Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 791/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_791/2009

Urteil vom 16. November 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber R. Widmer.

Parteien
U.________, vertreten durch
Rechtsanwalt Jean Baptiste Huber,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle Zug, Baarerstrasse 11, 6300 Zug ,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Zug
vom 16. Juli 2009.

Sachverhalt:

A.
U.________ (geboren 1961), Mutter dreier Kinder (1990, 1991 und 1994) meldete
sich am 6. November 2003 unter Hinweis auf psychische Probleme, eine
Alkoholkrankheit und die Folgen einer Hirnblutung bei der Invalidenversicherung
zum Rentenbezug an. Gestützt auf die eingeholten medizinischen Unterlagen
lehnte die IV-Stelle Zug das Rentengesuch am 22. April 2005 verfügungsweise ab,
weil keine Invalidität im Sinne des Gesetzes vorliege, woran sie mit
Einspracheentscheid vom 6. September 2005 festhielt. Die von U.________
hiegegen eingereichte Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Zug
insoweit teilweise gut, als es den angefochtenen Einspracheentscheid aufhob,
feststellte, dass die Versicherte einen invalidisierenden Gesundheitsschaden
aufweise und die Sache zu weiteren Abklärungen im Sinne der Erwägungen und
neuer Verfügung an die IV-Stelle zurückwies (Entscheid vom 28. September 2006).
In der Folge forderte die IV-Stelle U.________ zweimal dazu auf, sich einer
sechsmonatigen, kontrollierten Alkoholabstinenz zu unterziehen, bevor weitere
medizinische Untersuchungen durchgeführt werden könnten. Da die Versicherte
dieser Aufforderung nicht nachgekommen war, verfügte die IV-Stelle nach
Durchführung des Vorbescheidverfahrens am 9. Juli 2008 wiederum die Ablehnung
des Rentengesuchs.

B.
U.________ liess Beschwerde führen mit den Rechtsbegehren, unter Aufhebung der
angefochtenen Verfügung sei ihr eine ganze Invalidenrente zuzusprechen;
eventuell sei die Sache zu weiteren Abklärungen und neuer Verfügung an die
Verwaltung zurückzuweisen. Mit Entscheid vom 16. Juli 2009 wies das
Verwaltungsgericht des Kantons Zug die Beschwerde ab.

C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt U.________ zur
Hauptsache die Zusprechung einer Invalidenrente beantragen; eventuell sei die
Sache zu weiteren Abklärungen und neuer Verfügung an die IV-Stelle
zurückzuweisen. Ferner ersucht sie um die Bewilligung der unentgeltlichen
Prozessführung und Verbeiständung.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Zug äussert sich in ablehnendem Sinne zur
Beschwerde; die IV-Stelle schliesst ebenfalls auf deren Abweisung, während das
Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung verzichtet.

Erwägungen:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung
des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann
(Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann
die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.
2.1 Im Entscheid vom 28. September 2006, mit welchem die Vorinstanz die Sache
mit der Feststellung, dass die Beschwerdeführerin an einem invalidisierenden
Gesundheitsschaden leide, zu weiteren Abklärungen im Sinne der Erwägungen und
neuer Verfügung an die IV-Stelle zurückwies, hielt sie aufgrund einer
einlässlichen Würdigung der medizinischen Unterlagen fest, es müsse von einer
sekundären Alkoholproblematik ausgegangen werden; es liege eine
Persönlichkeitsstörung vor - auch ohne Alkoholkrankheit sei mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die Versicherte nicht arbeitsfähig
sei. Da der Rückweisungsentscheid vom 28. September 2006 ausdrücklich auf die
Erwägungen verweist, werden diese zu dessen Bestandteil und haben, soweit sie
zum Streitgegenstand gehören, an der formellen Rechtskraft teil.
Dementsprechend sind die Motive, auf die das Dispositiv verweist, für die
Behörde, an welche die Sache zurückgewiesen wird, bei Nichtanfechtung
verbindlich. Beziehen sich diese Erwägungen auf den Streitgegenstand, ist somit
auch deren Anfechtbarkeit zu bejahen (BGE 113 V 159). An dieser Rechtsprechung
hat sich mit dem Inkrafttreten des BGG am 1. Januar 2007 nichts geändert
(Urteil 9C_703/2009 vom 30. Oktober 2009). Nachdem der erwähnte
Rückweisungsentscheid der Vorinstanz vom 28. September 2006 unangefochten in
Rechtskraft erwachsen ist, waren die zitierten Erwägungen, auf welche das
kantonale Gericht im Entscheidsdispositiv verwiesen hat, für die IV-Stelle
verbindlich.

2.2 Die IV-Stelle hielt sich indessen nicht an die Vorgaben gemäss
Rückweisungsentscheid. Stattdessen gelangte sie am 5. Januar 2007 mit dem
folgenden Schreiben an den Rechtsvertreter der Versicherten:
"Wir beziehen uns auf das Urteil des Verwaltungsgerichtes des Kantons Zug vom
28. September 2006.
Gemäss Beurteilung des regionalen ärztlichen Dienstes (RAD) ist für die
Festlegung der Leistungspflicht eine nochmalige psychiatrische Beurteilung nach
vorgängiger sechsmonatiger Alkoholabstinenz notwendig.
Versicherte sind verpflichtet, die Durchführung aller Massnahmen zu
erleichtern, die zur Eingliederung ins Erwerbsleben getroffen werden. Wenn sie
diese erschweren oder verunmöglichen, können die Leistungen eingestellt oder
verweigert werden (Art. 21 Abs. 4 des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil
des Sozialversicherungsrechts [ATSG]).
Wir fordern die Versicherte daher auf, umgehend eine mindestens sechsmonatige,
kontrollierte Alkoholabstinenz zu beginnen und uns den gewählten Arzt/die
gewählte Ärztin, welcher/welche die Abstinenz überprüfen wird, bis spätestens
5. Februar 2007 mitzuteilen.
Die Kosten gehen nicht zu Lasten der Invalidenversicherung."
Nach einem Mahnschreiben vom 27. Juli 2007 und Durchführung des
Vorbescheidverfahrens verneinte die IV-Stelle mit Verfügung vom 9. Juli 2008
erneut einen Invalidenrentenanspruch. Diesmal hielt sie zur Begründung fest,
die Versicherte sei den ihr obliegenden Mitwirkungspflichten nicht
nachgekommen. Weil sie durch die Verweigerung der Abstinenz die notwendigen
weiteren medizinischen Abklärungen vereitelt habe, könnten die verlangte
Neueinschätzung der Arbeitsunfähigkeit und die Bemessung der Invalidität nicht
vorgenommen werden, weshalb das Leistungsgesuch androhungsgemäss abzuweisen
sei. Mit dem hier angefochtenen Entscheid vom 16. Juli 2009 bestätigte die
Vorinstanz die Ablehnung des Rentenanspruchs, ohne auf ihren früheren Entscheid
vom 28. September 2006 und namentlich die hiefür massgebenden Erwägungen Bezug
zu nehmen. Aufgrund des ersten verwaltungsgerichtlichen Entscheides steht
rechtskräftig fest, dass bei der Beschwerdeführerin nicht reines Suchtgeschehen
vorliegt, sondern der Alkoholismus die Folge einer primären Krankheit ist und
deshalb invalidisierenden Charakter aufweist. Weiter stellte das kantonale
Gericht unmissverständlich fest, es sei von einer Einschränkung der
Arbeitsfähigkeit auszugehen. Die angeordneten Abklärungen betrafen die
medizinische Untersuchung zum Grad der Arbeitsunfähigkeit und sollten als
Grundlage für die Festsetzung des Invaliditätsgrades dienen. Ebenfalls sollten
geeignete Wiedereingliederungsmöglichkeiten evaluiert werden. Statt diesen
verbindlichen Vorgaben des Verwaltungsgerichts nachzukommen, ging die IV-Stelle
nach Erhalt des Entscheides vor, als ob reines Suchtgeschehen vorliegen würde,
indem sie einen sechsmonatigen stationären Alkoholentzug forderte. Ein solcher
war indessen weder vom kantonalen Gericht angeordnet worden noch indiziert.
Denn sowohl die behandelnden, als auch die begutachtenden Ärzte haben schon vor
Erlass des ersten Entscheides vom 28. September 2006 dargelegt, das Beharren
auf einer stationären Entzugskur sei nicht zumutbar und fördere im Übrigen
gemäss den bisherigen Erfahrungen den Heilungsprozess nicht. Im angefochtenen
Entscheid vom 16. Juli 2009 bestätigte die Vorinstanz die Verfügung der
IV-Stelle und setzte sich damit in Widerspruch zu ihrem früheren Entscheid.

2.3 Indem sich die Vorinstanz in Einklang mit der IV-Stelle über die
Rechtskraft ihres eigenen Rückweisungsentscheides hinweggesetzt hat, hat sie
Bundesrecht verletzt (E. 1 hievor).
Der angefochtene Entscheid und die Verfügung vom 9. Juli 2008 sind daher
aufzuheben. Die IV-Stelle, an welche die Sache zurückzuweisen ist, wird
gestützt auf die Ergebnisse der von ihr in Nachachtung des rechtskräftigen
Rückweisungsentscheides der Vorinstanz vom 28. September 2006 zu treffenden
Abklärungen über das Rentengesuch der Versicherten neu verfügen.

3.
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden
IV-Stelle aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Diese hat der Beschwerdeführerin
überdies eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Das
Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird damit gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
In teilweiser Gutheissung der Beschwerde werden der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Zug vom 16. Juli 2009 und die
Verwaltungsverfügung vom 9. Juli 2008 aufgehoben. Die Sache wird an die
IV-Stelle Zug zurückgewiesen, damit sie im Sinne der Erwägungen verfahre.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der IV-Stelle Zug auferlegt.

3.
Die IV-Stelle Zug hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Zug
zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Zug,
Sozialversicherungsrechtliche Kammer, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 16. November 2009
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Widmer