Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 772/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_772/2009

Urteil vom 12. Januar 2010
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Seiler, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber Fessler.

Parteien
GastroSocial Pensionskasse,
Bahnhofstrasse 86, 5001 Aarau,
Beschwerdeführerin,

gegen

B.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Andrea Cantieni,
Beschwerdegegnerin,

IV-Stelle des Kantons Graubünden,
Ottostrasse 24, 7000 Chur.

Gegenstand
Invalidenversicherung
(Invalidenrente, Arbeitsunfähigkeit),

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden
vom 3. Juli 2009.

Sachverhalt:

A.
Die 1967 geborene B.________ meldete sich im August 2004 bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons
Graubünden klärte die gesundheitlichen und erwerblichen Verhältnisse ab. U.a.
holte sie die Akten zum Unfall der Versicherten vom 29. Januar 1992 sowie das
multidisziplinäre Gutachten der Klinik X.________ vom 7. Juli 2008 ein. Nach
Durchführung des Vorbescheidverfahrens, an welchem auch die GastroSocial
Pensionskasse teilnahm und Einwände erhob, sprach die IV-Stelle mit Verfügung
vom 2. Februar 2009 B.________ aufgrund eines Invaliditätsgrades von 55 % ab 1.
April 2005 eine halbe Invalidenrente zu.

B.
Die Beschwerden von B.________ und der GastroSocial Pensionskasse wies das
Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden nach Vereinigung der Verfahren mit
Entscheid vom 3. Juli 2009 ab.

C.
Die GastroSocial Pensionskasse führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, Gerichtsentscheid und Rentenverfügung
seien aufzuheben, eine ergänzende Begutachtung, die ein genaues Profil einer
angepassten Tätigkeit beinhalte, sei durchzuführen und der Invaliditätsgrad neu
festzulegen.
B.________ und IV-Stelle beantragen die Abweisung der Beschwerde. Das kantonale
Gericht und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine
Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Die Vorinstanz hat durch Einkommensvergleich (Art. 16 ATSG in Verbindung mit
Art. 28a Abs. 1 IVG) einen Invaliditätsgrad von 55 % ermittelt, was Anspruch
auf eine halbe Rente gibt (Art. 28 Abs. 2 IVG). Das Invalideneinkommen hat sie
dem von der Versicherten seit ... 2006 erzielten Lohn als Mitarbeiterin im
Service und Verkauf eines Cafés gleichgesetzt. Dabei hat sie auf die
Einschätzung der Arbeitsfähigkeit im Gutachten der Klinik X.________ vom 7.
Juli 2008 ab-gestellt. Danach sind die jetzige und jede andere leichte
wechselbelastende Tätigkeit ohne Leistungseinschränkung während vier bis
viereinhalb Stunden täglich zumutbar.

2.
Übt die versicherte Person nach Eintritt der gesundheitlichen Beeinträchtigung
eine Erwerbstätigkeit aus, gilt grundsätzlich der damit erzielte Verdienst als
Invalideneinkommen, wenn besonders stabile Arbeitsverhältnisse gegeben sind,
weiter anzunehmen ist, dass sie die ihr verbliebene Arbeitsfähigkeit in
zumutbarer Weise voll ausschöpft, und wenn das Einkommen aus der
Arbeitsleistung als angemessen und nicht als Soziallohn erscheint (BGE 129 V
472 E. 4.2.1 S. 475 mit Hinweisen; Urteil I 953/06 vom 5. April 2007 E. 4.1.2).

3.
Die beschwerdeführende Vorsorgeeinrichtung rügt eine Verletzung des
Untersuchungsgrundsatzes durch die IV-Stelle und die Vorinstanz (Art. 43 Abs. 1
ATSG und Art. 61 lit. c ATSG) und damit eine Verletzung von Bundesrecht (Art.
95 lit. a BGG; Urteil 9C_958/2008 vom 24. April 2009 E. 1). Sie macht
sinngemäss geltend, die Annahme der Vorinstanz, die Versicherte schöpfe als
Mitarbeiterin im Service und Verkauf des Cafés P.________ die ihr verbliebene
Arbeitsfähigkeit in zumutbarer Weise voll aus, beruhe auf einer ungenügenden
Beweisgrundlage (Urteil 9C_575/2009 vom 6. November 2009 E. 3.1). Es sei nicht
abgeklärt worden, welche Einsatzfähigkeit in einer sitzenden (Büro-)Tätigkeit
bestehe. Das Gutachten der Klinik X.________ vom 7. Juli 2008 gebe zur
diesbezüglich aus medizinischer Sicht entscheidenden Frage nach der Art einer
angepassten Tätigkeit keine ausreichende Auskunft. Die Expertise sei in diesem
Punkt mangelhaft. Eine Verkäuferinnentätigkeit für eine Person mit
Fussproblemen sei offensichtlich nicht angepasst. Gemäss dem Austrittsbericht
der Rehaklinik Y.________ vom 1. September 2004 seien vorwiegend sitzende,
wechselbelastende leichte bis mittelschwere Tätigkeiten ganztags zumutbar. Es
sei nicht nachvollziehbar, weshalb die Einsatzfähigkeit sich seither halbiert
haben solle. Schliesslich wird eine Verletzung des Grundsatzes "Eingliederung
vor Rente" gerügt. Die IV-Stelle sei zur Berentung geschritten, ohne
Eingliederungsmassnahmen seriös zu prüfen oder gar durchzuführen.

4.
4.1 Die Vorinstanz hat begründet, weshalb dem Gutachten der Klinik X.________
Beweiswert zukommt (vgl. dazu BGE 125 V 351 E. 3a S. 352) und darauf abgestellt
werden kann. Dabei hat sie den Austrittsbericht der Rehaklinik Y.________ vom
1. September 2004 für die Beurteilung des jetzigen Gesundheitszustandes als
überholt bezeichnet. Der Bericht habe die verschiedenen später erfolgten
Operationen sowie die neu hinzugekommenen Beschwerden, wie beispielsweise das
Karpaltunnelsyndrom und die Rückenschmerzen nicht berücksichtigen können. Er
sei daher für die aktuelle Beurteilung der Arbeitsfähigkeit ausser Acht zu
lassen.
4.2
4.2.1 Nach dem Aufenthalt in der Rehaklinik Y.________ im Sommer 2004 wurde die
Versicherte am ... 2006 bei Verdacht auf eine Tendovaginitis stenosans an der
linken Hand operiert. Wegen eines Karpaltunnelsyndroms beidseits wurden sodann
am ... und ... 2007 eine Dekompression des Nervus medianus rechts und links
(vgl. die jeweiligen Operationsberichte des Spitals Z.________) durchgeführt.
Im Gutachten der Klinik X.________ vom 7. Juli 2008 wurde das
Karpaltunnelsyndrom beidseits, Zustand nach Dekompression des Nervus medianus
rechts und links und Entwicklung einer Sudeck'schen Dystrophie rechts mit
Remission unter den Diagnosen ohne Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit
aufgeführt. Damit stimmte überein, dass die im Rahmen der multidisziplinären
Abklärung durchgeführte Evaluation der arbeitsbezogenen funktionellen
Leistungsfähigkeit (EFL) in Bezug auf die Hände keine Auffälligkeiten gezeigt
hatte. Bei der Umschreibung der leidensangepassten Tätigkeiten wurde einzig
festgehalten, dass sich repetitive Tätigkeiten wie Montagetätigkeiten nicht
eigneten. Mit Bezug auf das Karpaltunnelsyndrom kann somit nicht von neu
hinzugekommenen Beschwerden gesprochen werden, welche sich in relevanter Weise
auf das funktionelle Leistungsvermögen auswirken und die Einschätzung der
Arbeitsfähigkeit im Austrittsbericht der Rehaklinik Y.________ vom 1. September
2004 als überholt darzutun vermögen. Die gegenteilige Auffassung der Vorinstanz
findet namentlich im Gutachten der Klinik X.________ vom 7. Juli 2008 keine
Stütze.
4.2.2 In der Expertise wurde bei den Diagnosen mit Auswirkung auf die
Arbeitsfähigkeit neben dem im Vordergrund stehenden chronischen Vorfussschmerz
rechts ein panvertebrales Schmerzsyndrom u.a. bei mittelgradigen degenerativen
Veränderungen der Lendenwirbelsäule (LWS) mit Instabilität im Bewegungssegment
L4/5 erwähnt. Die Gutachter bezeichneten die belastungsbezogenen Defizite der
LWS als sekundäre Folge des Fussleidens, welches eine eigentliche
Abrollbewegung nicht zuliess und bei längerem Stehen an Ort und beim Gehen zu
Schmerzen führte. Bei der Abklärung der funktionellen Leistungsfähigkeit waren
beim Sitzen keine Auffälligkeiten zu beobachten. Es zeigte sich eine gute
Rotation im Nacken sowie im oberen und unteren Rücken. Nach der Testung im
Sitzen klagte die Versicherte über etwas weniger Kreuzschmerzen als beim
Stehen. Im Bericht zur EFL vom 20. Mai 2008 wurde festgehalten, leichte
Arbeiten vorwiegend sitzend seien ganztags zumutbar. Einschränkend sollten
Hockestellungen und Stossen nur selten, längeres Stehen und Gehen, Stehen an
Ort, Knien und Stehen vorgeneigt nur manchmal während eines normalen
Arbeitstages vorkommen und nach Bedarf unterbrochen werden können. Diese
Umschreibung des Anforderungsprofils fand auch Eingang in die Beurteilung im
Gutachten. Die Frage, in welchem zeitlichen Rahmen den Störungen angepasste
Tätigkeiten zumutbar seien, beantworteten die Experten in dem Sinne, dass in
einer solchen Tätigkeit der Versicherten mindestens viereinhalb Stunden ohne
Einschränkung der Leistungsfähigkeit zugemutet werden können. Eine solche in
Bezug auf den zeitlichen Umfang einer erwerblichen Tätigkeit nach oben offene
Einschätzung ist in Anbetracht der Ergebnisse der EFL zu ungenau. Daraus kann
nicht willkürfrei geschlossen werden, eine vorwiegend sitzende Tätigkeit sei
lediglich vier bis viereinhalb Stunden täglich zumutbar (E. 1).
4.2.3 Schliesslich sind gesundheitliche Beeinträchtigungen der Füsse in der
Regel für gehende und stehende Tätigkeiten wie die aktuell ausgeübte im Service
und Verkauf eines Cafés in der Regel hinderlicher als bei einer vorwiegend
sitzenden Arbeit. Dies trifft auch vorliegend zu. Gemäss dem EFL-Bericht vom
20. Mai 2008 kam es beim Stehen an Ort mit Dauer der Testung zu einer
deutlichen Entlastung des linken Fusses. Die Versicherte wechselte öfters die
Stehposition, stellte das rechte Bein auf eine Stufe oder stützte sich auf dem
Stehpult ab. Sie gab eine Schmerzzunahme im rechten Fuss an. Beim Stehen und
Gehen wurde am zweiten Tag beobachtet, dass die Versicherte viel unruhiger
wirkte, vermehrt die Position wechselte, sich an die Wand lehnte oder sich
hinsetzte. Dabei gab sie müde Beine und Schmerzen im rechten Fuss an.

4.3 Es bestehen somit gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass es (vorwiegend
sitzende) Tätigkeiten gibt, in welchen die Beschwerdegegnerin ihre verbliebene
Arbeitsfähigkeit in zeitlich grösserem Umfang ausüben und einkommensmässig
besser verwerten kann als an der aktuellen Stelle. Inwiefern es hiezu vorgängig
einer Umschulung bedarf, braucht hier nicht entschieden zu werden. Das
Invalideneinkommen kann jedenfalls nicht ohne weiteres dem seit ... 2006
erzielten Lohn gleichgesetzt werden (vgl. E. 1). Die IV-Stelle wird ergänzende
Abklärungen zur Arbeitsfähigkeit und zu den zumutbaren Verweisungstätigkeiten
vornehmen und danach über allenfalls berufliche Eingliederungsmassnahmen oder/
und den streitigen Rentenanspruch neu verfügen.
Der vorinstanzliche Entscheid beruht auf einem unvollständig abgeklärten
Sachverhalt und verletzt daher Bundesrecht. Die Beschwerde ist begründet.

5.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten der
Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die obsiegende
Vorsorgeeinrichtung hat keinen Anspruch auf Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 3
BGG; Urteil 9C_950/2008 vom 18. März 2009 E. 3).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Graubünden als Versicherungsgericht vom 3. Juli 2009 und die Verfügung
der IV-Stelle des Kantons Graubünden vom 2. Februar 2009 werden aufgehoben. Die
Sache wird an die Verwaltung zurückgewiesen, damit sie, nach Abklärungen im
Sinne der Erwägungen, über den Anspruch der Beschwerdegegnerin auf allenfalls
berufliche Eingliederungsmassnahmen und eine Rente der Invalidenversicherung
neu verfüge.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden
als Versicherungsgericht, der GastroSocial Ausgleichskasse und dem Bundesamt
für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 12. Januar 2010
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Fessler