Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 624/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_624/2009

Urteil vom 7. Oktober 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber Fessler.

Parteien
R.________, vertreten durch
Rechtsanwalt Dr. Bruno Häfliger,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern
vom 22. Juli 2009.

Sachverhalt:

A.
Die 1955 geborene R.________ arbeitete vom 1. März 1976 bis 30. September 2005
als Hilfsgoldschmiedin/Mitarbeiterin in der Materialverwaltung bei der Firma
X.________ AG. Anfang Oktober 2006 meldete sie sich bei der
Invalidenversicherung an und beantragte eine Rente. Die IV-Stelle Luzern klärte
die gesundheitlichen und erwerblichen Verhältnisse ab. Am 19. Juli 2007 wurde
R.________ von Dr. med. S.________, Fachärztin Psychiatrie und Psychotherapie,
vom Regionalen Ärztlichen Dienst (RAD), untersucht. Nach Durchführung des
Vorbescheidverfahrens sprach die IV-Stelle R.________ mit Verfügung vom 7.
Januar 2008 aufgrund eines Invaliditätsgrades von 56 % ab 1. August 2006 eine
halbe Rente zu.

B.
Die Beschwerde der R.________ mit dem Antrag auf Zusprechung einer ganzen Rente
ab 1. August 2006 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern,
Verwaltungsrechtliche Abteilung, mit Entscheid vom 22. Juli 2009 ab.

C.
R.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 22. Juli 2009 sei aufzuheben und ihr
ab 1. August 2006 eine ganze Invalidenrente zuzusprechen, unter Gewährung der
unentgeltlichen Prozessführung.

Die IV-Stelle und das kantonale Gericht beantragen die Abweisung der
Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine
Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Streitig und zu prüfen ist, ob die Beschwerdeführerin Anspruch auf eine
Dreiviertelsrente oder eine ganze Rente der Invalidenversicherung hat (Art. 107
Abs. 1 BGG).

2.
Das kantonale Verwaltungsgericht hat durch Einkommensvergleich (Art. 16 ATSG in
Verbindung mit Art. 28a Abs. 1 IVG) einen Invaliditätsgrad von 59 % ermittelt,
was Anspruch auf eine halbe Rente gibt (Art. 28 Abs. 2 IVG). Die trotz der
gesundheitlichen Beeinträchtigung noch zumutbare Arbeitsfähigkeit hat es
gestützt auf den RAD-Untersuchungsbericht vom 7. August 2007 festgesetzt.
Danach ist die jahrelang ausgeübte Tätigkeit als Goldschmiedin nicht mehr
zumutbar. In einer angepassten, den Rücken nicht belastenden körperlichen
Tätigkeit ohne übermässigen Zeit- und Leistungsdruck, in einem wohlwollenden
sozialen Arbeitsmilieu und ohne komplexe, eigenständig zu planende Aufgaben
besteht eine Arbeitsfähigkeit im zeitlichen Umfang von 50 %.

3.
Die Beschwerdeführerin rügt eine unvollständige Feststellung der
rechtserheblichen Tatsachen und die Nichtbeachtung des Untersuchungsgrundsatzes
nach Art. 61 lit. c ATSG durch das kantonale Gericht. Die Vorinstanz habe
unberücksichtigt gelassen, dass die Psychiaterin des RAD die Diagnose einer
schweren Depression seit August 2005 und eine darauf zurückzuführende
Arbeitsunfähigkeit von 70-80 % gemäss dem Bericht der behandelnden Psychiaterin
vom 23. Oktober 2006 nicht angezweifelt habe. Laut dem RAD-Bericht vom 7.
August 2007 sei der psychische Gesundheitszustand im Zeitpunkt der Untersuchung
vom 19. Juli 2007 verbessert gewesen und es habe lediglich noch eine
Arbeitsfähigkeit von 50 % bestanden. Bei Ablauf der Wartezeit im August 2006
habe somit Anspruch auf eine ganze Rente bestanden.

3.1 Nach Art. 61 lit. c ATSG stellt das kantonale Versicherungsgericht unter
Mitwirkung der Parteien die für den Entscheid erheblichen Tatsachen fest
[Untersuchungsgrundsatz: BGE 125 V 193 E. 2 S. 195]; es erhebt die notwendigen
Beweise und ist in der Beweiswürdigung frei. Welche konkreten
Abklärungsmassnahmen in gesundheitlicher und beruflich-erwerblicher Hinsicht
für eine rechtsgenügliche Sachverhaltsermittlung geboten sind, lässt sich
angesichts der Besonderheiten jedes einzelnen Falles nicht allgemein sagen
(Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 281/06 vom 24. Juli 2006 E. 3.2.1).
Gelangt das Gericht aufgrund pflichtgemässer Beweiswürdigung zur Überzeugung,
die Akten erlaubten die richtige und vollständige Feststellung des
rechtserheblichen Sachverhalts oder eine behauptete Tatsache sei für die
Entscheidung der Streitsache nicht von Bedeutung, kann es auf die Erhebung
weiterer Beweise verzichten (antizipierte Beweiswürdigung; BGE 124 V 90 E. 4b
S. 94; 122 V 157 E. 1d S. 162; Urteile 9C_628/2007 vom 19. November 2007 E. 3.1
und I 106/07 vom 24. Juli 2007 E. 4.1).

Die Nichtbeachtung des Untersuchungsgrundsatzes durch das kantonale
Versicherungsgericht (und durch den Versicherungsträger nach Art. 43 Abs. 1
ATSG) stellt ebenso wie die unvollständige Feststellung der rechtserheblichen
Tatsachen nach Art. 112 Abs. 1 lit. b BGG eine Verletzung von Bundesrecht nach
Art. 95 lit. a BGG dar (Urteile 9C_418/2009 vom 24. August 2009 E. 2 und 9C_214
/2009 vom 11. Mai 2009 E. 3.2). Der Verzicht auf weitere Abklärungen oder im
Beschwerdefall auf Rückweisung der Sache an die Verwaltung zu diesem Zwecke
verletzt etwa dann Bundesrecht, wenn der festgestellte Sachverhalt unauflösbare
Widersprüche enthält oder wenn eine entscheidwesentliche Tatfrage, wie
namentlich Gesundheitszustand und Arbeitsfähigkeit einer versicherten Person,
auf unvollständiger Beweisgrundlage beantwortet wird (Urteil 9C_505/2009 vom
22. Juli 2009 E. 1.2 mit Hinweisen).

3.2 Die Vorinstanz hat die Beurteilung der Fachärztin des RAD als schlüssig
bezeichnet und darauf abgestellt, was mangels zeitlicher Angaben implizit für
den massgebenden Zeitraum vom 1. August 2006 (Ablauf der Wartezeit nach Art. 29
Abs. 1 lit. b IVG in der bis 31. Dezember 2007 gültig gewesenen Fassung) bis 7.
Januar 2008 (Erlass der Verfügung; BGE 129 V 1 E. 1.2 S. 4) gilt. Insofern ist
die Rüge einer Verletzung von Bundesrecht durch das kantonale Gericht
(unvollständige Feststellung der rechtserheblichen Tatsachen) unbegründet. Im
Übrigen kann bei der gegebenen Aktenlage eine Arbeitsfähigkeit von 50 % für die
Zeit ab August 2006 bis Verfügungserlass nicht als offensichtlich unrichtig im
Sinne von eindeutig und augenfällig unzutreffend bezeichnet werden (BGE 132 I
42 E. 3.1 S. 44). Die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung ist nicht schon
deshalb offensichtlich unrichtig (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG), nur
weil eine andere Lösung ebenfalls in Betracht fällt, selbst wenn diese als die
plausiblere erschiene (vgl. BGE 129 I 8 E. 2.1 S. 9; Urteil 9C_1025/2008 vom
19. Januar 2009 E. 4.1).

4.
Weiter wird in der Beschwerde gerügt, es fehle eine selbst rudimentäre
Konkretisierung der zumutbaren Verweisungstätigkeiten. Ebenfalls habe die
Vorinstanz keine Feststellungen zur Frage der Zumutbarkeit der Versicherten als
Arbeitnehmende für potenzielle Arbeitgeber getroffen. In Anbetracht der vielen
Funktionseinschränkungen sei eine Erwerbstätigkeit realistischerweise
ausgeschlossen, zumal die RAD-Psychiaterin auf ein «wohlwollendes soziales
Arbeitsmilieu» verweise. Schliesslich attestiere diese Ärztin der Versicherten
in der Tätigkeit als Goldschmiedin eine Arbeitsunfähigkeit von 100 %. Es sei
aber nicht auszumachen, welche weit leichtere Tätigkeit auf dem ausgeglichenen
Arbeitsmarkt angeboten werden könnte, die den Anforderungen in körperlicher und
psychischer Hinsicht derjenigen einer Angestellten in einem Goldschmiedeatelier
nachstehe.
4.1
4.1.1 Im Rahmen der Invaliditätsbemessung ist es Aufgabe des Arztes, den
Gesundheitszustand zu beurteilen und dazu Stellung zu nehmen, in welchem Umfang
und bezüglich welcher Tätigkeiten der oder die Versicherte arbeitsunfähig ist
(BGE 125 V 256 E. 4 S. 261 mit Hinweisen); ferner sind die ärztlichen Angaben
eine wichtige Grundlage für die Beurteilung der Frage, welche Arbeitsleistungen
der versicherten Person noch zugemutet werden können (BGE 105 V 157 E. 1 in
fine S. 159; vgl. auch Urteil 9C_323/2009 vom 14. Juli 2009 E. 4.2:
«funktionelle Leistungsfähigkeit»). Es geht darum, inwiefern die betreffende
Person in den körperlichen und/oder geistigen Funktionen gesundheitlich bedingt
eingeschränkt ist, insbesondere ob sie sitzend oder stehend, in freien oder in
geheizten Räumen arbeiten kann oder muss, ob sie Lasten heben und tragen kann
usw. (BGE 107 V 17 E. 2b S. 20). Diesbezüglich kommt einem ärztlichen Bericht
Beweiswert zu, wenn er für die streitigen Belange umfassend ist, auf
allseitigen Untersuchungen beruht, auch die geklagten Beschwerden
berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben worden ist, in
der Beschreibung der medizinischen Situation und Zusammenhänge einleuchtet und
wenn die Schlussfolgerungen des Arztes begründet sind (BGE 125 V 351 E. 3a S.
352; Urteil 9C_610/2009 vom 10. August 2009 E. 3).

Aufgrund des medizinischen Anforderungsprofils hat der Berufsberater zu sagen,
welche konkreten beruflichen Tätigkeiten unter Berücksichtigung der
Fähigkeiten, Ausbildung und Berufserfahrung der versicherten Person
realistischerweise noch in Betracht fallen. Dazu sind unter Umständen
Rückfragen beim Arzt erforderlich (BGE 107 V 17 E. 2b S. 20; Urteil 9C_515/2009
vom 14. September 2009 E. 3.1.2 mit Hinweisen).
4.1.2 Das trotz der gesundheitlichen Beeinträchtigung zumutbarerweise
erzielbare Einkommen ist bezogen auf einen ausgeglichenen Arbeitsmarkt zu
ermitteln (Art. 16 ATSG). Ein solcher Arbeitsmarkt ist gekennzeichnet durch ein
gewisses Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage nach Arbeitskräften und
weist einen Fächer verschiedenster Tätigkeiten auf, und zwar sowohl bezüglich
der dafür verlangten beruflichen und intellektuellen Voraussetzungen wie auch
hinsichtlich des körperlichen Einsatzes (BGE 110 V 273 E. 4b S. 276; ZAK 1991
S. 321 E. 3b). Dabei ist nicht von realitätsfremden Einsatzmöglichkeiten
auszugehen. Es können nur Vorkehren verlangt werden, die unter Berücksichtigung
der gesamten objektiven und subjektiven Gegebenheiten des Einzelfalles zumutbar
sind (Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 97/00 vom 29. August 2002 E.
1.3.1 mit Hinweisen). Anderseits sind an die Konkretisierung von
Arbeitsgelegenheiten und Verdienstaussichten keine übermässigen Anforderungen
zu stellen (Urteil 9C_121/2008 vom 4. August 2008 E. 5.1; Urteil 9C_515/2009
vom 14. September 2009 E. 3.1.1).

4.2 Das kantonale Gericht hat das Invalideneinkommen auf der Grundlage der
Schweizerischen Lohnstrukturerhebung 2006 des Bundesamtes für Statistik (LSE
06) ermittelt (BGE 124 V 321). Dabei ist es vom durchschnittlichen monatlichen
Bruttolohn («Total») von Frauen in einfachen und repetitiven Tätigkeiten
(Anforderungsniveau des Arbeitsplatzes 4) im privaten Sektor (Fr. 4'019.-; LSE
06 S. 25) ausgegangen. Mit der Wahl von Anforderungsniveau 4 hat es die nach
seiner Auffassung in Frage kommenden zumutbaren Verweisungstätigkeiten
konkretisiert. Die diesbezügliche Rüge der Beschwerdeführerin ist insoweit
unbegründet.

In Anwendung von BGE 126 V 75 hat die Vorinstanz sodann den Tabellenlohn um 10
% gekürzt. Mit diesem Abzug hat sie dem Umstand Rechnung getragen, dass die
behandelnde Psychiaterin einen geschützten Arbeitsplatz empfahl und dass nur
Tätigkeiten ohne Zeit- und Leistungsdruck zumutbar sind. Dies überzeugt in
zweierlei Hinsicht nicht: Kommen gesundheitlich bedingt lediglich geschützte
Arbeitsplätze in Betracht, kann das Invalideneinkommen nicht mehr auf
tabellarischer Grundlage ermittelt werden. In diesem Zusammenhang ist aufgrund
des Beschwerdebildes nicht auszuschliessen, dass schon die fast dreissig Jahre
lange, aus wirtschaftlichen Gründen gekündigte Anstellung als
Hilfsgoldschmiedin und Mitarbeiterin in der Materialverwaltung bei der Firma
X.________ AG in gewisser Weise ein solcher geschützter Arbeitsplatz gewesen
war. Zweitens liegt ein unauflösbarer innerer Widerspruch vor, wenn die
Psychiaterin des RAD die Tätigkeit als Goldschmiedin, welche dem
Anforderungsprofil weitgehend entspricht, als unzumutbar erachtet und
gleichzeitig eine Arbeitsfähigkeit von 50 % in einer angepassten Tätigkeit
bejaht. Der RAD-Untersuchungsbericht vom 7. August 2007, auf den die Vorinstanz
massgeblich abstellte, ist somit im entscheidenden Punkt nicht
widerspruchsfrei. Ergänzende Abklärungen in medizinischer Hinsicht und
allenfalls durch die Fachleute der Berufsberatung zur Feststellung der
Restarbeitsfähigkeit drängen sich daher auf, ebenso zu deren erwerblicher
Verwertbarkeit.

5.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die IV-Stelle die Gerichtskosten zu
tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und der Beschwerde-

führerin eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG). Deren
Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist demzufolge gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Luzern, Verwaltungsrechtliche Abteilung, vom 22. Juli 2009 und die
Verfügung der IV-Stelle Luzern vom 7. Januar 2008, soweit nicht die halbe
Invalidenrente betreffend, werden aufgehoben. Die Sache wird an die Verwaltung
zurückgewiesen, damit sie nach Abklärungen im Sinne der Erwägungen neu verfüge.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der IV-Stelle Luzern auferlegt.

3.
Die IV-Stelle Luzern hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern hat die Gerichtskosten und die
Parteientschädigung für das vorangegangene Verfahren neu festzusetzen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse Promea, Schlieren,
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 7. Oktober 2009
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Fessler