Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 893/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_893/2009

Urteil vom 22. Dezember 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Seiler, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber Fessler.

Parteien
A.________,
vertreten durch Fürsprecher Gerhard Lanz,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle Bern,
Chutzenstrasse 10, 3001 Bern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Ausstand),

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 15.
September 2009.

Sachverhalt:

A.
Der 1956 geborene A.________ meldete sich im April 2002 ein zweites Mal bei der
Invalidenversicherung an und ersuchte u.a. um eine Rente. Im Rahmen der
Abklärung der gesundheitlichen Verhältnisse liess die IV-Stelle Bern den
Gesuchsteller u.a. durch Dr. med. X.________, Facharzt für Psychiatrie und
Psychotherapie FMH, untersuchen und begutachten. Mit Verfügung vom 16.
September 2004 und Einspracheentscheid vom 10. Februar 2005 verneinte die
IV-Stelle den Anspruch auf eine Invalidenrente, was die I. sozialrechtliche
Abteilung des Bundesgerichts mit Urteil I 18/06 vom 1. Februar 2007
letztinstanzlich bestätigte.

Im Dezember 2007 meldete sich A.________ erneut bei der Invalidenversicherung
an und beantragte eine Rente. Mit Vorbescheid vom 16. Mai 2008 teilte ihm die
IV-Stelle Bern mit, das Leistungsbegehren müsse abgelehnt werden. Dagegen liess
der Versicherte Einwendungen erheben. Nach Rücksprache mit dem regionalen
ärztlichen Dienst teilte die IV-Stelle A.________ mit, sie beabsichtige, u.a.
bei Dr. med. X.________ eine Untersuchung anzuordnen, was der Versicherte
jedoch ablehnte. Dem Ersuchen von A.________, eine anfechtbare Verfügung zu
erlassen und darin zu dem auch gegen Dr. med. X.________ geltend gemachten
Ausstandsgrund der Befangenheit Stellung zu nehmen, kam die IV-Stelle nicht
innert der ihr hiefür gesetzten Frist nach.

B.
Am 30 Oktober 2008 liess A.________ Rechtsverweigerungsbeschwerde erheben,
welche das Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche
Abteilung, mit Entscheid vom 20. Januar 2009 abwies. In Gutheissung der
hiegegen erhobenen Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten hob das
Bundesgericht, II. sozialrechtliche Abteilung, dieses Erkenntnis auf und wies
die Sache an das kantonale Gericht zurück, damit es über die (formelle oder
materielle) Natur der Einwendungen gegen Dr. med. X.________ und allenfalls
deren Begründetheit entscheide (Urteil 9C_199/2009 vom 9. Juni 2009).
Nach Durchführung eines Schriftenwechsels wies die
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung des Verwaltungsgerichts des Kantons
Bern die Beschwerde mangels Stichhaltigkeit der in Bezug auf Dr. med.
X.________ geltend gemachten Befangenheitsgründe ab (Entscheid vom 15.
September 2009).

C.
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 15. September 2009 sei aufzuheben und
die IV-Stelle anzuweisen, von der Begutachtung durch Dr. med. X.________ wegen
Befangenheit abzusehen.
Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das kantonale Gericht
enthält sich einer Stellungnahme und stellt keinen Antrag zur Beschwerde,
während das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung
verzichtet.

Erwägungen:

1.
Muss die IV-Stelle zur Abklärung des Sachverhaltes ein Gutachten einer oder
eines unabhängigen Sachverständigen einholen, gibt sie der Partei deren oder
dessen Namen bekannt. Diese kann den Gutachter aus triftigen Gründen ablehnen
und kann Gegenvorschläge machen (Art. 44 ATSG in Verbindung mit Art. 2 ATSG und
Art. 1 Abs. 1 IVG).

1.1 Für Sachverständige gelten grundsätzlich die gleichen Ausstands- und
Ablehnungsgründe, wie sie für Richter vorgesehen sind. Danach ist Befangenheit
anzunehmen, wenn Umstände vorliegen, die in objektiver Weise und nicht bloss
auf Grund des subjektiven Empfindens der Partei geeignet sind, Misstrauen in
die Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit der sachverständigen Person zu
erwecken (BGE 132 V 93 E. 7.1 S. 109 mit Hinweis).

1.2 Im Hinblick auf die erhebliche Bedeutung, welche medizinischen Gutachten im
Sozialversicherungsrecht zukommt, ist an die Unparteilichkeit der
begutachtenden Ärzte ein strenger Massstab anzulegen (BGE 132 V 93 E. 7.1 S.
110; 120 V 357 E. 3b in fine S. 367 mit Hinweisen).
1.2.1 Ein Sachverständiger gilt jedoch nicht schon deshalb als voreingenommen,
wenn er sich schon einmal mit der zu begutachtenden Person befasst hatte und
dabei zu für sie ungünstigen Schlussfolgerungen gelangt war (BGE 132 V 93 E.
7.2.2 S. 110 mit Hinweis). Entscheidend ist, dass das Ergebnis der Abklärung
nach wie vor als offen und nicht vorbestimmt erscheint (BGE 117 Ia 182 E. 3b S.
184; SVR 2009 IV Nr. 16, 8C_89/2007 E. 6.2).
Der Beschwerdeführer bringt zu Recht nicht vor, Dr. med. X.________ erwecke
bereits deshalb den Anschein von Befangenheit, weil dieser ihn bereits im
Sommer 2004 begutachtet und damals eine psychisch bedingte Arbeitsunfähigkeit
verneint hatte.
1.2.2 Das Expertenverhalten während der Exploration kann objektiv den Anschein
von Befangenheit erwecken. Zu denken ist etwa an Äusserungen, welche die
Glaubhaftigkeit der Angaben des Exploranden oder der Explorandin zum
Gesundheitszustand und zur Selbsteinschätzung der Arbeitsfähigkeit von
vornherein mehr oder weniger offen verneinen, abschätzige Bemerkungen
persönlicher Natur oder unter Umständen die Art und Weise, wie die Untersuchung
durchgeführt wird und in diesem Zusammenhang auch die Dauer der Massnahme
(Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts U 44/04 vom 26. November 2004 E. 4.2).
Die Objektivität der Beurteilung steht auch in Frage, wenn die begutachtende
Person von weitgehend sachfremden Kriterien auf Aspekte des
Gesundheitszustandes schliesst, welche für die zumutbare Arbeitsfähigkeit von
Bedeutung sind (SVR 2007 UV Nr. 26, U 339/06 E. 3.2; vgl. auch BGE 120 V 357 E.
3b S. 365 ff.). Schliesslich kann die Abfassung einer medizinischen Expertise
in beleidigendem Ton oder sonst auf unsachliche Art und Weise objektiv Zweifel
an der Unvoreingenommenheit der sachverständigen Person wecken (Urteil 1P.204/
1992 vom 21. Oktober 1992 E. 4a).
Für die Frage, ob bestimmte Äusserungen oder das Verhalten des Experten oder
der Expertin objektiv den Anschein der Befangenheit zu erwecken vermögen, kann
allenfalls auch von Bedeutung sein, ob das Verhältnis zwischen der
sachverständigen und der zu explorierenden Person angespannt war, ohne dass
Anhaltspunkte für ein negatives unkooperatives Verhalten seitens der
abzuklärenden Person bestand (vgl. SVR 2007 UV Nr. 26, U 339/06 E. 3.2). Der
Umstand, dass ein insbesondere im therapeutischen Kontext wichtiges
Vertrauensverhältnis zwischen begutachtendem Arzt und Patient nicht hergestellt
werden konnte, lässt jedoch nicht auf Voreingenommenheit schliessen.

1.3 Ob bei einer gegebenen Sachlage auf die Voreingenommenheit des
Sachverständigen zu schliessen ist, stellt eine vom Bundesgericht frei prüfbare
Rechtsfrage dar (Art. 95 BGG; Urteile 8C_802/2007 vom 5. Mai 2008 E. 4 und
9C_846/2007 vom 11. März 2008 E. 4).

2.
2.1 Im Urteil I 18/06 vom 1. Februar 2007 verneinte die I. sozialrechtliche
Abteilung des Bundesgerichts den Beweiswert des Gutachtens des Dr. med.
X.________ vom August 2004. Zahlreiche Sachverhaltsdetails würden angegeben,
die im deutlichen Widerspruch zu den Akten stünden. Unter anderem werde die
Anamnese nicht detailliert wiedergegeben, weshalb es nicht möglich sei zu
überprüfen, ob diese zur Kenntnis genommen worden sei. Entscheidend sei dabei
der Irrtum des Gutachters über die Erwerbstätigkeit des Beschwerdeführers nach
der Diskushernienoperation. Er gebe an, die Arbeit sei erst 1999 niedergelegt
worden. In Wirklichkeit habe der Versicherte seit 1994 nicht mehr gearbeitet.
Ebenfalls lägen in Bezug auf den Unfall der Ehefrau und dessen Auswirkungen auf
die Arbeitsfähigkeit offenbar Irrtümer vor. Diese riefen hinsichtlich der
Qualität der Expertise Fragen auf. Zudem sei das Gutachten für die streitigen
Belange weder umfassend noch leuchteten die Beurteilung der medizinischen
Zusammenhänge und die daraus getroffenen Schlussfolgerungen ein, weil sie nicht
begründet seien. Das treffe vor allem auf die Aussage des Dr. med. X.________
zu, seines Erachtens sei die Somatisierungsstörung zwar vorhanden, jedoch noch
milde ausgeprägt und nicht chronifiziert. Dies stehe im Widerspruch dazu, dass
alle anderen involvierten Ärzte von einem seit Jahren chronifizierten lumbalen
Schmerzsyndrom ohne somatische Ursache berichteten. Schliesslich fehle es auch
an begründeten Angaben darüber, inwiefern die psychischen Ressourcen es dem
Beschwerdeführer gestatteten, mit seinen Schmerzen umzugehen.
In seiner Stellungnahme vom 29. April 2005 zu den Vorhaltungen des
Rechtsvertreters des Versicherten gegen die Expertise vom August 2004 führte
Dr. X.________ u.a. aus, die angeblichen Widersprüche seien an sich sekundär
und führten nicht dazu, dass diagnostische Überlegungen deswegen neu gemacht
werden müssten. Er gehe (implizit zufolge Fehlens einer hirnorganischen
Störung) davon aus, dass wegen mangelnder Kooperation des Versicherten
divergierende Angaben gemacht worden seien.

2.2 Nach Auffassung der Vorinstanz kann aus dem materiell ungenügenden
Gutachten des Dr. med. X.________ vom August 2004 und seiner als wenig geglückt
zu bezeichnenden Verteidigung der Expertise in der Stellungnahme vom 29. April
2005 weder auf damalige noch künftige Befangenheit geschlossen werden. Der
Experte habe fehlerhaft gearbeitet. In Bezug auf die Kritik des Bundesgerichts
könne nicht von einem Blossstellen gesprochen werden. Dr. med. X.________ müsse
zur Kenntnis nehmen und auch akzeptieren, dass seine Begutachtung im konkreten
Fall nicht zu überzeugen vermocht habe.
2.3
2.3.1 Die Beanstandungen des Bundesgerichts wiegen nicht leicht. Sie legen eine
unsorgfältige Arbeitsweise des Gutachters offen, welchem seine Irrtümer sofort
hätten auffallen müssen, wenn er bloss die medizinischen Berichte und den
Abklärungsbericht der Beruflichen Abklärungsstelle aufmerksam gelesen hätte,
mithin jene Aktenteile, welche für eine psychiatrische Begutachtung von
zentraler Bedeutung sind, wie der Beschwerdeführer insoweit zu Recht vorbringt.
Auch wenn nicht gesagt werden kann, die bundesgerichtliche Kritik sei geradezu
blossstellend, stellt sie dem Experten zumindest kein gutes Zeugnis aus. Dessen
Sachkunde steht im Übrigen ausser Frage (vgl. Urteil 1P.553/1999 vom 30.
November 1999 E. 2b, wonach das Fehlen der erforderlichen Sachkunde die Frage
der Beweiswürdigung beschlägt und daher materieller, nicht formeller Natur
ist).
2.3.2 Die Stellungnahme des Dr. med. X.________ vom 29. April 2005 sodann kann
im Kontext nicht bloss als wenig geglückte Verteidigung seines Gutachtens vom
August 2004 bezeichnet werden. Der Versuch des Experten, die Gründe für die
Ungereimtheiten (zunächst) ausserhalb seiner Person zu suchen, kann zwar nicht
als grundsätzliche Kritikunfähigkeit oder sogar als Unvermögen, Fehler
einzusehen, betrachtet werden. Der Umstand, dass der Gutachter die Ursache
hiefür im unkooperativen Verhalten des Exploranden sah, weckt indessen objektiv
Zweifel an seiner Unvoreingenommenheit im Hinblick auf eine weitere
Begutachtung. Er machte den Exploranden für Fehler verantwortlich, die dieser
gar nicht machen konnte. Allfällige widersprüchliche Angaben hätten spätestens
beim Studium der wichtigsten Akten entdeckt werden können, wie der
Beschwerdeführer zu Recht vorbringt. Die in der Stellungnahme vom 29. April
2005 erwähnte mangelnde Kooperation des Exploranden kann nicht etwa bloss als
ungeschickte Äusserung aufgefasst werden, welche objektiv nicht den Anschein
von Befangenheit zu erwecken vermöchte (vgl. Urteil 6B_299/ 2007 vom 11.
Oktober 2007 E. 5.1.2 und 5.2.1). Es kommt dazu, dass in der Expertise vom
August 2004 nicht die geringsten Anhaltspunkte für ein unkooperatives Verhalten
des Versicherten zu finden sind. Mit diesem nachgeschobenen, unbelegten Vorwurf
hat der Gutachter selber eine mögliche weitere Begutachtung in Frage gestellt.
Es ist denn auch unwahrscheinlich, dass zwischen Experten und Exploranden noch
ein für die psychiatrische Abklärung notwendiges Vertrauensverhältnis entstehen
könnte.

Unter den gegebenen Umständen muss Dr. med. X.________ objektiv betrachtet als
befangen gelten. Er fällt damit als versicherungsexterner Gutachter für die von
der IV-Stelle als notwendig erachtete psychiatrische Abklärung ausser Betracht.
Der anders lautende vorinstanzliche Entscheid verletzt Bundesrecht.

3.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die IV-Stelle die Gerichtskosten zu
tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung
zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, vom 15. September 2009
wird aufgehoben und es wird festgestellt, dass Dr. med. X.________ im Hinblick
auf die in Aussicht genommene Begutachtung des Beschwerdeführers als befangen
zu gelten hat.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der IV-Stelle Bern auferlegt.

3.
Die IV-Stelle Bern hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche
Abteilung, hat die Parteientschädigung für das vorangegangene Verfahren
festzusetzen

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 22. Dezember 2009

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Fessler