Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 649/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_649/2009

Urteil vom 26. März 2010
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Seiler, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber R. Widmer.

Verfahrensbeteiligte
S.________,
vertreten durch Fürsprecher Josef Mock Bosshard,
Beschwerdeführerin,

gegen

Helsana Versicherungen AG, Versicherungsrecht, Zürichstrasse 130, 8600
Dübendorf,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Krankenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 3.
Juni 2009.

Sachverhalt:

A.
Die 1979 geborene S.________ ist bei der Helsana Versicherungen AG für die
obligatorische Krankenpflege versichert. Sie leidet an verschiedenen
Augenkrankheiten (Aniridie, Nystagmus und Sekundärglaukom). Für deren
Behandlung erbrachte die Helsana Leistungen. Gestützt auf eine Prüfung der
Medikamentenbezüge des Jahres 2007 teilte die Helsana S.________ mit Schreiben
vom 6. März 2008 mit, sie werde sich ab 1. April 2008 nur noch mit einem
Höchstbetrag pro Monat an den Medikamentenkosten beteiligen. Im gleichen Sinn
verfügte die Helsana am 1. April 2008. Überdies stelle sie fest, dass ab 1.
Juni 2008 für das Medizinprodukt Fermavisc keine Vergütung mehr erfolge; es sei
auf keiner der massgebenden Listen aufgeführt und stelle daher keine
Pflichtleistung dar. Auf Einsprache hin hielt die Helsana mit Entscheid vom 29.
April 2008 an ihrem Standpunkt fest.

B.
S.________ führte Beschwerde mit dem Antrag, unter Aufhebung des
Einspracheentscheides sei die Helsana zu verpflichten, ihr die vollen
Leistungen zur Behandlung ihres Augenleidens zu vergüten. Das
Verwaltungsgericht des Kantons Bern wies die Beschwerde mit Entscheid vom 3.
Juni 2009 ab.

C.
S.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit den Rechtsbegehren, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides seien
ihr die gesetzlichen Leistungen zuzusprechen, insbesondere sämtliche
ausgewiesenen Heilungskosten; des Weiteren sei ein interdisziplinäres
medizinisches Gutachten zu veranlassen. In einer nachträglichen Eingabe ersucht
die Versicherte um die Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege.
Die Helsana schliesst auf Abweisung der Beschwerde, während das Bundesamt für
Gesundheit auf eine Vernehmlassung verzichtet.
Erwägungen:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung
des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann
(Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann
die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.
Wie die Vorinstanz zutreffend festgehalten hat, setzt Art. 32 Abs. 1 Satz 1 KVG
für die Übernahme der Kosten bei sämtlichen der im Rahmen der obligatorischen
Krankenpflegeversicherung zu erbringenden Leistungen (Art. 25-31 KVG) voraus,
dass diese wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sind. Das kantonale Gericht
hat ferner die gesetzlichen Bestimmungen über die vom Bundesamt für Gesundheit
erstellte Spezialitätenliste (SL) dargelegt und unter Hinweis auf die
Rechtsprechung festgestellt, dass die Krankenversicherer die Kosten der in der
SL aufgeführten Arzneimittel zu übernehmen haben, wenn, soweit und solange sie
eine wirksame, zweckmässige und wirtschaftliche Leistung im Sinne von Art. 32
Abs. 1 KVG darstellen. Richtig wiedergegeben hat das Verwaltungsgericht auch
die Rechtsprechung, laut welcher ausnahmsweise die Kosten für ein Arzneimittel
auch zu übernehmen sind, wenn es für eine Indikation, Dosierung, Applikation,
usw. abgegeben wird, für welche es keine Zulassung besitzt (sog. off-label-use;
BGE 131 V 349 E. 2.3 S. 351, 130 V 532 E. 6 S. 544; SVR 2009 KV Nr. 1 S. 1).
Darauf wird verwiesen.

3.
3.1 Mit Bezug auf die Vergütung des nicht auf der SL figurierenden Medikaments
Fermavisc stellte die Vorinstanz in Würdigung der zahlreichen fachärztlichen
Berichte fest, nur zwei der Ärzte hätten Fermavisc als zur Behandlung unbedingt
erforderlich gehalten; von mehreren anderen Augenärzten sei namentlich das
kassenpflichtige Medikament Lacrycon als adäquate Behandlungsalternative
bezeichnet worden. Unter diesen Umständen, namentlich aufgrund der gegebenen
alternativen Behandlungsmöglichkeit, bestehe kein Anlass, die Leistungspflicht
der Helsana unter dem Gesichtswinkel des sogenannten off-label-use oder des
sogenannten "orphan-use" (Vorliegen einer Krankheit, die so selten ist, dass
sich für den Hersteller des Heilmittels das Zulassungsverfahren nicht lohnt;
vgl. dazu Urteil 9C_305/2008 vom 5. November 2008) zu prüfen. Die Weigerung der
Beschwerdegegnerin, das ausserhalb des Leistungskataloges der obligatorischen
Krankenversicherung liegende Medikament Fermavisc weiterhin zu übernehmen, sei
daher rechtmässig.

3.2 Die Beschwerdeführerin rügt im Wesentlichen die Beweiswürdigung der
Vorinstanz, indem sie sehr einlässlich die Stellungnahmen der beteiligten Ärzte
zitiert und daraus abweichende Schlüsse zieht, die ihrer Ansicht nach die
weitere Übernahme von Fermavisc durch die Helsana gebieten. Dass das kantonale
Gericht den rechtserheblichen Sachverhalt offensichtlich unrichtig oder auf
einer Bundesrechtsverletzung basierend festgestellt habe (E. 1 hievor), macht
sie zu Recht nicht geltend. Die appellatorische Kritik an den vorinstanzlichen
Sachverhaltsfeststellungen ist im Rahmen der geltenden Überprüfungsbefugnis des
Bundesgerichts indessen nicht zulässig. Ebenso wenig macht die Versicherte
geltend oder ist ersichtlich, inwiefern das Verwaltungsgericht mit der
Verneinung des Anspruchs auf Übernahme eines nicht auf der SL figurierenden
Heilmittels angesichts der äusserst restriktiven Voraussetzungen für die
Vergütung solcher Präparate Bundesrecht verletzt haben soll.

4.
4.1 Des Weiteren hat die Vorinstanz gestützt auf die Grundsätze der
Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit im Sinne von Art. 32 Abs. 1
und 56 KVG bestätigt, dass die Helsana befugt ist, ihre Leistungspflicht für
Medikamente auf einen bestimmten Betrag im Monat zu beschränken. Dabei hat sie
sich auf die Angaben mehrerer Fachärzte (Prof. G.________, Frau Dr. med.
M.________ und Frau Prof. F.________) gestützt, welche einen überbordenden
Konsum von Medikamenten in Tropfen- und Tablettenform bescheinigten.

4.2 Die Beschwerdeführerin wirft der Vorinstanz eine Verletzung des rechtlichen
Gehörs vor, indem diese sich auf Äusserungen der Neurologin Frau Dr. med.
M.________ aus dem Verfahren der Invalidenversicherung stütze, ohne den
entsprechenden Bericht in die vorliegenden Verfahrensakten zu integrieren.
Dadurch sei es der Versicherten nicht möglich gewesen, zu diesem Schreiben
Stellung zu nehmen.

4.3 Diese Rüge ist unbegründet. Tatsächlich hat die Vorinstanz u. a. den
Bericht der Frau Dr. med. M.________ vom 10. Mai 2007 beigezogen, als
Aktenstücke 24 und 25 zu den Akten genommen und mit prozessleitender Verfügung
vom 11. Juni 2008 den Parteien eröffnet. Die weiteren Vorbringen geben keinen
Anlass zu einer von der vorinstanzlichen abweichenden Betrachtungsweise.

5.
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der
Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Sie werden auf die
Gerichtskasse genommen, sind doch die gesetzlichen Voraussetzungen für die
Bewilligung der unentgeltlichen Prozessführung wie auch Verbeiständung erfüllt
(Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Ihr Rechtsvertreter hat zufolge unentgeltlicher
Verbeiständung Anspruch auf eine Entschädigung aus der Gerichtskasse (Art. 64
Abs. 2 BGG). Die Beschwerdeführerin wird darauf aufmerksam gemacht, dass sie
der Gerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn sie später dazu in der Lage ist
(Art. 64 Abs. 4 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes
vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.

4.
Fürsprecher Josef Mock Bosshard, Bern, wird aus der Gerichtskasse eine
Entschädigung von Fr. 1'400.- ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, dem Bundesamt für Sozialversicherungen
und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 26. März 2010

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Widmer