine
Somatisierungstendenz des Versicherten und seine mangelnde Willensanstrengung
mehrfach attestiert wurden. Dabei fällt auf, dass der Beschwerdeführer in
seinen subjektiven Angaben und in den persönlichen Anamnesen die lumbalen
Beschwerden nicht einmal selbst erwähnt hatte und dass auch im Arztbericht der
Psychiatrischen Klinik des Spitals Y.________ vom 8. Mai 2008 unter den
"angegebenen Beschwerden zum Eintrittszeitpunkt am 26.11.07" von lumbalen
Rückenbeschwerden überhaupt keine Rede ist. Der Beschwerdeführer stützt sich
hauptsächlich auf den vorinstanzlich ins Recht gelegten Radiologiebericht des
Spitals Y.________ vom 15. Juni 2009 und macht geltend, das kantonale Gericht
habe ihn nicht gewürdigt. Dies trifft nicht zu, hat sich die Vorinstanz in
ihrem Entscheid doch auch mit diesem Bericht auseinandergesetzt (E. 3.3.3 S. 12
f.). Sie hat allerdings zutreffend festgestellt, dass der beurteilende Facharzt
nur von einer möglichen Kompression der Nervenwurzel L5 beidseits gesprochen
und eine solche bei der Nervenwurzel S1 ausdrücklich ausgeschlossen hat. Auch
dieses Vorbringen stösst daher ins Leere, wobei der Verweis des
Beschwerdeführers auf ähnliche Entscheide unbehelflich ist, weil der
Sachverhalt in den angesprochenen Fällen mit dem vorliegenden nicht
vergleichbar ist.
Indem die Vorinstanz unter diesen Umständen abschliessend auf das Gutachten des
medizinischen Begutachtungsinstituts X.________, das sich überdies in die
gesamte medizinische Aktenlage schlüssig einfügt, abgestellt hat, hat sie weder
den Sachverhalt unvollständig festgestellt noch den Untersuchungsgrundsatz
verletzt (Art. 69 Abs. 2 IVV, Art. 43 Abs. 1 und Art. 61 lit. c ATSG; BGE 130 V
6 E. 5.2.5 S. 68 f.).

3.5 Was den Zeitpunkt der Rentenaufhebung anbelangt, ging das kantonale Gericht
davon aus, der Gesundheitszustand habe sich ab April 2008 wesentlich verbessert
(vorinstanzlicher Entscheid, E. 4, S. 17 unten f.). Daher fällt eine Befristung
auf 31. März 2008 ausser Betracht. Vielmehr ist in Anwendung von Art. 88a Abs.
1 IVV zweiter Satz, wonach die anspruchsbeeinflussende Änderung spätestens von
dem Zeitpunkt an zu berücksichtigen ist, in dem sie ohne wesentliche
Unterbrechung drei Monate angedauert hat und voraussichtlich weiterhin andauern
wird, die halbe Invalidenrente mit Wirkung ab 1. Juli 2008 aufzuheben.

4.
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten den Parteien
anteilsmässig aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die IV-Stelle hat dem
Beschwerdeführer eine reduzierte Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs.
1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 23. September 2009 und die
Verfügung der IV-Stelle des Kantons Thurgau vom 6. März 2009 werden dahingehend
abgeändert, dass der Beschwerdeführer Anspruch auf eine halbe Invalidenrente
bis 30. Juni 2008 hat. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.

2.
Von den Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer Fr. 400.- und
der Beschwerdegegnerin Fr. 100.- auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 600.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Gerichtskosten und der Parteientschädigung
des vorangegangenen Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau
zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau,
der Ostschweizerische Ausgleichskasse für Handel und Industrie und dem
Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 5. Februar 2010
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Scartazzini