Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 847/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_847/2009

Urteil vom 19. März 2010
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Seiler,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
S.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Markus Krapf,
Beschwerdeführerin,

gegen

AXA Stiftung Berufliche Vorsorge, c/o AXA Leben AG, General Guisan-Strasse 40,
8400 Winterthur,
Beschwerdegegnerin,

Stiftung Auffangeinrichtung BVG, Birmensdorferstrasse 83, 8003 Zürich.

Gegenstand
Berufliche Vorsorge (Invalidenleistungen),

Beschwerde gegen den Entscheid
des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich
vom 22. September 2009.

Sachverhalt:

A.
A.a Die 1962 geborene S.________ arbeitete ab 25. April 1995 als
Service-Angestellte in einer Café-Bar. Am 25. Juni 1998 erlitt sie bei der
Arbeit einen Unfall. Am 16. Dezember 1998 wurde ihr unter sofortiger
Freistellung auf Ende März 1999 gekündigt. Ab 12. April 1999 war S.________
arbeitslos gemeldet und bezog Arbeitslosenentschädigung. Ab 23. November 2000
arbeitete sie im Rahmen eines Beschäftigungsprogrammes der
Arbeitslosenversicherung im Service eines Restaurants. Am 30. März 2001 stürzte
sie auf einem Bahnhofperron, worauf sie sich in ärztliche Behandlung begab. Am
1. April 2001 trat S.________ - einen Monat früher als ursprünglich vereinbart
- die Stelle als Service-Mitarbeiterin im Restaurant X.________ an. Mit
Schreiben vom 31. Juli 2001 wurde ihr auf den 18. August 2001 gekündigt. Am 2.
August 2001 arbeitete sie letztmals.
A.b Am 22. Oktober 2001 meldete S.________ bei der Winterthur-Versicherungen
einen am 2. August 2001 erlittenen Berufsunfall an. Mangels Nachweis eines
Unfalles oder einer unfallähnlichen Körperschädigung im Rechtssinne verneinte
der obligatorische Unfallversicherer eine Leistungspflicht, was in dem von der
Versicherten angestrengten verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren
bestätigt wurde (vgl. Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts U 277/03 vom 28.
Januar 2004).
Im April 2002 meldete sich S.________ bei der Invalidenversicherung zum
Leistungsbezug an. Nach Abklärungen (u.a. Einholung eines Gutachtens bei der
Medizinischen Abklärungsstelle [MEDAS]) sprach ihr die IV-Stelle des Kantons
Zürich mit Verfügung vom 26. Mai 2005 aufgrund einer gesundheitlich bedingten
Erwerbsunfähigkeit von 55 % rückwirkend ab 1. August 2002 eine halbe
Invalidenrente zu.
A.c S.________ war als Arbeitslose in der Zeit vom 12. April 1999 bis 31. März
2001 bei der Stiftung Auffangeinrichtung BVG, im Rahmen ihrer Anstellung im
Restaurant X.________ ab 1. April 2001 bei der Winterthur-Columna Stiftung für
berufliche Vorsorge versichert. Diese verneinte mit Schreiben vom 2. Februar
2006 und 11. Juli 2007 eine Leistungspflicht und lehnte die Ausrichtung einer
Invalidenrente der beruflichen Vorsorge ab. Demgegenüber anerkannte die
Stiftung Auffangeinrichtung BVG ihre Leistungspflicht ("Abrechnung
Invalidenrente" vom 24. Juni 2007).

B.
Am 18. Juli 2007 liess S.________ beim Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich Klage gegen die Winterthur-Columna Stiftung für berufliche Vorsorge
einreichen und zur Hauptsache beantragen, die Beklagte sei zu verpflichten, ab
1. August 2002, eventualiter ab dem Ende der Krankentaggeldberechtigung, eine
Rente aufgrund eines Invaliditätsgrades von 55 % gemäss Reglement auszurichten.
Das Gericht holte die Klageantwort ein, lud die Stiftung Auffangeinrichtung BVG
zum Verfahren bei und führte einen zweiten Schriftenwechsel durch. Weiter holte
es u.a. beim Restaurant X.________ Beweisauskünfte ein, wozu die
Verfahrensbeteiligten Stellung nehmen konnten. Nach einer Referentenaudienz und
nach Einsichtnahme in die Akten durch die Beigeladene wies das kantonale
Sozialversicherungsgericht mit Entscheid vom 22. September 2009 die Klage ab.

C.
S.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
und beantragen, der Entscheid vom 22. September 2009 sei aufzuheben und die AXA
Stiftung für Berufliche Vorsorge (Rechtsnachfolgerin der Winterthur-Columna
Stiftung für berufliche Vorsorge) zu verpflichten, ihr mit Wirkung ab 1. August
2002 eine Rente aufgrund eines Invaliditätsgrades von 55 % gemäss Reglement
auszurichten, unter Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung und
Verbeiständung.
Die AXA Stiftung für Berufliche Vorsorge beantragt die Abweisung der
Beschwerde, desgleichen die Stiftung Auffangeinrichtung BVG. Kantonales Gericht
und Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz auf Rüge hin oder von Amtes wegen
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht, und wenn die Behebung des
Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 105 Abs. 2
BGG und Art. 97 Abs. 1 BGG). Die konkrete Beweiswürdigung ist wie die darauf
beruhende Sachverhaltsfeststellung ebenfalls nur unter diesem eingeschränkten
Blickwinkel überprüfbar (Urteil 9C_801/2008 vom 6. Januar 2009 E. 2.2).
Demgegenüber ist die richtige Anwendung der Beweiswürdigungsregeln durch das
kantonale Versicherungsgericht nach Art. 61 lit. c ATSG eine Rechtsfrage und
als solche im Rahmen der den Parteien obliegenden Begründungs- bzw. Rügepflicht
(Art. 42 Abs. 2 BGG und Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 133 II 249 E. 1.4.1 und 1.4.2
S. 254) frei zu prüfen (BGE 132 V 393 E. 3.2 und 4 S. 397 ff.; SVR 2009 IV Nr.
56, 9C_323/2009 E. 3).

2.
2.1 Der Anspruch auf Invalidenleistungen der (obligatorischen) beruflichen
Vorsorge setzt voraus, dass die Arbeitsunfähigkeit, deren Ursache zur
Invalidität geführt hat, während der Dauer des Vorsorgeverhältnisses
(einschliesslich der Nachdeckungsfrist nach Art. 10 Abs. 3 BVG) eingetreten ist
(aArt. 23 BVG; seit 1. Januar 2005: Art. 23 lit. a BVG). Unter
Arbeitsunfähigkeit ist die Einbusse an funktionellem Leistungsvermögen im
bisherigen Beruf oder Aufgabenbereich zu verstehen (BGE 134 V 20 E. 3.2.2 S. 23
mit Hinweisen). Sie muss mindestens 20 Prozent betragen (SVR 2008 BVG Nr. 34,
9C_127/2008 E. 2.3 mit Hinweisen; Urteil 9C_990/2009 vom 8. Juli 2009 E. 3.1).
Nach der Rechtsprechung muss eine Einbusse an Leistungsvermögen
arbeitsrechtlich in Erscheinung treten, so etwa durch einen Abfall der
Leistungen mit entsprechender Feststellung oder gar Ermahnung des Arbeitgebers
oder durch gehäufte, aus dem Rahmen fallende gesundheitlich bedingte
Arbeitsausfälle. Eine erst nach Jahren rückwirkend festgelegte
medizinisch-theoretische Arbeitsunfähigkeit, ohne dass der frühere Arbeitgeber
die Leistungseinbusse bemerkt hätte, genügt nicht. Es sind die vertraglich
festgesetzte Pflicht zur Erbringung von Arbeit und die dafür vorgesehene
Entlöhnung sowie weitere im Rahmen des Arbeitsverhältnisses getroffene
Vereinbarungen in der Regel als den realen Gegebenheiten entsprechend zu
werten. Nur bei Vorliegen besonderer Umstände darf die Möglichkeit einer von
der arbeitsrechtlich zu Tage tretenden Situation in Wirklichkeit abweichenden
Lage - etwa in dem Sinne, dass ein Arbeitnehmer zwar zur Erbringung einer
vollen Arbeitsleistung verpflichtet war und auch entsprechend entlöhnt wurde,
tatsächlich aber eben doch keine volle Arbeitsleistung hat erbringen können -
in Betracht gezogen werden. Dabei ist gegebenenfalls Zurückhaltung geboten, da
ansonsten die Gefahr bestünde, den Versicherungsschutz zu vereiteln. Indessen
gilt hier ebenfalls, dass die Leistungseinbusse auch und vor allem dem
Arbeitgeber aufgefallen sein muss (Urteile 9C_368/2008 vom 11. September 2008
E. 2 und 9C_182/2007 vom 7. Dezember 2007 E. 4.1.3 mit Hinweisen).

2.2 Der Anspruch auf Invalidenleistungen setzt weiter einen engen zeitlichen
Zusammenhang zwischen der während der Dauer des Vorsorgeverhältnisses
(einschliesslich der Nachdeckungsfrist) bestandenen Arbeitsunfähigkeit und der
allenfalls erst später eingetretenen Invalidität voraus. Dieser Konnex ist
unterbrochen, wenn der Leistungsansprecher während einer bestimmten Zeit wieder
arbeitsfähig ist resp. die Arbeitsfähigkeit wiedererlangt hat oder bei
Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit (BGE 134 V 20 E. 5.1 S. 25). Massgebend
ist die Arbeitsunfähigkeit resp. Arbeitsfähigkeit in einer der gesundheitlichen
Beeinträchtigung angepassten zumutbaren Tätigkeit (BGE 134 V 20 E. 5.3 S. 27;
Urteil 9C_990/2008 vom 8. Juli 2009).

3.
Die Vorinstanz hat die Akten dahingehend gewürdigt, es sei nicht mit dem
erforderlichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit nachgewiesen,
dass die während des Vorsorgeverhältnisses bestandene Arbeitsunfähigkeit und
die auf einen im Wesentlichen gleichartigen, teils körperlichen, teils
psychischen Gesundheitsschaden zurückzuführende Invalidität in einem engen
zeitlichen Zusammenhang stünden. Weitere Abklärungen vermöchten an diesem
Beweisergebnis nichts zu ändern, was nach den Regeln der Beweislastverteilung
zur Klageabweisung führe.

4.
Die Beschwerdeführerin rügt eine willkürliche Beweiswürdigung durch die
Vorinstanz als Folge einer bundesrechtswidrig zu starken Gewichtung der von der
behandelnden Rheumatologin Dr. med. R.________ ab 30. März 2001 attestierten
Arbeitsunfähigkeit von 50 % gegenüber der Tatsache, dass sie bei Antritt der
Stelle im Restaurant X.________ am 1. April 2001 (Beginn des
Vorsorgeverhältnisses mit der am Recht stehenden Vorsorgeeinrichtung) ohne
Fehlzeiten bis zum 2. August 2001 vollzeitlich gearbeitet habe. Die Rüge ist im
folgenden Sinne begründet.

4.1 Nach insoweit unbestrittener Feststellung der Vorinstanz war die
Beschwerdeführerin bei Antritt der Stelle im Restaurant X.________ am 1. April
2001 gesundheitlich angeschlagen. Die behandelnde Rheumatologin hatte ab 30.
März 2001 eine Arbeitsunfähigkeit von 50 % attestiert. An diesem Tag war die
Beschwerdeführerin vom Tritt eines Eisenbahnwagens auf ein Perron gestürzt
(vgl. MEDAS-Gutachten vom 3. Juli 2003 S. 2). Eine gesundheitliche
Beeinträchtigung muss indessen nicht notwendigerweise zu einer
Arbeitsunfähigkeit führen (vgl. Urteil B 46/06 vom 29. Januar 2007 E. 6.1.1).
Die Beschwerdeführerin verzeichnete denn auch keine Absenzen bis zum Vorfall
vom 2. August 2001, welcher für die IV-Stelle massgebend war für die Eröffnung
der einjährigen Wartezeit (Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG in der damaligen Fassung).
Es kommt dazu, dass ein schriftliches Attest von Dr. med. R.________ einer
Arbeitsunfähigkeit von 50 % ab 30. März 2001 erst vom 29. Oktober 2001 datiert.
Weiter fiel zwar nach insoweit ebenfalls unbestrittener Feststellung der
Vorinstanz die Arbeitsleistung der Klägerin im Restaurant X.________ von Anfang
an und anhaltend von den betriebsüblichen Anforderungen und Erwartungen ab.
Daraus kann indessen nicht zwingend auf gesundheitliche Ursachen geschlossen
werden. Davon geht auch die Vorinstanz aus, welche diesen Schluss einzig mit
dem Hinweis auf die gesamten medizinischen Akten zu unterlegen vermag. Die
Minderleistung war denn auch vom Arbeitgeber in keinem Moment mit
gesundheitlichen Gründen in Verbindung gebracht worden. Ebenfalls waren keine
Arbeitsausfälle und Absenzen zu verzeichnen.

4.2 Die vorstehenden Darlegungen zeigen, dass nach der konkreten Aktenlage der
direkte Beweis einer während des Vorsorgeverhältnisses vor dem 2. August 2001
bestandenen Arbeitsunfähigkeit mangels Arbeitsausfällen ausscheidet. Somit
müssen die für den indirekten Beweis herangezogenen Indizien im sachlichen
Bereich der Arbeitsunfähigkeit angesiedelt sein. Diese Beweiseignung der
Indizien ist entgegen der Auffassung der Vorinstanz nicht gegeben:
Gesundheitlich angeschlagen zu sein und nicht entsprechend den Erwartungen des
Arbeitgebers zu arbeiten, ist mit der Annahme einer intakten Arbeitsfähigkeit
durchaus vereinbar und nicht selten, wie die Erfahrung zeigt.
Somit ist von einem Eintritt der Arbeitsunfähigkeit am 2. August 2001
auszugehen und demzufolge der berufsvorsorgerechtlich erforderliche enge
zeitliche Zusammenhang mit der Invalidität zu bejahen. Der sachliche Konnex ist
unbestritten. Die Beschwerdeführerin hat daher Anspruch auf Invalidenleistungen
der beruflichen Vorsorge aufgrund eines Invaliditätsgrades von 55 % zu Lasten
der Beschwerdegegnerin.

5.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdegegnerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und der Beschwerdeführerin eine
Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG). Deren Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege ist demzufolge gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts
des Kantons Zürich vom 22. September 2009 wird aufgehoben und die
Beschwerdegegnerin verpflichtet, der Beschwerdeführerin aufgrund einer
Erwerbsunfähigkeit von 55 % Invalidenleistungen der beruflichen Vorsorge gemäss
Gesetz und Reglement auszurichten.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4.
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich hat die Parteientschädigung
für das vorangegangene Klageverfahren neu festzusetzen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Stiftung Auffangeinrichtung BVG, dem
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 19. März 2010

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Fessler