Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 858/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

9C_858/2009 {T 0/2}

Urteil vom 25. Mai 2010
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Kernen, Seiler,
Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber Scartazzini.

Verfahrensbeteiligte
Assura Kranken- und Unfallversicherung, Freiburgstrasse 370, 3018 Bern,
Beschwerdeführerin,

gegen

1. A.________,
2. L.________,
3. E.________,
alle drei handelnd durch Schweizerische Rettungsflugwacht (REGA), 8058 Zürich,
und diese vertreten durch Rechtsanwältin Dr. Monika Gattiker,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Krankenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 8.
September 2009.

Sachverhalt:

A.
A.________ und ihre Söhne L.________ (geboren am 21. Januar 2000) und
E.________ (geboren am 26. August 2006) sind bei der Assura, Kranken- und
Unfallversicherung (nachfolgend: Assura) obligatorisch für Krankenpflege
versichert. Am 28. September 2007 unternahmen sie zusammen mit ihrem Ehemann
und Vater in der Nähe des Gletschers oberhalb von X.________ eine Wanderung.
Die Familie wurde auf einer Höhe von über 2'200 Metern über Meer, oberhalb der
Baumgrenze, von einem Wetterumsturz überrascht. Es setzte ein Schneesturm mit
starkem Wind, Nebel und Temperaturen unter dem Gefrierpunkt ein, weshalb die
Wanderer die Orientierung verloren, jedoch mit dem Natel die Kantonspolizei
Y.________ alarmieren konnten. Diese wiederum verständigte um 16.29 Uhr die
Alpine Rettung des Schweizer Alpenclubs (SAC) von L.________. In der Folge
wurden die Schweizerische Rettungsflugwacht (REGA) und zwei weitere Retter für
einen allfälligen Bodeneinsatz alarmiert. Aufgrund des schlechten Wetters im
Einsatzgebiet war eine Evakuierung aus der Luft nicht möglich, weshalb eine
Bodenrettung in die Wege geleitet wurde. Kurz vor 19.00 Uhr fand die Equipe die
vermissten Personen und konnte sie zur Bergstation der Seilbahn von X.________
bringen, wo die Familie von einem Arzt untersucht wurde. Der (damals 13 Monate
alte) Sohn E.________ zeigte bei der Untersuchung durch den Notarzt beginnende
Anzeichen einer akuten Unterkühlung (Marmorierung beider Beine). Obwohl nicht
unmittelbar eine Rettung aus der Luft stattfinden konnte, absolvierte der
REGA-Helikopter sieben Flugbewegungen. Pro Person fielen dafür Kosten im Betrag
von Fr. 2'569.80 und für denjenigen der Alpinen Rettung des SAC L.________
solche von Fr. 658.25 an, was für die drei Versicherten Kosten von total Fr.
9'684.15 ergab.

Mit Verfügung vom 21. Juli 2008 lehnte die Assura ihre Leistungspflicht im
Zusammenhang mit dem Einsatz vom 28. September 2007 mit der Begründung ab, im
Rahmen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung seien keine
Kostenvergütungen für Suchaktionen vorgesehen. Dies bestätigte sie mit
Einspracheentscheid vom 18. September 2008.

B.
Die von den Versicherten dagegen erhobene Beschwerde hiess das
Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 8. September 2009
insoweit gut, als die Assura verpflichtet wurde, den Beschwerdeführern den
Betrag von Fr. 4'842.05, abzüglich Kostenbeteiligung, zu vergüten.

C.
Die Assura führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und
beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheids.

Die Versicherten und die Vorinstanz schliessen auf Abweisung der Beschwerde,
während das Bundesamt für Gesundheit auf eine Vernehmlassung verzichtet.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzung gemäss den Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes
wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder
auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2
BGG; vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG). Mit Blick auf diese Kognitionsregelung ist
aufgrund der Vorbringen in der Beschwerde an das Bundesgericht (Art. 107 Abs. 1
BGG) nur zu prüfen, ob der angefochtene Gerichtsentscheid in Anwendung der
massgeblichen materiell- und beweisrechtlichen Grundlagen (unter anderem)
Bundesrecht verletzt (Art. 95 lit. a BGG), einschliesslich einer allfälligen
rechtsfehlerhaften Tatsachenfeststellung (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG).
Hiezu gehört insbesondere auch die unvollständige (gerichtliche) Feststellung
der rechtserheblichen Tatsachen und die Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes
als einer wesentlichen Verfahrensvorschrift (Urteile 9C_534/2007 vom 27. Mai
2008, E. 1 mit Hinweis auf ULRICH MEYER, N. 58-61 zu Art. 105, in: NIGGLI/
UEBERSAX/WIPRÄCHTIGER [Hrsg.], Basler Kommentar Bundesgerichtsgesetz, Basel
2008; SEILER/VON WERDT/GÜNGERICH, Kommentar zum Bundesgerichtsgesetz, Bern
2007, N. 24 zu Art. 97).

2.
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze gemäss der
Rechtsprechung über die Leistungspflicht für Rettungskosten nach Art. 25 Abs. 2
lit. g KVG in Verbindung mit Art. 27 KLV zutreffend dargelegt (BGE 135 V 88 E.
3.2 S. 92 und E. 3.3 S. 93). Auch zum Beweiswert ärztlicher Berichte und
Gutachten und zur Beweiswürdigung (BGE 125 V 351 E. 3 S. 352 ff.; 122 V 157 E.
1c S. 160 ff., je mit Hinweisen; vgl. auch BGE 132 V 393 E. 4.1 S. 400) hat das
kantonale Gericht das Nötige gesagt. Darauf wird verwiesen.

3.
3.1 Die Vorinstanz hat zunächst festgestellt, dass die Beschwerdegegner infolge
eines Wetterumsturzes in eine Notsituation geraten waren, welche keinen Bezug
zu Elementen des Unfallbegriffs aufwies. Sodann hat sie geprüft, ob im Rahmen
dieser Gefahrenlage das Risiko einer Gesundheitsschädigung bestand, welches
sich ohne Rettungsmassnahmen ohne jeden Zweifel verwirklicht hätte. Gestützt
auf die Ausführungen des stellvertretenden Chefarztes der REGA, Dr. med.
S.________, vom 7. Oktober 2008, bestätigt durch Prof. Dr. med. B.________,
Chefarzt der Abteilung für Intensivmedizin und Neonatologie des Kinderspitals
Z.________ sowie auf die Stellungnahme des Rettungschefs der Alpinen Rettung
des SAC L.________, J.________, vom 8. Oktober 2008, hat das kantonale Gericht
festgestellt, es sei mit Sicherheit davon auszugehen, dass ohne
Rettungsmassnahmen der damals 13 Monate alte Sohn E.________ die Nacht nicht
überlebt hätte und die übrigen Familienmitglieder erhebliche gesundheitliche
Folgen davon getragen hätten oder ebenfalls verstorben wären. Es ist demzufolge
zum Schluss gelangt, der Tatbestand einer Rettung im Sinne einer Befreiung der
Beschwerdegegner aus einer Gesundheit und Leben akut bedrohenden Lage sei
erfüllt, da sich das Risiko eines Gesundheitsschadens ohne Rettungsmassnahmen
zweifellos verwirklicht hätte.

3.2 In der Beschwerde an das Bundesgericht wird insbesondere geltend gemacht,
im Zeitpunkt der Kontaktierung der REGA seien alle in Bergnot geratenen
Personen unverletzt und wohlauf gewesen. Zudem zieht die Beschwerdeführerin den
Beweiswert der Berichte des stellvertretenden Chefarztes der REGA sowie des
Rettungschefs der Alpinen Rettung des SAC L.________ in Zweifel und beanstandet
den Helikoptereinsatz in verschiedener Hinsicht.
3.2.1 Diese Einwendungen sind in Bezug auf den Sohn E.________ nicht
stichhaltig und lassen sich insoweit mit der bundesgerichtlichen Praxis nicht
vereinbaren, welche den Eintritt eines versicherten Risikos auch im
Rettungsfall verlangt (BGE 135 V 88 E. 3.2 und E. 3.3 S. 92 f.), d.h., wenn
sich kein Unfall ereignet hat, somit eine gesundheitliche Beeinträchtigung von
Krankheitswert, die sofortiger Behandlung bedarf.

Aufgrund der verbindlichen vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen (Art.
105 Abs. 1 BGG) ist bei Sohn E.________ die Leistungspflicht für die erfolgten
Rettungsvorkehrungen zu bejahen. In Anbetracht der vom Notarzt vor Ort
festgestellten Marmorierung beider Beine war bei ihm der Versicherungsfall
eingetreten, der versicherte Tatbestand einer körperlichen Beeinträchtigung von
Krankheitswert erfüllt. Deren sofortige Behandlung und die Rettung aus der
Gefahrenlage waren objektiv geboten, weshalb insoweit die Leistungspflicht der
Beschwerdeführerin zur Vergütung der für die Evakuierung dieses Versicherten
notwendigen Kosten zu bejahen ist.
3.2.2 Anders verhält es sich hingegen bezüglich der beiden weiteren
Versicherten, bei denen sich im Zeitpunkt der Rettung gemäss Untersuchungen des
Notarztes noch keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen eingestellt hatten. In
dieser Hinsicht verletzt der angefochtene Entscheid Bundesrecht. Soweit die
beteiligten Leistungserbringer Aufwendungen in Rechnung gestellt haben, welche
nur für die Rettungshandlungen zugunsten von A.________ und Sohn L.________
angefallen sind, ist die Beschwerdeführerin nicht leistungspflichtig. Hingegen
trifft sie eine Vergütungspflicht im Rahmen der gesetzlichen Beschränkung für
die Rettungskosten, soweit diese für die Evakuierung von Sohn E.________
erforderlich waren. Die Sache ist daher an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit
sie über die Entschädigung in masslicher Hinsicht neu entscheide.

4.
Die Gerichtskosten sind je zur Hälfte der Beschwerdeführerin und den
Beschwerdegegnern A.________ und L.________ zu überbinden (Art. 66 Abs. 1 BGG).
Ausgangsgemäss hat der Beschwerdegegner E.________ zufolge Obsiegens Anspruch
auf Parteientschädigung (Art. 68 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 8. September 2009 wird insoweit
abgeändert, als die Assura verpflichtet ist, die durch die Evakuierung des
Beschwerdegegners E.________ entstandenen Rettungskosten zu vergüten. Die Sache
wird an die Vorinstanz zurückgewiesen, damit sie über die Entschädigung in
masslicher Hinsicht im Sinne der Erwägungen neu entscheide.

2.
Von den Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin Fr. 250.-
und den Beschwerdegegnern A._________ und L.________ solidarisch Fr. 250.-
auferlegt.

3.
Die Beschwerdeführerin hat dem Beschwerdegegner E.________ eine
Parteientschädigung von Fr. 2'500.- für das Verfahren vor dem Bundesgericht zu
bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit
schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 25. Mai 2010

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Scartazzini