Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 683/2009
Zurück zum Index II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2009
Retour à l'indice II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2009


Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_683/2009

Urteil vom 16. September 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Gerichtsschreiber Traub.

Parteien
IV-Stelle des Kantons Solothurn,
Allmendweg 6, 4528 Zuchwil,
Beschwerdeführerin,

gegen

C.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Rémy Wyssmann,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn
vom 15. Juli 2009.

Sachverhalt:
Die IV-Stelle des Kantons Solothurn lehnte ein Leistungsgesuch des C.________
insofern ab, als bei einem Invaliditätsgrad von 38 Prozent kein Anspruch auf
eine Invalidenrente bestehe (Verfügung vom 18. September 2008).

Gegen diese Verfügung führte C.________ Beschwerde beim Versicherungsgericht
des Kantons Solothurn mit den Rechtsbegehren, die Sache sei, nach Aufhebung der
angefochtenen Verfügung, zur neuen medizinischen Abklärung an die Verwaltung
zurückzuweisen; eventuell seien ihm "die gesetzlichen Leistungen nach Massgabe
einer Erwerbsunfähigkeit von mindestens 40 % zzgl. einem Verzugszins von 5 % ab
wann rechtens auszurichten". Die IV-Stelle beantragte in ihrer
Beschwerdeantwort, das Rechtsmittel sei gutzuheissen und es sei dem
Versicherten mit Wirkung ab Januar 2006 eine halbe Invalidenrente zuzusprechen.
Der Versicherte schloss daraufhin seinerseits auf die Zusprechung "gesetzlicher
Leistungen nach Massgabe einer Erwerbsunfähigkeit von mindestens 50 % (...) ab
wann rechtens, spätestens jedoch seit 1.1.2006" (Replik vom 22. Januar 2009).
Das kantonale Gericht hiess die Beschwerde teilweise gut, soweit darauf
einzutreten war, hob die angefochtene Verfügung auf und sprach dem Versicherten
mit Wirkung ab Januar 2006 eine halbe Invalidenrente zu (Entscheid vom 15. Juli
2009).

Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit
dem Rechtsbegehren, Ziffer 1 des kantonalen Beschwerdeentscheids (Zusprechung
einer halben Invalidenrente mit Wirkung ab Januar 2006) sei aufzuheben; dem
Versicherten sei eine halbe Invalidenrente mit Wirkung erst ab Januar 2007
zuzusprechen. Der letztinstanzlichen Beschwerde sei die aufschiebende Wirkung
zuzuerkennen.

Erwägungen:

1.
Die beschwerdeführende Verwaltung ersucht darum, dem Rechtsmittel sei für die
Dauer des bundesgerichtlichen Verfahrens die aufschiebende Wirkung zu erteilen
(Art. 103 Abs. 1 und 3 BGG). Dieses Gesuch wird mit dem Entscheid in der Sache
gegenstandslos.

2.
2.1 Die Beschwerdeführerin macht geltend, die Vorinstanz habe den Zeitpunkt des
Rentenbeginns unter Missachtung der tatsächlichen und rechtlichen Gegebenheiten
festgesetzt. Sie habe zwar im kantonalen Beschwerdeverfahren die Zusprechung
einer halben Invalidenrente ab Januar 2006 beantragt, weil sie anlässlich der
Verfügung vom 18. September 2008 im Zusammenhang mit der Bemessung des
Invalideneinkommens eine falsche Tabellenposition der Schweizerischen
Lohnstrukturerhebung (Anforderungsniveau 3 statt 4) gewählt habe; den
begleitenden Ausführungen in der Beschwerdeantwort sei jedoch zu entnehmen,
dass ein Rentenbeginn nicht vor Januar 2007 in Betracht falle. Der
anderslautende Antrag beruhe auf einem offensichtlichen Versehen. Die
Vorinstanz habe mit der unbesehenen Übernahme des Antrages der IV-Stelle
Bundesrecht (Art. 29 Abs. 1 lit. b und Art. 48 Abs. 2 IVG, je in der bis Ende
2007 gültigen Fassung) verletzt.

2.2 Nach Art. 112 Abs. 1 lit. b BGG müssen beim Bundesgericht anfechtbare
Entscheide die massgebenden Gründe tatsächlicher und rechtlicher Art enthalten
und insbesondere die angewendeten Gesetzesbestimmungen angeben.
2.2.1 Der angefochtene kantonale Entscheid enthält weder Ausführungen über
Bestand und Ausmass des Rentenanspruchs an sich noch über den Leistungsbeginn.
Die Vorinstanz ist offenbar davon ausgegangen, eine materielle Prüfung des
Rentenanspruchs und entsprechende Begründung des Sachentscheids erübrige sich
mit Blick auf übereinstimmende Parteibegehren.
2.2.2 Zunächst besteht insoweit keine abschliessende Übereinstimmung der
Parteistandpunkte, als der Versicherte replikando die Ausrichtung der
"gesetzlichen Leistungen nach Massgabe einer Erwerbsunfähigkeit von mindestens
50 % zzgl. Verzugszins zu 5 % ab wann rechtens, spätestens jedoch seit 1.
Januar 2006" beantragen liess. Dies lässt auch eine andere Beurteilung des
Leistungsverhältnisses zu als diejenige, welche die Verwaltung im Verlauf des
vorinstanzlichen Verfahrens als die richtige anerkannt hat (halbe
Invalidenrente ab Januar 2007, laut Rechtsbegehren ab Januar 2006). Unter
diesen Umständen ist fehlende Divergenz der Parteibegehren nicht gleichzusetzen
mit positiver Übereinstimmung.

2.2.3 Der Devolutiveffekt der Beschwerde (Übergang der Zuständigkeit zum
Entscheid an die Rechtsmittelinstanz; BGE 130 V 138 E. 4.2 S. 142) entfällt nur
insoweit, als eine neue Verfügung dem Begehren des Beschwerdeführers entspricht
und den Rechtsstreit beendet (vgl. BGE 127 V 228 E. 2b/bb S. 232; 113 V 237).
Eine gerichtliche Instanz ist von ihrer Prüfungs- und Begründungspflicht somit
grundsätzlich erst dann befreit (und kann das Verfahren zufolge
Gegenstandslosigkeit abschreiben), wenn die Verwaltung - anstatt, wie hier,
eine Gutheissung der Beschwerde zu beantragen - gestützt auf kantonales Recht
(Art. 61 Ingress ATSG) und analog zu Art. 58 Abs. 1 VwVG (BGE 103 V 107) eine
neue Verfügung mit entsprechendem Inhalt lite pendente erlässt. Dazu ist es
indessen nicht gekommen. Im Rahmen des daher zutreffenden Sachentscheids durfte
das kantonale Gericht, welches das Recht von Amtes wegen anwendet und an die
Parteibegehren nicht gebunden ist (Art. 61 lit. d ATSG), nicht darauf
verzichten, die tatsächlichen und rechtlichen Anspruchsvoraussetzungen zu
prüfen und das entsprechende Ergebnis zumindest summarisch festzuhalten.

3.
3.1 Fehlen die massgebenden Gründe tatsächlicher und rechtlicher Art im Sinne
von Art. 112 Abs. 1 lit. b BGG, so kann der vorinstanzliche Entscheid
aufgehoben werden (Art. 112 Abs. 3 BGG; Urteile 1B_61/2008 vom 3. April 2008 E.
2.2, 9C_423/2007 vom 29. August 2007 und 9C_306/2007 vom 22. Juni 2007). Hier
ist so zu verfahren. Das kantonale Gericht wird in einem neuen Entscheid vor
allem bezüglich der mit letztinstanzlicher Beschwerde namhaft gemachten Fragen
den massgebenden Sachverhalt sowie die rechtlichen Schlussfolgerungen
darzulegen haben.

3.2 Die Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids nach Art. 112 Abs. 3 BGG ist
mit einem Nichteintretensentscheid vergleichbar; daher wird das
einzelrichterliche Verfahren analog nach Art. 108 BGG ohne Schriftenwechsel
durchgeführt (Urteil 9C_423/2007).

4.
Dieser Ausgang des Verfahrens bedeutet für keine der Parteien ein Obsiegen oder
Unterliegen. Die Kosten könnten daher höchstens der Vorinstanz auferlegt werden
(Urteil 9C_423/2007 mit Hinweis), wovon aber abgesehen wird (Art. 66 Abs. 1
BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn vom 15. Juli 2009
wird aufgehoben und die Sache zu neuem Entscheid im Sinne der Erwägungen an die
Vorinstanz zurückgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Solothurn
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 16. September 2009

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Traub