Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 600/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_600/2009

Urteil vom 8. Oktober 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Seiler, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber Fessler.

Parteien
M._______,
vertreten durch Rechtsanwalt Kurt Gemperli,
Beschwerdeführer,

gegen

Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St.
Gallen,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Ergänzungsleistung zur AHV/IV (Berechnung des Leistungsanspruchs),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 27. Mai 2009.

Sachverhalt:

A.
Der 1948 geborene M.________ bezieht seit 1. Januar 2004 eine Viertelsrente der
Invalidenversicherung und seit 1. Januar 2007 Ergänzungsleistungen. Mit
Verfügungen vom 21. Dezember 2007 und 6. Mai 2008 setzte die
Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen (nachfolgend:
EL-Durchführungsstelle) den EL-Anspruch ab 1. Januar resp. 1. April 2008 neu
fest. Dabei berücksichtigte sie bei den Einnahmen wie bisher ein hypothetisches
Einkommen von Fr. 23'520.-. Die dagegen erhobenen Einsprachen, mit welchen
M.________ u.a. die Festsetzung der Ergänzungsleistung ab 1. Januar 2008 ohne
Anrechnung eines hypothetischen Einkommens beantragte, wies die
EL-Durchführungsstelle mit Entscheid vom 11. Juni 2008 ab.

B.
Die Beschwerde des M.________ wies das Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen mit Entscheid vom 27. Mai 2009 ab.

C.
M.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 27. Mai 2009 sei aufzuheben und die
Ergänzungsleistung ohne Anrechnung eines hypothetischen Einkommens auf Fr.
28'566.- für die Zeit vom 1. Januar bis 31. März 2008 und Fr. 29'250.- für die
Zeit ab 1. April 2008 festzusetzen, unter Gewährung der unentgeltlichen
Prozessführung.
Kantonales Gericht, EL-Durchführungsstelle und Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem
die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Das
Bundesgericht legt seinem Urteil - von hier nicht interessierenden Ausnahmen
abgesehen - den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. Es
kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen
oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG).
Die Behebung des Mangels muss für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein
(vgl. Art. 97 Abs. 1 BGG).

2.
Im Urteil 8C_94/2007 vom 15. April 2008 hat die I. sozialrechtliche Abteilung
des Bundesgerichts die Rechtsprechung gemäss BGE 128 V 39 bestätigt, wonach
eine Verfügung (oder ein Einspracheentscheid) über Ergänzungsleistungen in
zeitlicher Hinsicht Rechtsbeständigkeit nur für das Kalenderjahr entfalten kann
und demzufolge die einzelnen Berechnungspositionen jährlich überprüft und
allenfalls neu festgesetzt werden können. Die wiederum von derselben Vorinstanz
daran geübte Kritik gibt nicht Anlass zu einer erneuten Auseinandersetzung mit
dieser Rechtsprechung oder sogar zu einer Praxisänderung (vgl. dazu BGE 132 V
257 E. 4.2 S. 262).

3.
3.1 Die jährliche Ergänzungsleistung entspricht dem Betrag, um den die
anerkannten Ausgaben die anrechenbaren Einnahmen übersteigen (Art. 9 Abs. 1
ELG). Als Einnahmen angerechnet werden u.a. Einkünfte und Vermögenswerte, auf
die verzichtet worden ist (Art. 11 Abs. 1 lit. g ELG).

Invaliden unter 60 Jahren ist bei einem Invaliditätsgrad von 40 bis unter 50
Prozent mindestens der um einen Drittel erhöhte Höchstbetrag für den
Lebensbedarf von Alleinstehenden nach Artikel 10 Absatz 1 Buchstabe a Ziffer 1
ELG anzurechnen (Art. 14a Abs. 2 lit. a ELV in Verbindung mit Art. 9 Abs. 5
lit. c ELG).

3.2 Wird der Grenzbetrag in Art. 14a Abs. 2 lit. a ELV nicht erreicht,
insbesondere wenn keine Erwerbstätigkeit ausgeübt wird, gilt die Vermutung
eines Verzichts auf Einkünfte im Sinne von Art. 11 Abs. 1 lit. g ELG. Diese
Vermutung kann durch den Nachweis, dass invaliditätsfremde Gründe wie Alter,
mangelhafte Ausbildung und Sprachkenntnisse, persönliche Umstände oder die
Arbeitsmarktsituation die Verwertung der Resterwerbsfähigkeit übermässig
erschweren oder verunmöglichen, widerlegt werden (Urteil 9C_190/2009 vom 11.
Mai 2009 E. 3.2 mit Hinweisen). Dabei besteht eine verstärkte
Mitwirkungspflicht des EL-Ansprechers oder -Bezügers bei der
Sachverhaltsabklärung durch das Durchführungsorgan der EL (Art. 43 Abs. 1 ATSG)
in dem Sinne, dass er die Umstände geltend zu machen hat, welche nach seiner
Auffassung geeignet sind, die Vermutung eines Einkommensverzichts umzustossen.
Werden solche Umstände nicht geltend gemacht und sind sie auch nicht ohne
weiteres ersichtlich, oder führen die Abklärungen zu keinem schlüssigen
Ergebnis, hat der invalide EL-Ansprecher oder -Bezüger die Folgen der
Beweislosigkeit zu tragen (BGE 117 V 153 E. 3b S. 158). Er hat sich anrechnen
zu lassen, was er mit überwiegender Wahrscheinlichkeit trotz der
gesundheitlichen Beeinträchtigung an Erwerbseinkommen tatsächlich noch erzielen
könnte (Urteil 9C_190/2009 vom 11. Mai 2009 E. 3.2 mit Hinweisen).

4.
4.1 Das bei der EL-Berechnung ab 1. Januar 2007 bei den Einnahmen jeweils
berücksichtigte hypothetische Erwerbseinkommen beträgt Fr. 23'520.-. Gegen die
vorinstanzlich bestätigte Anrechnung dieser Summe bringt der Beschwerdeführer
vor, die Vermutung eines hypothetisch erzielbaren Erwerbseinkommens könne durch
ihn überhaupt nicht widerlegt werden. Das kantonale Gericht habe
stillschweigend angenommen, trotz der bei ihm herrschenden besonderen Umstände
sei es ihm möglich, den Nachweis zu leisten, dass er sich wirklich um Arbeit
bemüht habe, wenn auch erfolglos. Dies treffe indessen nicht zu. Wenn ein knapp
60-jähriger ehemaliger Maurer aus Ex-Jugoslawien einem Arbeitgeber so viele
gesundheitliche Einschränkungen für eine mögliche Tätigkeit vortrage, wie sie
bei ihm anerkannt seien, werde dieser annehmen, er bewerbe sich nur zum Schein
und habe in Wirklichkeit kein Interesse an einem Stellenantritt. Belege über
allfällige Arbeitsbemühungen würden somit nicht erkennen lassen, ob er sich
ehrlich und redlich bemüht oder sein Scheitern begünstigt habe. «So oder so
fänden sich praktisch nur Kontaktversuche und keine substanziellen
Arbeitgeberkontrakte, und wenn doch einmal einer, so womöglich mit dem
verärgerten Kommentar des Arbeitgebers versehen, mit so vielen Einschränkungen
müsse man ihm doch nicht kommen wollen.»
4.2
4.2.1 Der Beschwerdeführer bestreitet mit seinen Vorbringen nicht, dass er
überhaupt keine Arbeitsbemühungen unternommen hat. Das nach seiner Überzeugung
zu erwartende Verhalten angefragter Arbeitgeber sodann stellt eine rein
hypothetische Annahme dar, welche die vorinstanzliche Feststellung, dass solche
Bemühungen nicht von vornherein aussichtslos sind, jedenfalls nicht als
offensichtlich unrichtig erscheinen zu lassen vermag.
4.2.2 Unbegründet ist im Weitern die Rüge, die Vorinstanz gehe mit Bezug auf
das Tatsachenfundament für die Widerlegung der Vermutung nach Art. 14a Abs. 2
lit. a ELV von einem zu strengen Beweismass aus. Soll die Vermutung eines
tatsächlich realisierbaren Einkommens von bestimmter Höhe ohne Nachweis
erfolgloser Stellenbewerbungen widerlegt werden, sind die geltend gemachten
Umstände, welche solche Bemühungen zum vornherein überwiegend wahrscheinlich
als nutzlos und aussichtslos erscheinen lassen sollen, nach einem strengen
Massstab zu beurteilen. Dies ist deshalb gerechtfertigt, weil die Auskünfte
erfolglos angefragter Arbeitgeber über die Gründe der Absage eine wichtige
Grundlage bilden, um zu entscheiden, ob die Erzielung eines Einkommens von
bestimmter Höhe realistisch ist. Ob die Vorinstanz mit der Aussage, ohne
zumutbare Arbeitsbemühungen könne diese Vermutung nur umgestossen werden, wenn
zum vornherein offenkundig ist, dass nicht die geringste Chance besteht, eine
Arbeitsstelle zu finden, in dieser allgemeinen Form zu strenge Anforderungen an
den Beweis des Gegenteils aufgestellt hat, kann offenbleiben. Die geltend
gemachten Umstände (gesundheitliche Beeinträchtigungen, ausländische
Staatsangehörigkeit, mangelhaftes Deutsch, fortgeschrittenes Alter, jahrelange
Tätigkeit auf dem Bau, angespannte Arbeitsmarktlage) jedenfalls sind nicht
geeignet, die Vermutung, der Beschwerdeführer könnte mit der ihm verbliebenen
Arbeitsfähigkeit ein Einkommen erzielen, zu widerlegen.
4.2.3 Der angerechnete Betrag von Fr. 23'520.- jährlich ist angemessen. Er ist
rund 40 % tiefer als das im IV-Verfahren auf der Grundlage einer
Arbeitsfähigkeit von 72 % (zwei Mal drei Stunden täglich) in einer dem
Schulter- und Rückenleiden angepassten Tätigkeit ermittelte Einkommen als
Invalider bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage (vgl. Art. 16 ATSG und BGE 110 V
273 E. 4b S. 276) von Fr. 35'042.- (vgl. Urteil 9C_807/2008 vom 21. November
2008).
Der angefochtene Entscheid verletzt Bundesrecht nicht.

5.
Die Beschwerde muss als aussichtslos im Sinne von Art. 64 Abs. 1 BGG bezeichnet
werden. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist daher abzuweisen. Auf die
Erhebung von Gerichtskosten ist umständehalber zu verzichten (Art. 66 Abs. 1
BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.

3.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 8. Oktober 2009

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Fessler