Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 661/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_661/2009

Urteil vom 29. September 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Leuzinger,
Gerichtsschreiber Scartazzini.

Parteien
P.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dieter Studer,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich,
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich
vom 28. Mai 2009.

Sachverhalt:
Die 1967 geborene P.________ arbeitete seit 2003 als Lehrerin, seit dem 16.
August 2005 bei einem Pensum von 64 %. Ab 7. Oktober 2005 wurde sie wegen eines
zunehmenden Erschöpfungssyndroms zu 100 % krank geschrieben. Am 21. Juni 2006
meldete sie sich deshalb und wegen starken Angstzuständen, Angst vor sozialen
Kontakten und Gruppen, dem Gefühl, den Alltag nicht mehr zu meistern, absoluter
Kraftlosigkeit, starken Schmerzen im Unterrücken und Bauch und dauernder
lähmender Müdigkeit bei der Invalidenversicherung an. Die IV-Stelle des Kantons
Zürich holte erwerbliche und medizinische Berichte ein und gab bei Frau Dr.
med. W.________, Fachärztin für Neurologie FMH sowie für Psychiatrie und
Psychotherapie FMH, ein psychiatrisches Gutachten in Auftrag, welches am 4.
November 2007 erstattet wurde. Mit Vorbescheid vom 3. Dezember 2007 stellte die
IV-Stelle die Abweisung des Leistungsbegehrens in Aussicht und hielt daran mit
Verfügung vom 27. Februar 2008 fest. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich wies die dagegen erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 28. Mai 2009 ab.
P.________ führt Beschwerde an das Bundesgericht mit dem Antrag auf Ausrichtung
der gesetzlichen Leistungen; eventualiter sei die Sache zur weiteren Abklärung
und anschliessenden Neuverfügung an die Verwaltung zurückzuweisen.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzung gemäss den Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes
wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder
auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2
BGG; vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG). Mit Blick auf diese Kognitionsregelung ist
aufgrund der Vorbringen in der Beschwerde ans Bundesgericht zu prüfen, ob der
angefochtene Gerichtsentscheid in der Anwendung der massgeblichen materiell-
und beweisrechtlichen Grundlagen (u.a.) Bundesrecht verletzt (Art. 95 lit. a
BGG), einschliesslich einer allfälligen rechtsfehlerhaften
Tatsachenfeststellung (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.
Die Vorinstanz hat die gesetzlichen Bestimmungen und von der Rechtsprechung
entwickelten Grundsätze, namentlich diejenigen über die Begriffe der
Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 Abs. 1 und 2 ATSG) und der Invalidität (Art. 8 Abs.
1 ATSG in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 IVG), über die Bemessung des
Invaliditätsgrades und den Umfang des Rentenanspruchs sowie zum Beweiswert und
zur Beweiswürdigung ärztlicher Berichte und Gutachten (BGE 125 V 351 E. 3a S.
352 mit Hinweis), richtig dargelegt. Hierauf wird verwiesen.
Hervorzuheben ist, dass ein psychischer Gesundheitsschaden nur soweit zu einer
Erwerbsunfähigkeit führt, als angenommen werden kann, die Verwertung der
Arbeitsfähigkeit (Art. 6 ATSG) sei der versicherten Person sozial-praktisch
nicht mehr zumutbar (BGE 131 V 49 E. 1.2 S. 50 mit Hinweisen). Dabei ist zu
beachten, dass das klinische Beschwerdebild nicht einzig in Beeinträchtigungen,
welche von den belastenden sozio-kulturellen Faktoren herrühren, bestehen darf,
sondern davon psychiatrisch zu unterscheidende Befunde zu umfassen hat. So ist
eine andauernde Depression im fachmedizinischen Sinne oder ein damit
vergleichbarer psychischer Leidenszustand von sozio-kulturellen
Belastungssituationen zu unterscheiden, wobei verselbständigte psychische
Störungen mit Auswirkungen auf die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit unabdingbar
sind, damit überhaupt von Invalidität gesprochen werden kann (BGE 127 V 294 E.
5a S. 299).

3.
3.1 Des Weitern hat das kantonale Gericht - wobei es die hievor (E. 1)
angeführte Kognitionsregelung zu beachten gilt - insbesondere gestützt auf das
psychiatrische Gutachten vom 4. November 2007, in welchem Frau Dr. med.
W.________ hauptsächlich eine Neurasthenie diagnostiziert hat, zutreffend
erkannt, dass bei der Beschwerdeführerin keine invalidenversicherungsrechtlich
relevante Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit im angestammten Beruf als
Lehrerin und somit keine invaliditätsbedingte Erwerbseinbusse nachweisbar sind.
Von einer offensichtlich unrichtigen (oder unvollständigen) vorinstanzlichen
Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts kann jedenfalls keine Rede
sein. Soweit die Beschwerdeführerin geltend macht, es sei auf die
Arbeitsunfähigkeitsschätzungen ihrer behandelnden Ärzte Dr. med. L.________ und
Dr. med. I.________ (Bericht vom 11. Juli 2006) sowie auf den Bericht von PD
Dr. med. S.________ (vom 29. November 2006) abzustellen, wonach bei
Vorhandensein einer schweren depressiven Episode, Neurasthenie,
posttraumatischer Belastungsstörung, Sozialphobie, Eisenmangel und
Lumbovertebralsyndrom sich eine Arbeitsunfähigkeit von 100 % ergebe, übersieht
sie, dass die Beweiswürdigung des kantonalen Gerichts als solche
(einschliesslich der antizipierten Schlussfolgerung, wonach keine weiteren
medizinischen Abklärungen erforderlich seien) Fragen tatsächlicher Natur
beschlägt und daher für das Bundesgericht verbindlich ist (E. 1 hievor). Nach
dem Gesagten bleibt auch für die letztinstanzlich mit Eventualbegehren
verlangte und mit der Rüge einer Verletzung der Untersuchungspflicht (Art. 43
Abs. 1 und Art. 61 lit. c ATSG) und somit eines Verstosses gegen Bundesrecht
begründeten Rückweisung an die IV-Stelle kein Raum.

3.2 Die in der Beschwerde an sich zu Recht aufgezeigten gegensätzlichen
Einschätzungen der mit der Beschwerdeführerin befassten Ärzte entsprechen den
Akten, können als solche nicht widerlegt werden und rechtfertigen zusätzlich
das Folgende. Die Streitsache zeigt exemplarisch auf, dass - behandelnde und
begutachtende - Psychiater, mit der gleichen Person als Patientin oder
Explorandin in verschiedenen Zeitpunkten und Situationen konfrontiert, zu ganz
unterschiedlichen Beurteilungen der psychischen Beeinträchtigungen und -
invalidenversicherungsrechtlich entscheidend - deren Schweregrades mitsamt den
sich daraus ergebenden Einschränkungen der Arbeitsfähigkeit gelangen können.
Diese in der Natur der Sache begründete weitgehend fehlende Validierbarkeit
("Reliabilität") psychiatrischer Diagnosen, namentlich im depressiven
Formenkreis sowie bei den neurotischen, Belastungs- und somatoformen Störungen
gemäss ICD-10, kann nicht automatisch zu Beweisweiterungen bei sich
widersprechenden psychiatrischen Berichten und Expertisen führen. Das Besondere
des Falles liegt darin, dass das zuhanden der Beschwerdegegnerin erstattete
Administrativgutachten der Frau Dr. med. W.________ vom 4. November 2007 mit
der vertrauensärztlichen Begutachtung des PD Dr. med. S.________ an die
Beamtenversicherungskasse, wo die Beschwerdeführerin vorsorgeversichert war, im
Widerspruch steht. Man kann sich fragen, warum das kantonale Gericht, das - als
einzige gerichtliche Instanz mit der Kompetenz zur freien Tatsachenkontrolle
ausgestattet (Art. 61 lit. c ATSG) - von Gesetzes wegen zu einer umfassenden,
objektiven und kritischen Überprüfung der rechtserheblichen Beweisgrundlagen
verpflichtet ist, hier nicht ein Obergutachten angeordnet hat. Eine solche
drängt sich auf, wenn zu diametral entgegengesetzten Schlüssen kommende
psychiatrische Expertisen vorliegen, deren Divergenzen das angerufene Gericht
mangels eigenen Fachwissens im Rahmen freier Beweiswürdigung nicht auflösen
kann. So verhält es sich indessen im Falle der Beschwerdeführerin nicht. Denn
einerseits ist das Gutachten des PD Dr. med. S.________ insofern nicht
beweiskräftig, als der Experte schon bei der Ausgangssituation von einer "seit
5.10.2005" bestehenden vollen Arbeitsunfähigkeit ausgeht und die durch den
behandelnden Psychiater Dr. med. L.________ attestierte Arbeitsunfähigkeit als
gegeben voraussetzt, womit das Ergebnis der Expertise in unzulässiger Weise
vorausgenommen und der entscheidende Unterschied zur ärztlichen Krankschreibung
(in der Expertise S. 4 oben erwähnt) unreflektiert bleibt, was den Beweiswert
des Gutachtens zerstört. Andererseits enthält die vertrauensärztliche Expertise
an die Pensionskasse eindeutig zu wenig eigene Feststellungen über
psychopathologische Befunde, welche die von PD Dr. med. S.________ abgegebene
Stellungnahme "in jeglicher beruflicher Tätigkeit auf Dauer zu 100 %
arbeitsunfähig" zu stützen vermöchten, was auch deswegen nicht überzeugt, weil
die von ihm anamnestisch erhobenen belastenden Ereignisse ab 1994 und in deren
Gefolge "eine langdauernde psychische Krise mit Zeichen von Erschöpfung"
(Expertise S. 3) die Beschwerdeführerin während vielen Jahren nicht daran
hinderten, ihren Beruf auszuüben und das "Bedürfnis zur Therapie" (bei Dr. med.
L.________) "aus dem Wunsch, ihre persönlichen Beziehungen besser zu
verstehen", kam. Insgesamt kann dem kantonalen Gericht, wie gesagt, keine
Bundesrechtswidrigkeit vorgeworfen werden, wenn es bei der gegebenen Aktenlage
einen invalidisierenden Gesundheitsschaden im Sinne der Rechtsprechung (BGE 127
V 294 E. 5a S. 299) verneinte.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 29. September 2009
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Scartazzini