Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 68/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_68/2009

Urteil vom 9. Dezember 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Seiler, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiberin Keel Baumann.

Parteien
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,

gegen

A.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Hannelore Fuchs,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 7. Januar 2009.

Sachverhalt:

A.
A.________ (geb. 1952) bezieht seit 1. Juli 1987 eine Rente der
Invalidenversicherung in unterschiedlicher Höhe. Mit Verfügung vom 28. Juni
2007 teilte ihr die IV-Stelle des Kantons St. Gallen mit, dass sie weiterhin
Anspruch auf eine halbe Invalidenrente (Invaliditätsgrad: 55 %) habe.

B.
Die von A.________ hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht
des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 7. Januar 2009 gut, hob die
Verwaltungsverfügung auf und sprach der Versicherten eine Dreiviertelsrente mit
Wirkung ab 1. Juli 2005 zu.

C.
Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der kantonale Entscheid sei aufzuheben.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann
wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG erhoben werden. Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung
der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig
ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105
Abs. 2 BGG).

2.
Die Vorinstanz hat den Invaliditätsgrad anhand der Einkommensvergleichsmethode
(Art. 16 ATSG in Verbindung mit Art. 28 Abs. 1 IVG in der bis 31. Dezember 2007
gültig gewesenen Fassung) ermittelt. Dabei hat sie den beiden
Vergleichseinkommen statistische Werte zugrunde gelegt und beim
Invalideneinkommen einen Abzug vom Tabellenlohn in der Höhe von 15 %
vorgenommen. Allein letzterer wird in der Beschwerde beanstandet.

3.
3.1 Im angefochtenen Entscheid wird zutreffend dargelegt, dass bei Ermittlung
des Invalideneinkommens auf der Grundlage von statistischen Durchschnittswerten
der entsprechende Ausgangswert (Tabellenlohn) allenfalls um bis zu 25 % (BGE
126 V 75 E. 5b/bb-cc S. 80; Urteil 9C_469/2008 vom 18. August 2008 E. 5.1) zu
kürzen ist, um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass persönliche und berufliche
Merkmale wie Art und Ausmass der Behinderung, Lebensalter, Dienstjahre,
Nationalität oder Aufenthaltskategorie und Beschäftigungsgrad Auswirkungen auf
die Lohnhöhe haben können (BGE 124 V 321 E. 3b/aa S. 323) und je nach
Ausprägung die versicherte Person deswegen die verbliebene Arbeitsfähigkeit
auch auf einem ausgeglichenen Arbeitsmarkt nur mit unterdurchschnittlichem
erwerblichem Erfolg verwerten kann (BGE 126 V 75 E. 5b/aa in fine S. 80).
Darauf wird verwiesen.

Die Frage, ob ein (behinderungsbedingt oder anderweitig begründeter)
Leidensabzug vorzunehmen ist, stellt eine Rechtsfrage dar, während es sich bei
jener nach der Höhe des Abzuges um eine typische Ermessensfrage handelt, deren
Beantwortung letztinstanzlicher Korrektur nur mehr dort zugänglich ist, wo das
kantonale Gericht das Ermessen rechtsfehlerhaft ausgeübt hat, also
Ermessensüberschreitung, -missbrauch oder -unterschreitung vorliegt (BGE 132 V
393 E. 3.3 S. 399).

3.2 Die Vorinstanz hat zur Frage eines Abzuges vom Tabellenlohn erwogen, dass
weder die körperlichen Einschränkungen - der Versicherten seien nicht nur
leichte, sondern auch mittelschwere Tätigkeiten zumutbar - noch der
Beschäftigungsgrad einen Abzug rechtfertigen würden. Ins Gewicht falle aber,
dass die Versicherte gegenüber einer gesunden Konkurrentin für einen bestimmten
Arbeitsplatz ein deutlich höheres Krankheitsrisiko habe, was ihren "Wert" für
einen ökonomisch denkenden Arbeitgeber senke. Um dies zu kompensieren und
konkurrenzfähig zu bleiben, müsse sie mit einem entsprechend tieferen Lohn
rechnen. Zudem sei zu berücksichtigen, dass die Versicherte überwiegend
aufgrund ihres psychischen Leidens in der Arbeitsfähigkeit eingeschränkt sei.
So ergebe sich allein aus psychiatrischer Sicht eine Arbeitsunfähigkeit von 50
%, wobei davon auszugehen sei, dass diese sich nicht nur quantitativ am
Arbeitsplatz auswirke, sondern auch Einfluss auf die betrieblichen
Einsatzmöglichkeiten und die auch bei Hilfsarbeitern von potentiellen
Arbeitgebern geforderte Flexibilität und mithin auch auf die Höhe des Lohnes
habe, um im Wettbewerb mit körperlich und psychisch gesunden
Teilzeitbeschäftigten konkurrenzfähig zu bleiben. Insgesamt trage ein Abzug von
15 % vom Tabellenlohn den genannten Umständen angemessen Rechnung.

3.3 Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin findet die vorinstanzliche
Feststellung, wonach die Versicherte aufgrund ihrer gesundheitlichen
Beeinträchtigungen Konkurrenznachteile in Kauf zu nehmen hat, namentlich
aufgrund ihres höheren Krankheitsrisikos sowie ihrer Einschränkung bezüglich
Flexibilität und Einsatzmöglichkeit, in den Akten sehr wohl eine Stütze. Dass
die Versicherte sowohl aus rheumatologischer als auch aus psychiatrischer Sicht
in ihrer Arbeitsfähigkeit eingeschränkt ist (Gutachten der Medizinischen
Abklärungsstelle [MEDAS] X.________ vom 22. November 2006), kann dazu führen,
dass sie sich mit einem geringeren Lohn begnügen muss als voll leistungsfähige
Arbeitnehmerinnen (Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 64/03 vom 18.
November 2003 E. 5.2.2). Im psychiatrischen Konsilium zum MEDAS-Gutachten wird
der Verlauf ihres Gesundheitszustandes zudem seit 1994 als "chronisch
fluktuierend mit allmählicher Verschlechterung" und die Prognose als "eher
düster" bezeichnet. Des Weitern lässt sich dem Gutachten entnehmen, dass die
Arbeitsfähigkeitsschätzung von der Stabilität der jetzigen
Arbeitsplatzsituation - die Versicherte arbeitet bei Vollbetrieb bis zwei Mal
zwei Stunden pro Tag als sogenannte Pausenablöse am Fliessband bei der Firma
Y.________ - abhängt und angestrebt werden sollte, die jetzige Situation
möglichst so beizubehalten, was die Vorinstanz richtigerweise ebenso als
lohnmässig relevante Erschwernis für die erwerbliche Verwertung der
verbliebenen Arbeitskraft anerkannt hat (vgl. Urteil 9C_603/2007 vom 8. Januar
2008 E. 4.2.3; vgl. auch Urteil 8C_778/2007 vom 29. Mai 2008 E. 5.2.3). Bei
dieser Sachlage kann der Vorinstanz nicht vorgeworfen werden, den Sachverhalt
offensichtlich unrichtig festgestellt zu haben und mit der Vornahme des Abzuges
Bundesrecht verletzt zu haben. Zu Recht wird nicht vorgebracht, die Höhe des
Abzugs (15 %) stelle eine rechtsfehlerhafte Ermessensausübung dar.

3.4 Dass die Bemessung des Invaliditätsgrades anderweitig nicht korrekt sein
sollte, wird weder geltend gemacht noch ergeben sich entsprechende
Anhaltspunkte aus den Akten. Die Zusprechung einer Dreiviertelsrente aufgrund
eines ermittelten Invaliditätsgrades von 62 % ist daher nicht zu beanstanden.

4.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen, der Ausgleichskasse ALBICOLAC und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 9. Dezember 2009

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Meyer Keel Baumann