Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 845/2009
Zurück zum Index II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2009
Retour à l'indice II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2009


Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_845/2009

Urteil vom 10. Februar 2010
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Kernen, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber Schmutz.

Parteien
G.________, vertreten durch
Rechtsanwältin Petra Oehmke Schiess,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle Zug, Baarerstrasse 11, 6300 Zug ,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Zug
vom 3. September 2009.

Sachverhalt:

A.
Der 1972 geborene G.________ war als Gartenbauarbeiter tätig. Unter Angabe von
Rückenbeschwerden meldete er sich am 27. August 1997 bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Zug
untersuchte den medizinischen und erwerblichen Sachverhalt; dazu liess sie den
Versicherten in der MEDAS (Gutachten vom 19. April 2000) und der Stiftung
X.________ (Bericht vom 10. März 2000) abklären. Mit Verfügung vom 13. Oktober
2000 stellte sie bei G.________ eine seit dem 23. September 1996 bestehende
100-prozentige Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit fest; gestützt darauf sprach sie
ihm eine ganze Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von 100 % ab 1.
September 1997 zu. Bei der im Mai 2003 durchgeführten ersten Rentenrevision
blieb der Anspruch unverändert. Im Rahmen des im Juni 2005 eingeleiteten
Revisionsverfahrens veranlasste die IV-Stelle die Abklärung des Versicherten am
Institut Y.________, (orthopädisch-psychiatrisch-neurologisches Gutachten vom
12. März 2008). Gestützt darauf hob sie die Rente mit Verfügung vom 8.
September 2008 auf Ende Oktober 2008 hin auf, weil am Tage der gutachterlichen
Feststellung (7. März 2008) keine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit in der
zuletzt ausgeübten Tätigkeit im Gartenbau mehr ausgewiesen und aus
medizinischer Sicht auch für jede andere Tätigkeit volle Arbeitsfähigkeit
attestiert gewesen sei.

B.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Zug wies die dagegen erhobene Beschwerde mit
Entscheid vom 3. September 2009 ab. Es erachtete die Gründe für eine
Rentenrevision als nicht gegeben, sah es aber als erwiesen an, dass die
Rentenzusprache vom 13. Oktober 2000 zweifellos unrichtig war, weshalb der
ursprüngliche Entscheid in Wiedererwägung gezogen werden dürfe, welche
Auffassung die IV-Stelle in der Verfügung vom 8. September 2008 im Sinne einer
Eventualbegründung vertreten hatte.

C.
G.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten; er
beantragt, es sei festzustellen, dass die Voraussetzungen einer Wiedererwägung
nicht erfüllt sind; die IV-Stelle sei anzuweisen, die ganze Invalidenrente
weiter auszurichten; eventualiter sei sie zu einer neuen und umfassenden
Begutachtung zu verhalten; zudem ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege.
Verwaltung und Vorinstanz schliessen auf Abweisung der Beschwerde. Das
Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann
wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG erhoben werden. Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung
der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig
ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105
Abs. 2 BGG).

2.
Im angefochtenen Entscheid werden die Bestimmungen über den Begriff der
Invalidität (Art. 8 ATSG, Art. 4 IVG), die Voraussetzungen für einen
Rentenanspruch und dessen Umfang (Art. 28 IVG), die Ermittlung des
Invaliditätsgrades bei erwerbstätigen Versicherten nach der allgemeinen Methode
des Einkommensvergleichs (Art. 28a IVG, Art. 16 ATSG) sowie die dazu und zum
Beweiswert eines Arztberichtes oder Gutachtens ergangene Rechtsprechung (BGE
125 V 351 E. 3a S. 352; RKUV 2003 Nr. U 487 S. 345 E. 5.1 [U 38/01]) zutreffend
angegeben. Darauf wird verwiesen. Eine Revisionsverfügung (Art. 17 Abs. 1 ATSG)
kann praxisgemäss durch die substituierte Begründung der Wiedererwägung (Art.
53 Abs. 2 ATSG) bestätigt werden (BGE 125 V 368).

3.
3.1 Aufgrund des vorinstanzlichen Entscheides, der den Anfechtungs- und
Streitgegenstand im Verfahren vor Bundesgericht bildet (Art. 90 BGG), ist
allein zu prüfen, ob die wiedererwägungsweise Aufhebung der ganzen
Invalidenrente Bundesrecht verletzt.

3.2 Die verfügte Aufhebung einer Invalidenrente und ihre Bestätigung durch die
substituierte Begründung der Wiedererwägung kann nur bei Unvertretbarkeit der
ursprünglichen Rentenzusprache erfolgen. Zweifellos ist die Unrichtigkeit, wenn
kein vernünftiger Zweifel daran möglich ist, dass die Verfügung unrichtig war.
Es ist nur ein einziger Schluss - derjenige auf die Unrichtigkeit der Verfügung
- möglich (BGE 125 V 383 E. 6a S. 393; Urteil des Eidgenössischen
Versicherungsgerichts U 378/05 vom 10. Mai 2006, E. 5.2 und 5.3, publ. in: SVR
2006 UV Nr. 17 S. 62 f. und Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts C
29/04 vom 24. Januar 2005, E. 3.1.1, publ. in: SVR 2005
Arbeitslosenversicherung Nr. 8 S. 27, ferner etwa Urteil des Eidgenössischen
Versicherungsgerichts I 912/05 vom 5. Dezember 2006, E. 3.2, je mit Hinweisen).
Das Erfordernis der zweifellosen Unrichtigkeit ist in der Regel erfüllt, wenn
die gesetzeswidrige Leistungszusprechung aufgrund falscher oder unzutreffender
Rechtsregeln erlassen wurde oder wenn massgebliche Bestimmungen nicht oder
unrichtig angewandt wurden (BGE 103 V 126 E. 2a S. 128; Urteil des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts C 151/94 vom 30. Mai 1995, E. 3c, publ.
in: ARV 1996/97 Nr. 28 S. 158). Anders verhält es sich, wenn der
Wiedererwägungsgrund im Bereich materieller Anspruchsvoraussetzungen liegt,
deren Beurteilung in Bezug auf gewisse Schritte und Elemente (z.B.
Invaliditätsbemessung, Einschätzungen der Arbeitsunfähigkeit,
Beweiswürdigungen, Zumutbarkeitsfragen) notwendigerweise Ermessenszüge
aufweist. Erscheint die Beurteilung solcher Anspruchsvoraussetzungen
(einschliesslich ihrer Teilaspekte wie etwa die Einschätzung der
Arbeitsfähigkeit) vor dem Hintergrund der Sach- und Rechtslage, wie sie sich im
Zeitpunkt der rechtskräftigen Leistungszusprechung darbot, als vertretbar,
scheidet die Annahme zweifelloser Unrichtigkeit aus (Urteil des Bundesgerichts
I 907/06 vom 7. Mai 2007, E. 3.2.1 mit Hinweisen; Urteil 9C_215/2007 vom 2.
Juli 2007, E. 3.2 mit Hinweisen).

4.
4.1 Die Vorinstanz hat befunden, aus dem MEDAS-Gutachten vom 19. April 2000
bzw. dem dazugehörigen orthopädischen Konsiliargutachten (Dr. med. W.________,
Orthopädische Chirurgie, vom 10. März 2000), auf die sich die Verwaltung bei
der Zusprechung der ganzen Rente gestützt habe, gehe zwar hervor, dass die
Gutachter die lumbosakrale Segmentdegeneration für die Rückenschmerzen und die
Arbeitsunfähigkeit verantwortlich bezeichneten. Sie hätten indessen auch
übereinstimmend festgehalten, dass ein nicht objektivierbarer Anteil an
Beschwerden vorliege (vor allem Ängste vor möglichen Komplikationen einer
allfälligen Operation). Dafür, dass eine volle Arbeitsunfähigkeit aber für
jegliche berufliche Tätigkeit bestanden habe, finde sich im Gutachten und im
orthopädischen Konsilium keine einleuchtende medizinische Erklärung, werde doch
lediglich eine bereits mehrjährige Gesamtsituation angeführt. Im orthopädischen
Gutachten sei eine klare Diskrepanz zwischen den angegebenen Beschwerden und
dem objektiv und morphologisch Festgestellten geschildert. Dr. med. W.________
habe sogar festgehalten, dass man "im Rahmen der
medizinisch-sozial-menschlich-rechtlichen Möglichkeiten nur eine dauerhafte
Arbeitsunfähigkeit und eine Hilflosigkeit attestieren können-müssen" wird.
Schon allein aus dieser Formulierung werde klar, dass in die damalige
Beurteilung in erheblichem Ausmass IV-fremde Faktoren einbezogen worden seien.

4.2 Die im Jahre 2000 verfügbaren gutachterlichen Stellungnahmen waren
eindeutig nicht ausreichend beweiskräftig um die Zusprechung einer ganzen
Invalidenrente rechtfertigen zu können, wies der Beschwerdeführer doch Befunde
an der Wirbelsäule auf, die - wie in solchen Fällen gerichtsnotorisch - der
zumutbaren (Selbst-)Eingliederung und Erzielung eines rentenausschliessenden
Einkommens keineswegs entgegenstehen. Dass der Frage nach der Arbeitsfähigkeit
in Verweisungstätigkeiten und dem schon damals vom Orthopäden Dr. med.
W.________ erhobenen Befund, wonach ein nicht objektivierbarer Teil des Leidens
vorliege, bei der gegebenen Sachlage nicht weiter nachgegangen wurde, ist als
klarer Fehler der Sachverhaltsfeststellung zu werten. Denn bei dem damaligen
Beschwerdebild einer lumbosakralen Segmentdegeneration und dem bildgebend
dokumentierten Rückgang der Diskushernie ist nicht nachvollziehbar, weshalb in
leidensangepassten Tätigkeiten eine 100-prozentige Arbeitsunfähigkeit bestanden
haben soll. Nach der Aktenlage war die Zusprechung einer ganzen Rente damals
ein offensichtlich falscher Entscheid. Da der Invaliditätsgrad aufgrund der
attestierten, medizinisch nicht begründeten vollen Arbeitsunfähigkeit in
jedwelcher Tätigkeit als unvertretbar zu qualifizieren ist, ist die
Wiedererwägung der zugesprochenen Leistung mit der substituierten Begründung,
dass die Rentenzusprache im Oktober 2000 offensichtlich unrichtig gewesen war,
gerechtfertigt. Die dazu erforderliche Voraussetzung einer erheblichen
Bedeutung der Berichtigung ist angesichts des geldwerten Charakters der
periodischen Rentenleistung an den mittlerweile noch nicht 40-jährigen
Beschwerdeführer erfüllt. Die wiedererwägungsweise bestätigte Aufhebung des
Rentenanspruchs durch das kantonale Gericht verletzt daher Bundesrecht nicht.

5.
Was die Vorbehalte gegen die Begutachtung durch das Institut Y.________
betrifft, hat das Bundesgericht bereits mit Urteil 8C_474/2009 vom 7. Januar
2010 (E. 7 und 8) entschieden, dass die Nähe des Institutsleiters Dr. med.
A._________ zur christlichen "Vineyard"-Bewegung keine Befangenheit und keine
Zweifel an der fachlichen Qualifikation zu begründen vermag. Zudem hat Dr. med.
A._________ bei der psychiatrischen Begutachtung nicht mitgewirkt. Die gegen
das Gutachten oder Teile davon vorgebrachten Rügen sind nicht stichhaltig; sie
sind von der Vorinstanz im Detail geprüft und verworfen worden (E. 7.2.1 -
7.2.8).

6.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdeführer die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Seinem Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege wird entsprochen. Er hat der Gerichtskasse Ersatz zu leisten, wenn
er später dazu in der Lage ist (Art. Abs. 4 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indes
einstweilen auf die Gerichtskasse genommen.

4.
Rechtsanwältin Petra Oehmke Schiess wird als unentgeltliche Anwältin des
Beschwerdeführers bestellt, und es wird ihr für das bundesgerichtliche
Verfahren aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'800.-
ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Zug,
Sozialversicherungsrechtliche Kammer, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 10. Februar 2010
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Schmutz