Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 784/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_784/2009

Urteil vom 30. Oktober 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Kernen, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiberin Dormann.

Parteien
K.________, vertreten durch
Fürsprecher Herbert Bracher,
Beschwerdeführer,

gegen

Versicherungsgericht des Kantons Solothurn, Amthaus 1, 4500 Solothurn,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Unentgeltliche Rechtspflege,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn
vom 3. August 2009.

Sachverhalt:

A.
A.a Der 1952 geborene K.________ meldete sich im April 2004 bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nachdem die IV-Stelle des Kantons
Solothurn mit Verfügung vom 1. März 2006 einen Rentenanspruch verneint hatte,
sprach sie ihm mit Einspracheentscheid vom 22. Dezember 2006 bei einem
Invaliditätsgrad von 48 % ab 1. April 2004 eine Viertelsrente der
Invalidenversicherung zu. Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das
Versicherungsgericht des Kantons Solothurn mit Entscheid vom 26. September 2007
in dem Sinne gut, als es die Sache in Aufhebung des Einspracheentscheides an
die Verwaltung zurückwies, damit sie den Sachverhalt im Sinne der Erwägungen
ergänze und neu über den Rentenanspruch verfüge.
A.b Nach Abklärungen und Durchführung des Vorbescheidverfahrens sprach die
IV-Stelle dem Versicherten mit Verfügung vom 17. März 2009 erneut bei einem
Invaliditätsgrad von 48 % ab 1. April 2004 eine Viertelsrente der
Invalidenversicherung zu.

B.
K.________ liess Beschwerde beim Versicherungsgericht des Kantons Solothurn
einreichen und beantragen, unter Aufhebung der Verfügung vom 17. März 2006
(recte: 2009) sei ihm ab 1. April 2004 eine halbe Rente der
Invalidenversicherung zuzusprechen, eventuell sei die Sache zur weiteren
Abklärung an die Verwaltung zurückzuweisen. Mit Verfügung vom 3. August 2009
wies das kantonale Gericht das gleichzeitig gestellte Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege bzw. Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes ab
(Dispositiv-Ziffer 1) und verpflichtete K.________ zur Zahlung eines
Kostenvorschusses von Fr. 600.- bis zum 14. September 2009, widrigenfalls auf
die Beschwerde nicht eingetreten werde (Dispositiv-Ziffer 2).

C.
K.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Rechtsbegehren, es sei die Verfügung des Versicherungsgerichts vom 3.
August 2009 aufzuheben und ihm im kantonalen Verfahren die unentgeltliche
Rechtspflege zuzusprechen sowie sein Rechtsvertreter als amtlicher Anwalt
beizuordnen.

Erwägungen:

1.
Gegen selbständig eröffnete, weder die Zuständigkeit noch den Ausstand (vgl.
Art. 92 BGG) betreffende Zwischenentscheide ist die Beschwerde an das
Bundesgericht - abgesehen vom hier nicht gegebenen Ausnahmefall gemäss Art. 93
Abs. 1 lit. b BGG - nur zulässig, wenn sie einen nicht wieder gutzumachenden
Nachteil bewirken können (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG). Angefochten ist ein in
einem hängigen kantonalen Beschwerdeverfahren ergangener Entscheid betreffend
unentgeltliche Rechtspflege; dabei handelt es sich um einen Zwischenentscheid
(Urteil 2D_1/2007 vom 2. April 2007 E. 2.1), von dem die Rechtsprechung
annimmt, er bewirke in der Regel einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil,
jedenfalls wenn - wie hier - nicht nur die unentgeltliche Rechtspflege
verweigert, sondern zugleich auch die Anhandnahme des Rechtsmittels von der
Bezahlung eines Kostenvorschusses durch die gesuchstellende Partei abhängig
gemacht wird (SZS 2009 S. 397, 9C_286/2009 E. 1 mit Hinweisen).

2.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich
weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die
Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen
als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann eine Beschwerde mit einer von
der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (vgl. BGE 132
II 257 E. 2.5 S. 262; 130 III 136 E. 1.4 S. 140).

3.
3.1 Jede Person, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, hat Anspruch
auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos
erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem
Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand (Art. 29 Abs. 3 BV). Die
unentgeltliche Rechtspflege bezweckt, auch der bedürftigen Partei den Zugang
zum Gericht und die Wahrung ihrer Parteirechte zu ermöglichen. Sie soll
sicherstellen, dass jedermann unabhängig von seinen finanziellen Verhältnissen
nicht aussichtslose Streitsachen zur gerichtlichen Entscheidung bringen und
sich überdies im Prozess, sofern es sachlich geboten ist, durch einen Anwalt
vertreten lassen kann (BGE 135 I 1 E. 7.1 S. 2). Für das - in der Regel
kostenlose (Art. 61 lit. a ATSG [SR 830.1]) - sozialversicherungsrechtliche
Beschwerdeverfahren findet der Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand in
Art. 61 lit. f ATSG eine gesetzliche Grundlage.

3.2 Im angefochtenen Entscheid wird für das kantonale Verfahren einerseits über
den Anspruch auf unentgeltliche Prozessführung - und damit zusammenhängend die
Pflicht zur Leistung eines Kostenvorschusses - (Dispositiv-Ziffer 1 und 2) und
andererseits über den Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung
(Dispositiv-Ziffer 1) entschieden. Mit der Begründung, es sei im Wesentlichen
nur die Frage nach der Höhe des Invalideneinkommens zu klären, wobei der
Untersuchungsgrundsatz gelte und sich keine komplexen Rechtsfragen stellten,
hat die Vorinstanz die sachliche Notwendigkeit einer anwaltlichen
Verbeiständung verneint. In der Annahme, dass daran der Anspruch auf
unentgeltliche Rechtspflege bereits scheitere, hat sie darauf verzichtet, die
finanzielle Situation des Beschwerdeführers sowie die Erfolgsaussichten seiner
Beschwerde zu prüfen. Die Kriterien der Bedürftigkeit sowie fehlenden
Aussichtslosigkeit stellen indessen hinreichende Voraussetzungen für den
Anspruch auf unentgeltliche Prozessführung im Sinne der Befreiung von den
Gerichtskosten dar (vgl. für das bundesgerichtliche Verfahren Art. 64 Abs. 1
BGG; Urteil 6B_482/2007 vom 12. August 2008 E. 21.1). Indem es sich dazu nicht
geäussert hat, hat das kantonale Gericht seine Begründungspflicht (Art. 61 lit.
h ATSG; Art. 29 Abs. 2 BV; BGE 134 I 83 E. 4.1 S. 88 mit Hinweisen) verletzt.

3.3 In Bezug auf die unentgeltliche Prozessführung erlauben die Akten die
Feststellung des massgeblichen Sachverhalts durch das Bundesgericht (Art. 105
Abs. 2 BGG). Mit dem Gesuch und Zeugnis zur Erlangung der unentgeltlichen
Rechtspflege vom 29. Mai 2009, welches u.a. Angaben der Einwohnergemeinde zu
den Steuerverhältnissen enthält, ist die Bedürftigkeit des Beschwerdeführers
ausgewiesen. Prozessthema des vorinstanzlichen Beschwerdeverfahrens ist die
Höhe des Valideneinkommens, welches die IV-Stelle gestützt auf das im Jahr 2002
erzielte Einkommen auf Fr. 65'009.- festsetzte. Demgegenüber machte der
Beschwerdeführer ein Valideneinkommen von Fr. 74'776.- geltend; dieses sei
aufgrund langjährig durchschnittlich erzielter Löhne festzusetzen. Dass es sich
bei der 2002 erfolgten Lohneinbusse von rund Fr. 13'000.- um eine dauerhafte
Lohnsenkung handle, gehe aus den von der Verwaltung eingeholten Ausführungen
der Arbeitgeberin (Schreiben vom 12. Februar 2008 sowie Telefongespräch vom 4.
Dezember 2008) nicht hervor. Darauf könne aus formellen und materiellen Gründen
nicht abgestellt werden, zumal die - als Beleg für eine anhaltende
organisatorische Umstellung mit entsprechenden Lohnauswirkungen - vorgelegten
Bewilligungen für ununterbrochenen Betrieb (datierend vom 16. Dezember 1996,
12. November 1997, 21. Dezember 2000, 17. April 2002, 2. April 2003, 23. Juli
2004, 7. März 2007 und 7. Oktober 2008) einen irrelevanten Zeitraum beträfen
und einen beliebigen Wechsel zwischen verschiedenen Arbeitsschichtmodellen
dokumentierten. Mit dieser Argumentation lässt sich die Beschwerde nicht als
aussichtslos (BGE 129 I 129 E. 2.3.1 S. 235 f.) bezeichnen. Damit sind die
Voraussetzungen für die unentgeltliche Prozessführung (Befreiung von den
Gerichtskosten und der Leistung eines Kostenvorschusses) im vorinstanzlichen
Verfahren erfüllt.

3.4 Ob eine unentgeltliche Verbeiständung sachlich notwendig ist, beurteilt
sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalles. Die bedürftige Partei hat
darauf Anspruch, wenn ihre Interessen in schwerwiegender Weise betroffen sind
und der Fall in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten bietet,
die den Beizug eines Rechtsvertreters erforderlich machen. Droht das in Frage
stehende Verfahren besonders stark in die Rechtsposition der betroffenen Person
einzugreifen, ist die Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsvertreters
grundsätzlich geboten, sonst nur dann, wenn zur relativen Schwere des Falles
besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten hinzukommen, denen der
Gesuchsteller auf sich alleine gestellt nicht gewachsen wäre (BGE 130 I 180 E.
2.2 S. 182 mit Hinweisen).

Es trifft zu, dass das vorinstanzliche Verfahren vom Untersuchungsgrundsatz
beherrscht wird und sachlich auf einen einzelnen Aspekt der
Invaliditätsbemessung - die Höhe des Invalideneinkommens - beschränkt ist. Das
kantonale Sozialversicherungsgericht ist diesbezüglich jedoch die einzige
Rechtsmittelinstanz mit unbeschränkter Kognition (Art. 61 lit. c und d ATSG;
Art. 97 Abs. 1 BGG). Die Notwendigkeit einer Verbeiständung bei Geltung des
Untersuchungsgrundsatzes ist daher weniger streng als im Verwaltungsverfahren
(vgl. Anwaltsrevue 2009 8 S. 393, 9C_991/2008 E. 4.2 mit Hinweisen) zu
beurteilen. Die Feststellung des Invalideneinkommens, soweit sie auf konkreter
Beweiswürdigung beruht, ist wie diese selbst eine Tatfrage, während die
Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes und der Beweiswürdigungsregeln nach Art.
61 lit. c ATSG Rechtsfragen darstellen (BGE 132 V 393 E. 3.3 S. 399; Urteil
9C_941/2008 vom 18. Februar 2009 E. 3.2). Im konkreten Fall stellen sich
rechtliche und tatsächliche Fragen, welche nicht ohne Weiteres zu beantworten
sind (E. 3.3). Weiter ist die Festsetzung des Invalideneinkommens von
ausschlaggebender Bedeutung für den Umfang des Rentenanspruchs. Schliesslich
ist zu beachten, dass der Beschwerdeführer ungelernter Hilfsarbeiter
ausländischer Herkunft mit begrenzten Kenntnissen der deutschen Sprache ist.
Unter diesen Umständen ist die Bestellung eines unentgeltlichen
Rechtsvertreters im kantonalen Verfahren geboten.

4.
Vom Kanton als unterliegende Partei sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art.
66 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 4 BGG). Hingegen hat der Beschwerdeführer für
das bundesgerichtliche Verfahren Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68
Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Die Verfügung des Versicherungsgerichts des
Kantons Solothurn vom 3. August 2009 wird aufgehoben. Es wird festgestellt,
dass der Beschwerdeführer für das kantonale Beschwerdeverfahren betreffend eine
Rente der Invalidenversicherung Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege hat.
Fürsprecher Herbert Bracher wird als sein unentgeltlicher Rechtsbeistand
bestellt.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Der Kanton Solothurn hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4.
Diese Verfügung wird den Parteien und der IV-Stelle des Kantons Solothurn
schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 30. Oktober 2009
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Meyer Dormann