Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 782/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_782/2009

Urteil vom 16. April 2010
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Seiler, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber Schmutz.

Verfahrensbeteiligte
G.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Christof Steger,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 28. Juli 2009.

Sachverhalt:

A.
A.a Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen sprach G.________, geboren 1978, für
den Zeitraum vom 20. Februar 2006 bis 28. Februar 2010 Umschulung in Form einer
Ausbildung zum Techniker TS Innenarchitektur zu (Verfügung vom 28. März 2006)
und legte das Taggeld - basierend auf einem durchschnittlichen Tageseinkommen
von Fr. 154.- - auf Fr. 123.20 für drei Einzeltage pro Woche (zwei Schultage
und ein Lerntag) fest (Verfügung vom 4. April 2006). Sie erhöhte es im Rahmen
einer ersten Einkommensanpassung von Amtes wegen bei einem neu auf Fr. 161.-
festgesetzten durchschnittlichen Tageseinkommen auf Fr. 128.80 (Verfügung vom
11. Mai 2006). Die Verfügungen erwuchsen in Rechtskraft.
A.b Auf ein vom Versicherten am 12. Juni 2007 gestelltes und am 24. August 2007
und 7. November 2007 bekräftigtes Wiedererwägungsgesuch mit dem Antrag auf ein
volles, nicht auf drei Tage beschränktes Taggeld trat die IV-Stelle mit
Schreiben vom 21. November 2007 nicht ein.
A.c Soweit es darauf eintrat, wies das Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen mit Entscheid vom 28. Mai 2008 die von G.________ eingereichte
Beschwerde mit der Begründung ab, die Verwaltung sei nicht auf das
Wiedererwägungsgesuch eingetreten und habe keinen neuen Sachentscheid gefällt.
A.d Die dagegen erhobene Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
wies das Bundesgericht mit Urteil 9C_543/2008 vom 29. August 2008 ab.

B.
Mit Verfügung vom 27. Januar 2009 setzte die IV-Stelle das Taggeld für die
Umschulungsperiode vom 1. Mai 2008 bis 28. Februar 2010 auf Fr. 132.80 wiederum
für drei Einzeltage pro Woche fest. Sie begründete die Erhöhung mit der
Anpassung von Amtes wegen an die Entwicklung des Erwerbseinkommens.

C.
Die dagegen eingereichte Beschwerde mit dem Antrag auf Zusprechung eines nicht
auf drei Einzeltage eingeschränkten Taggeldes wies das Versicherungsgericht des
Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 28. Juli 2009 ab, soweit es darauf
eintrat.

D.
G.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und
beantragt Aufhebung der Verfügung vom 27. Januar 2007 (recte: 2009) betreffend
Umschulungstaggeld; das Taggeld sei ohne die Einschränkung auf drei Einzeltage
pro Woche auszurichten; eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die
Vorinstanz zurückzuweisen.

Verwaltung, Vorinstanz und Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf
Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Umstritten ist, ob die Vorinstanz zu Recht befunden hat, in formeller Hinsicht
fehle es an einem Anfechtungsgegenstand und somit an einer
Sachurteilsvoraussetzung für die Überprüfung des bereits rechtskräftig
verfügten Anspruchs an wöchentlich drei Tagen auf ein Taggeld während der
beruflichen Eingliederung vom 20. Februar 2006 bis 28. Februar 2010. Soweit
darüber hinaus die materielle Überprüfung des Leistungsanspruches verlangt
wird, ist auf die Beschwerde nicht einzutreten.

2.
Die formelle Rechtskraft einer Verwaltungsverfügung entfaltet sich nur im
Rahmen persönlich, sachlich und zeitlich identischer Verfügungs- bzw.
Anfechtungsgegenstände (MEYER-BLASER, Die Abänderung formell rechtskräftiger
Verwaltungsverfügungen in der Sozialversicherung, in: ZBl 95 (1994) S. 343;
RUMO-JUNGO, Die Instrumente zur Korrektur der Sozialversicherungsverfügung, in:
Verfahrensfragen in der Sozialversicherung, St. Gallen 1996, S. 271 f.; FRITZ
WIDMER, Die Rückerstattung unrechtmässig bezogener Leistungen in der
Sozialversicherung unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts, Diss. Basel 1984, S. 91). Formelle
Rechtskraft kommt lediglich dem Dispositiv einer Verfügung zu, nicht jedoch den
Begründungselementen (BGE 110 V 48 E. 3c S. 51). Bei Dauerverfügungen wird
während der gesamten Leistungsbezugszeit Rechtsbeständigkeit der Grundverfügung
angenommen (MEYER-BLASER, a.a.O., S. 344). Diese steht nach ständiger
Rechtsprechung einer Überprüfung der Berechnungsfaktoren anlässlich der
periodischen Rentenanpassungen der Grundverfügung entgegen. Insofern haben die
Berechnungsfaktoren einer Rente oder des Taggeldes Anteil an der Rechtskraft
der entsprechenden Verfügung (BGE 117 V 121 E. 3 S. 124; EVGE 1962 S. 198).

3.
3.1 Der unangefochten in Rechtskraft erwachsenen (Grund-)Verfügung vom 4. April
2006 liegt neben einem durchschnittlichen Tageseinkommen von Fr. 154.- auch ein
auf drei Einzeltage pro Woche (zwei Schultage und ein Lerntag) beschränkter
Taggeldanspruch zugrunde. Die auf drei Einzeltage eingeschränkte Anspruchsdauer
wurde in der im Streit stehenden Taggeldverfügung vom 27. Januar 2009
unverändert übernommen. Dies war unangefochten bereits bei der mit Verfügung
vom 11. Mai 2006 erfolgten Erhöhung des Taggeldes der Fall.

3.2 Zwischen dem Gegenstand der Verfügungen vom 4. April 2006, 11. Mai 2006 und
27. Januar 2009 herrscht Identität (vgl. oben E. 2): Zunächst betreffen sie
dieselbe Person. Zudem tangieren sie denselben Versicherungsfall, nämlich eine
Massnahme beruflicher Art für den Versicherten, der aus gesundheitlichen
Gründen in seinem erlernten Beruf als Metallbauschlosser nicht mehr
einsatzfähig ist. Das IVG folgt dem System des leistungsspezifischen
Versicherungsfalles, der im Rahmen jeder gesetzlichen Leistungsnorm autonom
bestimmt werden muss (SVR 2007 IV Nr. 7 S. 23 [= Urteil I 76/05 vom 30. Mai
2006 E. 1.1] mit Verweis auf Meyer-Blaser, Bundesgesetz über die
Invalidenversicherung [IVG], in: Murer/Stauffer [Hrsg.], Die Rechtsprechung des
Bundesgerichts zum Sozialversicherungsrecht, Zürich 1997, S. 22 f. mit
zahlreichen Hinweisen auf die Rechtsprechung). Mit der am 4. April 2006
verfügten Zusprechung der auf vier Jahre angelegten beruflichen Massnahme trat
der Versicherungsfall in jenem Leistungsbereich ein. Neben der persönlichen ist
damit auch die sachliche Identität gegeben. In zeitlicher Hinsicht handelt es
sich bei der Taggeldverfügung um eine im Voraus auf einen bestimmten Zeitraum
befristete Verfügung, deren Rechtsbeständigkeit sich auf die gesamte Dauer des
Versicherungsfalles erstreckt (berufliche Eingliederungsmassnahme vom 20.
Februar 2006 bis 28. Februar 2010). Es liegt somit auch die zeitliche Identität
vor. Mit den Taggeldverfügungen vom 11. Mai 2006 und 27. Januar 2009 wurde die
Grundverfügung vom 4. April 2006 bloss hinsichtlich der Berechnungsbasis
(durchschnittliches Tageseinkommen) angepasst.

3.3 Die formelle Rechtskraft der Verfügung vom 4. April 2006 erstreckt sich
somit auch auf die hier angefochtene Verfügung vom 27. Januar 2009. Dazu gehört
als eine der Grundlagen der Taggeldverfügung insbesondere die
Anspruchsbeschränkung auf drei Tage. Die formelle Rechtskraft der
ursprünglichen Taggeldverfügung steht der Überprüfung der bestätigten Anzahl an
Taggeldern entgegen. Die Vorinstanz hat zu Recht befunden, es fehle in diesem
Punkt an einem Anfechtungsgegenstand und somit an einer
Sachurteilsvoraussetzung. Der Einwand des Beschwerdeführers, beides liege vor,
da rechtskräftig verfügte Fehler anlässlich eines Revisionsverfahrens in einer
Neuprüfung der Verhältnisse für die Zukunft müssten korrigiert werden können,
zielt daneben: Die hier eröffnete Taggelderhöhung hat nur einen (geänderten)
Leistungsaspekt neu geregelt, nicht den ganzen Anspruch. Die ursprüngliche
Verfügung ist nicht aufgehoben und durch die hier angefochtene ersetzt worden.

4.
Zu der im vorinstanzlichen Verfahren kontrovers diskutierten Interpretation der
Rechtsprechung von BGE 133 V 57 und der Tragweite der Regelung in Art. 17 Abs.
2 ATSG bleibt anzumerken, dass die Vorinstanz mit Recht argumentiert, dass auch
für Taggelder der Unfallversicherung ein Rechtskraftschutz gilt. IV-Taggelder
unterscheiden sich jedoch von UV-Taggeldern dadurch, dass ihre Leistungsdauer
im Voraus definiert ist und in der Regel der Dauer der verfügten
Eingliederungsmassnahme entspricht; es steht hier von Anfang an fest, wann die
Anspruchsvoraussetzungen (spätestens) dahinfallen. Nach der Verwaltungspraxis
(Kreisschreiben über die Taggelder der Invalidenversicherung [KSTI], gültig ab
1. Januar 2008, Rz. 3046) ist während der Eingliederung alle zwei Jahre von
Amtes wegen durch die Ausgleichskasse zu prüfen, ob sich das für die
Taggeldbemessung massgebende Einkommen geändert hat. Trifft dies zu, ist das
Taggeld für die Zukunft neu festzusetzen. Da somit einzig die Anpassung der
Taggeldhöhe Gegenstand der Überprüfung bildet (und den Bedeutungsgehalt der
hier umstrittenen Verfügung vom 27. Januar 2009 darstellt), ist ein
Zurückkommen auf die für die Dauer der Umschulung rechtskräftig festgelegte
Anzahl an Taggeld-Bezugstagen nicht möglich. Es verhält sich hier anders als
bei einer revisionsweisen Überprüfung einer Invalidenrente. Aufgrund konkreter,
zeitlich gerasteter Ausbildungspläne ist bei der Zusprechung beruflicher
Massnahmen der IV der Endpunkt der Umschulung bereits bestimmt. UV-Taggelder,
um welche es in BGE 133 V 57 geht, werden hingegen als nicht auf eine bestimmte
Dauer fixierte, vorübergehende Leistungen zugesprochen: Ist der Versicherte
infolge des Unfalles voll oder teilweise arbeitsunfähig, so hat er Anspruch auf
ein Taggeld. Der Anspruch entsteht am dritten Tag nach dem Unfalltag. Er
erlischt mit der Wiedererlangung der vollen Arbeitsfähigkeit, mit dem Beginn
einer Rente oder mit dem Tod des Versicherten (Art. 16 Abs. 1 und 2 UVG). Der
Eintritt dieser anspruchsrelevanten Tatsachen ist von Ereignissen abhängig,
deren Verwirklichung im Prinzip bei der Entstehung des Leistungsanspruches
zeitlich nicht festgelegt oder bestimmbar ist.

5.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdeführer die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 16. April 2010

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Schmutz