Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 786/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_786/2009

Urteil vom 24. Februar 2010
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Seiler,
Gerichtsschreiberin Bollinger Hammerle.

Parteien
Z.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Jean Baptiste Huber,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle Schwyz, Rubiswilstrasse 8, 6438 Ibach,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Schwyz
vom 9. Juli 2009.

Sachverhalt:

A.
Die 1965 geborene Z.________ war in den Jahren 1993 (Heckaufprallkollision) und
1994 (Seitenaufprall) je in einen Autounfall verwickelt. In der Folge klagte
sie insbesondere über Kopf- und Nackenschmerzen (z.B. ärztlicher
Zwischenbericht des Dr. med. A.________, Innere Medizin FMH, vom 5. Februar
1996). Im Jahre 2000 verunfallte Z.________ beim Inlineskaten (Sturz auf Gesäss
und Rücken); dieser Unfall führte zu einer Exazerbation der vorbestehenden
Beschwerden (neurologisches Gutachten des Dr. med. S.________, Spezialarzt für
Neurologie, vom 23. September 2002). Die Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) kam für die gesundheitlichen und erwerblichen
Unfallfolgen auf und richtete Taggelder aus. Gestützt auf einen Vergleich
sprach die SUVA Z.________ mit Verfügung vom 19. Dezember 2006 für die Folgen
aller drei Unfälle eine Invalidenrente ab 1. Dezember 2006 bei einer
unfallbedingten Erwerbsunfähigkeit von 50 % und eine Integritätsentschädigung
bei einer Integritätseinbusse von 25 % zu.
Bereits am 25. September 2002 hatte sich Z.________ bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug angemeldet (Umschulung auf eine neue
Tätigkeit, Rente). Die IV-Stelle Schwyz führte erwerbliche Abklärungen durch
und zog die Akten der SUVA bei. Mit Verfügung vom 20. Januar 2005 sprach sie
Z.________ Beratung und Unterstützung bei der Stellensuche zu. In der Folge
veranlasste die IV-Stelle ein interdisziplinäres versicherungsmedizinisches
Gutachten bei der Medas vom 9. Juni 2008. Nach durchgeführtem
Vorbescheidverfahren verfügte sie am 21. Oktober 2008 die Abweisung des
Leistungsbegehrens.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde der Z.________ wies das Verwaltungsgericht des
Kantons Schwyz mit Entscheid vom 9. Juli 2009 ab.

C.
Z.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
und unter Aufhebung des angefochtenen Entscheides die Zusprechung einer halben
Rente der Invalidenversicherung ab 1. Juli 2001 beantragen; eventualiter sei
die Sache zur weiteren Abklärung an die IV-Stelle zurückzuweisen.
Die Vorinstanz schliesst auf Abweisung der Beschwerde, IV-Stelle und Bundesamt
für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
1.1 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG)
kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG erhoben werden. Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung
der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig
ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 97
Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG; vgl. BGE 132 V 393 E. 3. S. 397 ff. zur auch
unter der Herrschaft des BGG gültigen Abgrenzung von Tat- und Rechtsfragen im
Rahmen der Invaliditätsbemessung [Art. 16 ATSG]).

1.2 Neue Tatsachen und Beweismittel dürfen nur soweit vorgebracht werden, als
erst der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass gibt (Art. 99 Abs. 1 BGG). Dies
ist dann der Fall, wenn eine bereits bei Erlass des angefochtenen Entscheides
bestandene Tatsache erst durch den vorinstanzlichen Entscheid rechtswesentlich
wird (Hansjörg Seiler/Nicolas von Werdt/Andreas Güngerich, Bundesgerichtsgesetz
[BGG], 2007, N. 3 und 6 zu Art. 99 BGG). Inwiefern diese Voraussetzung gegeben
ist und das neue Vorbringen nicht bereits im vorinstanzlichen Verfahren
eingebracht werden konnte und musste, ist näher darzulegen (z.B. Urteil 9C_157/
2009 vom 3. Juli 2009 E. 1.2).

2.
Streitig ist der Anspruch auf eine Invalidenrente. Das kantonale Gericht hat
die Bestimmungen und Grundsätze über die Voraussetzungen und den Umfang des
Rentenanspruchs (seit 1. Januar 2008: Art. 28 Abs. 2 IVG), die invalidisierende
Wirkung ätiologisch unspezifischer Schmerzzustände (vgl. hiezu BGE 130 V 352 E.
2.2.3 und 2.2.4 S. 354 ff.) sowie zum Beweiswert ärztlicher Berichte und
Gutachten und zur Beweiswürdigung (BGE 125 V 351 E. 3 S. 352 ff.; 122 V 157 E.
1c S. 160 ff., je mit Hinweisen; vgl. auch BGE 132 V 393 E. 4.1 S. 400)
zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

3.
3.1 Das kantonale Gericht erwog, es sei nicht zu beanstanden, dass die
IV-Stelle die Einwände gegen den Gutachter Dr. med. Y.________ - namentlich mit
Blick auf dessen Aktivitäten im Rahmen der sogenannten Vineyard-Bewegung - und
sinngemäss gegen die gesamte Medas abgelehnt habe. Obwohl sich im
Medas-Gutachten gewisse Fehler eingeschlichen hätten, könne von einem
unvollständigen Gutachten keine Rede sein; dies gelte insbesondere auch
bezüglich der geklagten Spannungskopfschmerzen und deren Berücksichtigung im
neurologischen Teilgutachten. Für weitere Untersuchungen habe mit Blick auf das
Ergebnis der Exploration kein Anlass bestanden. Die IV-Stelle habe daher zu
Recht gestützt auf das Medas-Gutachten einen rentenbegründenden
Invaliditätsgrad verneint.

3.2 Die Beschwerdeführerin rügt, indem die Vorinstanz ausschliesslich auf das
Medas-Gutachten abgestellt habe, sei sie in Willkür verfallen. Die
Medas-Gutachter hätten die Arbeitsfähigkeit rückwirkend über 13 Jahre
eingeschätzt, ohne sich seriös mit den echtzeitlichen medizinischen
Beurteilungen und der Tatsache auseinanderzusetzen, dass die SUVA erhebliche
Versicherungsleistungen erbracht habe. Auch hätten die Gutachter nicht auf
Unsicherheiten oder den spekulativen Charakter der retrospektiven Beurteilung
hingewiesen, was unseriös sei. Willkürlich sei das kantonale Gericht zum einen
nicht auf die gerügte Unsorgfältigkeit des orthopädischen Gutachters
eingegangen und habe damit gleichzeitig den Sachverhalt offensichtlich
unrichtig festgestellt. Zum anderen habe es erwogen, das Medas-Gutachten sei
umfassend und vollständig, obwohl PD Dr. med. I.________, Facharzt für
Neurologie, in der Beurteilung des Instituts X.________, vom 17. August 2009
die Diagnoseliste der Medas als unvollständig bezeichnete. Die
Sachverhaltsfeststellungen im Gutachten der Medas und damit auch in dem darauf
abstellenden vorinstanzlichen Entscheid seien demzufolge offensichtlich
unvollständig und offensichtlich unrichtig. Gleichzeitig habe das kantonale
Gericht den Untersuchungsgrundsatz verletzt.

4.
4.1 Die Invalidenversicherung ist an die Invaliditätsschätzung der
Unfallversicherung nicht gebunden (BGE 133 V 549 E. 6. S. 553 ff.). Soweit die
SUVA der Beschwerdeführerin, basierend auf einem Vergleich, eine Invalidenrente
bei einer Erwerbseinbusse von 50 % zugesprochen hat (wobei weder die
Beurteilungen durch den Neurologen Dr. med. S.________ vom 1. Mai 2000, 23.
September 2002 und 25. Juli 2005 eine derart hohe Arbeitsunfähigkeit ergaben
noch eine solche sich dem neuropsycholgischen Gutachten des lic. phil.
H.________, Neuropsychologisches Institut Q.________, vom 10. Januar 2000 oder
den kreisärztlichen Stellungnahmen vom 21. März, 4. Mai und 19. Juni 2006
entnehmen lässt [und Dr. med. M.________, FMH für Otorhinolaryngologie, Hals-
und Gesichtschirurgie, in seinem Gutachten vom 2. November 2001 nicht zur
Arbeitsfähigkeit Stellung nahm]), kann sie daraus nichts ableiten hinsichtlich
ihrer Anspruchsberechtigung gegenüber der Invalidenversicherung.
4.2
4.2.1 Das Bundesgericht ist nur dann befugt, die Beweiswürdigung eines
kantonalen Gerichtes zu korrigieren, wenn diese offensichtlich unrichtig bzw.
willkürlich ist (E. 1 hievor). Willkür im Sinne von Art. 9 BV setzt voraus,
dass der angefochtene Entscheid offensichtlich unhaltbar ist, zur tatsächlichen
Situation in klarem Widerspruch steht oder auf einem offenkundigen Fehler
beruht (BGE 127 I 54 E. 2b S. 56). Die vorinstanzliche Beweiswürdigung muss
somit entweder schlechterdings unhaltbar oder widersprüchlich sein oder mit der
tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch stehen, eine Norm oder einen
unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzen oder in stossender Weise dem
Gerechtigkeitsgedanken zuwiderlaufen (BGE 131 I 467 E. 3.1 S. 473). Dass eine
andere Lösung ebenfalls als vertretbar erscheint oder gar vorzuziehen wäre,
genügt nicht.
4.2.2 Die Vorinstanz erwog, der Medas-Arzt Dr. med. W.________ sei im
orthopädischen Teilgutachten vom 4. März 2008 zwar von einem Körpergewicht der
Versicherten von 63 kg statt 50 kg ausgegangen. Abgesehen davon, dass das
Körpergewicht im Zeitablauf gewissen Schwankungen unterliege, wirke sich diese
Ungenauigkeit aber nicht auf die Schlussfolgerungen im interdisziplinären
versicherungsmedizinischen Gutachten vom 9. Juni 2008 aus. Der
Beschwerdeführerin ist darin zuzustimmen, dass zumindest das gehäufte Auftreten
von Ungenauigkeiten Zweifel an der Zuverlässigkeit gutachterlicher
Einschätzungen hervorrufen kann. Haben die Gutachter die zu beurteilende mit
einer anderen Person verwechselt, geht ihren Ausführungen selbstredend
jeglicher Beweiswert ab (Urteil I 355/06 vom 27. März 2007 E. 5.3.1 und 5.3.2).
So verhält es sich hier aber nicht. Auch wenn sich Dr. med. W.________ den
Vorwurf der mangelhaften Kontrolle seiner Beurteilung gefallen lassen muss,
geht aus der Gesamtschau der in seinen Ausführungen enthaltenen Fakten und
Einschätzungen zweifelsfrei hervor, dass er sich weder in der Person der
Explorandin getäuscht noch deren gesundheitliche Einschränkungen unvollständig
berücksichtigt hat. Seine Ausführungen, wonach die bisherige Tätigkeit (bei
fehlenden weitgehenden strukturellen Veränderungen der Wirbelsäule, auch bei
festgestellter atlantoaxialer Rotationsfehlstellung) im Umfang von 8,5 Stunden
pro Tag an fünf Tagen pro Woche zumutbar sei, stimmt sowohl mit der Beurteilung
des Dr. med. L.________, FMH für orthopädische Chirurgie, vom 25. September
1998 überein (wonach die Versicherte mit den vorliegenden Restbeschwerden
arbeiten könne) als auch mit der Stellungnahme des SUVA-Kreisarztes Dr. med.
E.________, FMH für orthopädische Chirurgie (Einschätzungen vom 21. März und
19. Juni 2006). Die von der Versicherten gerügten Unzulänglichkeiten, welche im
angefochtenen Entscheid angemessen gewürdigt worden sind, vermögen auch mit
Blick darauf, dass bei einer Körpergrösse von 159 cm sowohl ein Gewicht von 50
kg als auch ein solches von 63 kg als "normal" gelten (BMI von 24,9 bzw. 19,8),
keine Bundesrechtswidrigkeit der vorinstanzlichen Beweiswürdigung hinsichtlich
der orthopädischen Teilbegutachtung des Dr. med. W.________ darzutun.
4.2.3 Für den Leistungsanspruch in der Invalidenversicherung ist nicht die
diagnostische Einordnung der geklagten Beschwerden massgebend, sondern deren
Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit. Davon abgesehen, dass die
letztinstanzlich ins Recht gelegte Beurteilung des PD Dr. med. I.________ vom
17. August 2009 nicht berücksichtigt werden kann (E. 1.2 hievor), ist
grundsätzlich nicht entscheidwesentlich, ob die Spannungskopfschmerzen der
Versicherten als "chronic headache attributed to Whiplash injury" einzuordnen
sind oder ganz oder teilweise auf den Analgetika-Konsum zurückgehen. Nach
eigenen Angaben nimmt die Beschwerdeführerin eine bis zwei Schmerztabletten
(Dafalgan 500) täglich ein; für einen Analgetika-Abusus bzw. einen die
Arbeitsfähigkeit beeinträchtigenden schädlichen Gebrauch von Analgetika (ICD-10
F55.2) finden sich in den Akten keine Hinweise. Wenn die Medas-Gutachter keine
entsprechende Diagnose anführten, spricht dies somit nicht gegen den Beweiswert
ihrer Beurteilung. Unbehelflich ist schliesslich der Einwand, die von der
Neuropsychologin erhobenen kognitiven Defizite (z.B. im durchgeführten verbalen
Lern- und Merkfähigkeitstest [VLMT]) hätten in der Diagnoseliste des
Medas-Gutachtens gefehlt. In der zusammenfassenden Beurteilung aus
neuropsychologischer Sicht wird im Einzelnen dargelegt, dass die
Aufmerksamkeits- und Konzentrationsleistung als unauffällig bewertet wurde, die
grenzwertig ausgefallene Auffassungsgabe aber darauf hindeute, dass die
Versicherte ihr Leistungspotenzial (beim Wörterlernen) nicht gänzlich
ausgeschöpft habe bzw. sich limitierte und bei gesamthafter Betrachtung der
umfangreichen neuropsychologischen Tests keine Defizite zu objektivieren waren.
Die nachvollziehbar und bundesrechtskonform begründete antizipierte
Beweiswürdigung im angefochtenen Entscheid hält somit auch mit Bezug auf die
interdisziplinäre Beurteilung der Medas-Gutachter in allen Teilen vor
Bundesrecht stand; von einer bundesrechtswidrigen Sachverhaltsfeststellung kann
keine Rede sein.

5.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten der
Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 24. Februar 2010
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Meyer Bollinger Hammerle