Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 870/2009
Zurück zum Index II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2009
Retour à l'indice II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2009


Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_870/2009

Urteil vom 8. Juni 2010
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Kernen, Seiler, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber R. Widmer.

Verfahrensbeteiligte
B.________, vertreten durch
Rechtsanwalt Philip Stolkin,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Freiburg, route du Mont-Carmel 5, 1762 Givisiez,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts Freiburg vom 21. August
2009.

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 4. Mai 2007 lehnte die IV-Stelle des Kantons Freiburg das
Gesuch der 1951 geborenen, an einer Lungenkrankheit leidenden B.________ um
Zusprechung einer Invalidenrente ab, weil sie mit einer angepassten Tätigkeit
Erwerbseinkünfte etwa in gleicher Höhe wie bis Dezember 2004 bei der Firma
A.________ AG in der Elektronik-Montage verdienen könnte.

B.
B.________ liess Beschwerde führen mit dem Rechtsbegehren, unter Aufhebung der
angefochtenen Verfügung sei ihr eine ganze Invalidenrente zuzusprechen. In
verfahrensrechtlicher Hinsicht beantragte sie u.a., es sei eine öffentliche
Verhandlung durchzuführen. Mit Entscheid vom 21. August 2009 wies das
Kantonsgericht Freiburg die Beschwerde ab, ohne eine öffentliche Verhandlung
durchgeführt zu haben.

C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt B.________ die
Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides verlangen und den Antrag auf
Zusprechung einer ganzen Invalidenrente erneuern; ferner ersucht sie um die
Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege. Sie rügt insbesondere, dass das
kantonale Gericht entgegen ihrem klaren Antrag auf die Durchführung einer
öffentlichen Verhandlung verzichtet habe.
Während die IV-Stelle auf Abweisung der Beschwerde schliesst und das Bundesamt
für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung verzichtet, begründet das
Kantonsgericht in seiner Stellungnahme den Verzicht auf die öffentliche
Verhandlung.
Am 21. Dezember 2009 lässt die Versicherte eine zusätzliche Eingabe einreichen.

Erwägungen:

1.
Nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK hat jedermann Anspruch darauf, dass seine Sache in
billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist von einem
unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht gehört wird, das
über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die
Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden
hat (Satz 1).
Nach der Rechtsprechung stehen im vorliegenden Verfahren zivilrechtliche
Ansprüche in Frage, auf welche Art. 6 Ziff. 1 EMRK anwendbar ist (BGE 122 V 47
E. 2a mit Hinweisen S. 50). Wie das Eidgenössische Versicherungsgericht in BGE
122 V 47 weiter erkannt hat, hat das kantonale Gericht, welchem es primär
obliegt, die Öffentlichkeit der Verhandlung zu gewährleisten (E. 3 S. 54), bei
Vorliegen eines klaren und unmissverständlichen Parteiantrages grundsätzlich
eine öffentliche Verhandlung durchzuführen (E. 3a und b S. 55 f.). Von einer
ausdrücklich beantragten öffentlichen Verhandlung kann abgesehen werden, wenn
der Antrag der Partei als schikanös erscheint oder auf eine Verzögerungstaktik
schliessen lässt und damit dem Grundsatz der Einfachheit und Raschheit des
Verfahrens zuwider läuft oder sogar rechtsmissbräuchlich ist. Gleiches gilt,
wenn sich ohne öffentliche Verhandlung mit hinreichender Zuverlässigkeit
erkennen lässt, dass eine Beschwerde offensichtlich unbegründet oder unzulässig
ist (E. 3b cc und dd S. 56). Als weiteres Motiv für die Verweigerung einer
beantragten öffentlichen Verhandlung fällt die hohe Technizität der zur
Diskussion stehenden Materie in Betracht, was etwa auf rein rechnerische,
versicherungsmathematische oder buchhalterische Probleme zutrifft, wogegen
andere dem Sozialversicherungsrecht inhärente Fragestellungen materiell- oder
verfahrensrechtlicher Natur wie die Würdigung medizinischer Gutachten in der
Regel nicht darunter fallen. Schliesslich kann das kantonale Gericht von einer
öffentlichen Verhandlung absehen, wenn es auch ohne eine solche allein aufgrund
der Akten zum Schluss gelangt, dass dem materiellen Rechtsbegehren der
bezüglich der Verhandlung antragstellenden Partei zu entsprechen ist (BGE 122 V
47 E. 3b ee und ff S. 57 f.).

2.
2.1 Die Vorinstanz hat den Antrag der Beschwerdeführerin, es sei eine
öffentliche Verhandlung im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK durchzuführen, im
Wesentlichen gestützt auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für
Menschenrechte (EGMR) in Sachen Döry vom 12. November 2002, Nr. 28394/95 Ziff.
41, abgelehnt. In jenem Fall hatte der Gerichtshof erkannt, das aus
medizinischen Laien bestehende Gericht sei nicht in der Lage, aus dem
persönlichen Eindruck, den es bei einer Verhandlung von der Partei gewinne, zu
einer verlässlicheren Beurteilung zu gelangen als aus dem Studium der
medizinischen Akten, so dass sich eine Verhandlung erübrige. Im EGMR-Urteil Elo
vom 26. September 2006, Nr. 30742/02 Ziff. 35 ff., wurde diese Rechtsprechung
bestätigt. Auf eine Verletzung von Art. 6 Ziff. 1 EMRK geschlossen hat der
Europäische Gerichtshof hingegen im Urteil Schlumpf vom 8. Januar 2009 (29002/
06, Ziff. 51 bis 58 und Ziff. 62 bis 70). In jenem Fall war die Übernahme der
Kosten einer Geschlechtsumwandlung durch einen Krankenversicherer streitig. Der
Gerichtshof hielt fest, im Verfahren hätten sich nicht nur rechtliche oder
technische Fragen gestellt. Deshalb seien die Voraussetzungen für eine
ausnahmsweise Verweigerung einer öffentlichen Verhandlung durch das Eidg.
Versicherungsgericht nicht erfüllt gewesen.
Von einer konsequenten Praxis kann auf Grund dieser Entscheide nicht gesprochen
werden. Insbesondere lässt sich mit Blick auf das Urteil Schlumpf nicht die
Auffassung vertreten, die hauptsächlich auf der Grundlage medizinischer Akten
vorzunehmende Beurteilung eines Anspruchs lasse aus Sicht des EGMR in jedem
Fall die Durchführung einer öffentlichen Verhandlung nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK
als entbehrlich erscheinen.

2.2 Nicht einheitlich ist auch die Rechtsprechung des Bundesgerichts zum
Verzicht auf eine beantragte öffentliche Verhandlung im erstinstanzlichen
Beschwerdeverfahren betreffend sozialversicherungsrechtliche Ansprüche.
Im eingangs zitierten BGE 122 V 47 E. 3b ee und ff S. 57 f., welcher Grundlage
der späteren Urteile bildete, hat das Eidg. Versicherungsgericht erkannt, der
Umstand, dass die Würdigung medizinischer Gutachten in der Regel im Vordergrund
steht, falle nicht als Motiv für die Verweigerung einer öffentlichen
Verhandlung in Betracht. Im Urteil I 98/07 vom 18. April 2007 (SVR 2008 IV Nr.
56 S. 184) hat das Bundesgericht hinsichtlich der für die Entscheidfindung
ausschlaggebenden Würdigung von Arztberichten festgehalten, dafür sei das
schriftliche Verfahren nicht besser geeignet. Dies gelte ebenfalls so lange,
als es in einer allfälligen Verhandlung einzig um die Auseinandersetzung mit
den vorhandenen Äusserungen von Ärztinnen und Ärzten sowie der Abklärungsperson
der Invalidenversicherung und nicht beispielsweise um das Einbringen neuer
medizinischer Tatsachen geht.
Im Gegensatz dazu hat das Bundesgericht im Urteil 9C_555/2007 vom 6. Mai 2008
unter Bezugnahme auf das zitierte Urteil des EGMR in Sachen Döry vom 12.
November 2002 dargelegt, für die Beurteilung der medizinisch-technischen
Arbeitsfähigkeit im Rahmen von sozialversicherungsrechtlichen Verfahren sei ein
Absehen von einer öffentlichen Verhandlung zulässig.
Im Urteil I 573/03 vom 8. April 2004 hat das Eidg. Versicherungsgericht unter
Hinweis auf das zitierte Urteil Döry sowie weitere Entscheide des EGMR
dargelegt, das Vorliegen besonderer Umstände, die den Verzicht auf eine
mündliche Verhandlung rechtfertigen, sei zu verneinen, wenn eine mündliche
Verhandlung dem Gericht für die Falllösung erhebliche Informationen liefern
könnte. Dies treffe zu, wenn die Partei die Abnahme eines relevanten, mündlich
zu erhebenden Beweises - insbesondere eine Zeugeneinvernahme oder eine
Parteibefragung - beantragt, die persönliche Begegnung mit dieser Person der
Rechtsfindung förderlich sein könnte oder eine mündliche Verhandlung sonstwie
als geeignet erscheint, zur Klärung streitiger Punkte beizutragen.

3.
3.1 Diese Übersicht über die Rechtsprechung zeigt hinsichtlich der
Möglichkeiten, trotz Vorliegens eines vor dem erstinstanzlichen
Sozialversicherungsgericht gestellten Antrages auf Durchführung einer
öffentlichen Verhandlung im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK zu verzichten, kein
klares Bild. Allein der Umstand, dass der Prozessausgang zur Hauptsache von der
Würdigung fachärztlicher Berichte und Gutachten abhängt, vermag die Ablehnung
des auf die EMRK gestützten Antrages auf öffentliche Verhandlung nicht zu
begründen, auch wenn sich den erwähnten Urteilen Döry und Elo des EGMR
Gegenteiliges entnehmen lässt. In beiden Fällen wurde zusätzlich zu Gunsten
eines Verzichts auf eine öffentliche Verhandlung nebst der Eignung des
schriftlichen Verfahrens für die Beurteilung medizinischer Fragen auch die
Prozessökonomie angeführt.

3.2 Im neuesten, die Schweiz betreffenden Urteil des EGMR in Sachen Schlumpf
vom 8. Januar 2009 (29002/06) erklärte der EGMR, im Verfahren hätten sich nicht
nur rechtliche oder technische Fragen gestellt. Die Voraussetzungen für eine
ausnahmsweise Verweigerung einer öffentlichen Verhandlung durch das Eidg.
Versicherungsgericht seien nicht erfüllt gewesen. Die in den Urteilen Döry und
Elo für eine Ablehnung des Antrages auf Durchführung einer öffentlichen
Verhandlung sprechenden Argumente - im Vordergrund stehende Beurteilung der
Arbeitsfähigkeit anhand von fachärztlichen Berichten sowie die Prozessökonomie
- spielten im Urteil Schlumpf keine Rolle mehr. Dieser neueste Entscheid des
EGMR und die Darlegungen des Bundesgerichts im vorstehend zitierten Urteil I 98
/07 vom 18. April 2007 (SVR 2008 IV Nr. 56 S. 184) sind als massgebend zu
erachten. Bildet Gegenstand in einer allfälligen Verhandlung einzig die
Auseinandersetzung mit den vorhandenen Stellungnahmen von Ärztinnen und Ärzten
zu Gesundheitsschaden und Grad der Arbeitsunfähigkeit, ist eine bessere Eignung
des schriftlichen Verfahrens nicht erkennbar. Es handelt sich bei der Würdigung
solcher medizinischen Berichte und der Beurteilung der Beweiskraft einander
widersprechender ärztlicher Aussagen um eine auf dem Gebiet des
Sozialversicherungsrechts alltägliche und damit nicht um eine "hochtechnische"
Thematik im Sinne der Rechtsprechung (so bereits BGE 122 V 47 E. 3b ee und ff
S. 57 f.).
Schliesslich ist nicht zu übersehen, dass eine öffentliche Verhandlung in
einzelnen Fällen mit medizinischer Fragestellung geeignet sein kann, zu einer
Klärung offener Tatfragen beizutragen. Aus diesen Gründen verdient die
Rechtsprechung gemäss EGMR-Urteil in Sachen Schlumpf und Urteil des
Bundesgerichts I 98/07 (SVR 2008 IV Nr. 56 S.184) in Fällen mit Beurteilung
medizinischer Sachverhalte den Vorzug vor den EGMR-Urteilen in Sachen Döry und
Elo.

4.
Im Lichte dieser Erwägungen sind die Voraussetzungen für einen Verzicht auf die
von der Versicherten in der Beschwerde an die Vorinstanz ausdrücklich
beantragte Durchführung einer öffentlichen Verhandlung nicht gegeben. Weder ist
der Antrag schikanös, noch läuft er dem Grundsatz der Einfachheit und Raschheit
des Verfahrens zuwider. Sodann kann das Rechtsmittel nicht als offensichtlich
unbegründet oder unzulässig bezeichnet werden, was denn auch seitens des
Kantonsgerichts nicht angenommen wurde. Von hoher Technizität kann im
vorliegenden Fall des Weiteren ebenfalls nicht gesprochen werden: Streitig ist,
inwieweit ein seit Mitte der Achtzigerjahre bestehendes Lungenleiden die
Arbeitsfähigkeit der Beschwerdeführerin beeinträchtigt. Damit liegt ein Streit
um den Arbeitsunfähigkeitsgrad vor, der keine Ausnahme von der Pflicht, eine
öffentliche Verhandlung durchzuführen, begründet. Schliesslich war dem
materiellen Rechtsbegehren der Versicherten allein auf Grund der Akten nicht
ohne weiteres zu entsprechen. Alleine in Würdigung der Aktenlage gelangte das
kantonale Gericht zum Schluss, die Beschwerde sei unbegründet.

5.
Indem die Vorinstanz unter diesen Umständen von der beantragten öffentlichen
Verhandlung abgesehen hat, wurde dieser in Art. 6 Ziff. 1 EMRK gewährleisteten
Verfahrensgarantie nicht Rechnung getragen. Es ist daher unumgänglich, die
Sache an das Kantonsgericht zurückzuweisen, damit dieses den Verfahrensmangel
behebt und die von der Beschwerdeführerin verlangte öffentliche Verhandlung
durchführt. Hernach wird es über die Beschwerde materiell neu befinden.

6.
Dem Prozessausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden
IV-Stelle aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Diese hat der Beschwerdeführerin
überdies eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Damit
wird das Gesuch der Versicherten um unentgeltliche Rechtspflege gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der angefochtene Entscheid
vom 21. August 2009 aufgehoben wird. Die Sache wird an das Kantonsgericht
Freiburg zurückgewiesen, damit es im Sinne der Erwägungen verfahre.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Freiburg,
Sozialversicherungsgerichtshof, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen
schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 8. Juni 2010

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Widmer