Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 555/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_555/2009

Urteil vom 2. November 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiberin Bollinger Hammerle.

Parteien
M.________, vertreten durch
Rechtsanwalt Stefan Galligani,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau,
Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 22. April 2009.

Sachverhalt:

A.
A.a M.________, geboren 1947, meldete sich unter Hinweis auf unfallbedingte
Schulter- und Knieverletzungen sowie eine Diskurshernie, bestehend seit 14.
Januar 2003, am 6. November 2003 bei der Invalidenversicherung zum
Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Aargau führte erwerbliche
Abklärungen durch und zog die Akten der Schweizerischen
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) bei, welche Leistungen erbracht hatte für die
Folgen eines am 6. Januar 1997 erlittenen Knalltraumas sowie - bis zur
Einstellung der Leistungen per 31. Januar 2004 (vgl. Einspracheentscheid vom
29. September 2004) - eines Arbeitsunfalles vom 14. Januar 2003 (bei welchem
M.________ mit einem Stapler rückwärts auf einen Pfosten gerollt war). Nach
Stellungnahme ihres Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD; Dr. med. P.________)
vom 27. April 2004 verfügte die IV-Stelle am 29. April 2004, es bestehe kein
Anspruch auf eine Invalidenrente. Nachdem M.________ hiegegen Einsprache
erhoben hatte, holte die IV-Stelle einen Bericht ein der Frau Dr. med.
D.________, FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 3. Februar 2005, und
veranlasste eine Begutachtung durch die Psychiatrischen Dienste X.________,
Psychiatrischer Dienst E.________ vom 17. Mai 2005. Mit unangefochten
gebliebenem Einspracheentscheid vom 17. August 2005 bestätigte sie ihre
Verfügung.
A.b Mit Neuanmeldung vom 29. Dezember 2006 liess M.________ unter Bezugnahme
auf einen Austrittsbericht der Klinik B.________ vom 14. August 2006 eine
Verschlechterung seines Gesundheitszustandes geltend machen. Die IV-Stelle
holte erneut eine Stellungnahme ihres RAD (Dr. med. R.________) vom 7. Februar
2007 ein und teilte M.________ am 20. Februar 2007 mit, eine anspruchsrelevante
Änderung sei bisher nicht glaubhaft gemacht. Mit Eingabe vom 9. März 2007 liess
M.________ ein Schreiben des Dr. med. N.________, FMH für Allgemeinmedizin, vom
5. Februar 2007, und am 26. März 2007 einen Bericht des Dr. med. H.________,
FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, Institut Y.________ vom 20. März 2007,
zu den Akten reichen. Nach Eingang einer weiteren Stellungnahme des
RAD-Psychiaters Dr. med. R.________ vom 20. Februar 2008 und durchgeführtem
Vorbescheidverfahren, trat die IV-Stelle mit Verfügung vom 6. Mai 2008 auf das
Leistungsbegehren nicht ein.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde des M.________ wies das Versicherungsgericht
des Kantons Aargau mit Entscheid vom 22. April 2009 ab.

C.
M.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
und beantragt, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und auf sein
Neuanmeldungsgesuch sei einzutreten. Es sei ihm eine Rente zuzusprechen;
"gegebenenfalls" seien weitere, insbesondere psychiatrische Gutachten
einzuholen. Gleichzeitig ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen
Rechtspflege. Die Frist für den vom Bundesgericht am 14. Juli 2009 verfügten
Nachweis der Bedürftigkeit lässt M.________ ungenutzt verstreichen.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann
wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG erhoben werden. Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung
der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig
ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 97
Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG; vgl. BGE 132 V 393 zur auch unter der
Herrschaft des BGG gültigen Abgrenzung von Tat- und Rechtsfragen im Rahmen der
Invaliditätsbemessung [Art. 16 ATSG]).

2.
Das kantonale Gericht hat die zur Beurteilung des Leistungsanspruchs
einschlägigen Rechtsgrundlagen und die dazu ergangene Rechtsprechung,
insbesondere auch im Zusammenhang mit einer Neuanmeldung (Art. 87 Abs. 4 in
Verbindung mit Abs. 3 IVV; BGE 130 V 71 E. 2.2 S. 72 mit Hinweisen), zutreffend
dargelegt. Darauf wird verwiesen.

3.
3.1 Die Vorinstanz erwog, den neu eingereichten Unterlagen (Austrittsbericht
der Klinik B.________ vom 14. August 2006; Bericht des Dr. med. I.________, FMH
für Rheumatologie/Rehabilitation, vom 22. Januar 2007; Schreiben des Dr. med.
N.________ vom 5. Februar 2007; Beurteilung des Dr. med. H.________ vom 20.
März 2007; Brief des Dr. med. L.________, Allgemeine Medizin FMH, vom 16.
Oktober 2007 [vgl. auch die Stellungnahmen des RAD-Arztes Dr. med. R.________
vom 7. Februar 2007 und 20. Februar 2008]) liesse sich im Vergleich zu den dem
Einspracheentscheid vom 17. August 2005 zu Grunde liegenden Akten nicht
glaubhaft eine erhebliche Änderung des Gesundheitszustandes entnehmen. Soweit
der Versicherte insbesondere in psychischer Hinsicht eine relevante
Verschlimmerung seiner Leiden geltend mache, ergebe sich aus den Akten, dass
die von den Ärzten an der Klinik B.________ diagnostizierte chronische
Schmerzstörung lediglich eine andere Beurteilung des im Wesentlichen gleich
gebliebenen Zustandes sei und damit revisionsrechtlich keine Bedeutung habe.
Auch den Beurteilungen der Dres. med. N.________ und H.________, welche neu
eine pathologische Trauer des Beschwerdeführers nach dem in den bisherigen
Akten unerwähnt gebliebenen Verlust des damals 16-jährigen Sohnes im Jahre 1993
anführten und kritisierten, dass die bis dahin mit dem Versicherten befasst
gewesenen psychiatrischen Gutachter den Tod des Sohnes in ihren Anamnesen nicht
erhoben hatten, lasse sich keine anspruchsrelevante Verschlechterung des
psychischen Gesundheitszustandes entnehmen. Bei der pathologischen Trauer
handle es sich nicht um eine nach international anerkannten Klassifikationen
gestellte Diagnose. Schliesslich sei die zwischen der Beurteilung in der Klinik
K.________ vom 20. Oktober 2003 und dem Gutachten durch die Psychiatrischen
Dienste X.________ am 17. Mai 2005 eingetretene Verschlechterung des
psychischen Zustandes bereits im Einspracheentscheid vom 17. August 2005
berücksichtigt worden.

3.2 Der Beschwerdeführer rügt, die von ihm eingereichten Arztberichte, welche
eine wesentliche Verschlechterung seines Gesundheitszustandes belegten, seien
von der IV-Stelle zu Unrecht nicht genügend berücksichtigt worden. Der
angefochtene Entscheid beruhe allein auf der Stellungnahme des RAD-Arztes und
lasse insbesondere die Beurteilung des Dr. med. L.________ (wonach sich der
Gesundheitszustand verschlechtert habe) sowie die von den Ärzten an der Klinik
B.________ diagnostizierte chronische Schmerzstörung ausser Acht. Die Einholung
eines unabhängigen Gutachtens wäre angesichts der divergierenden Diagnosen
unerlässlich gewesen. Schliesslich sei die Richtigkeit bzw. Vollständigkeit der
Einschätzungen der Ärzte an der Klinik K.________ sowie der Gutachter der
Psychiatrischen Dienste X.________ zweifelhaft, weil sie den im Jahre 1993
eingetretenen Tod des Sohnes nicht berücksichtigten.

4.
Der Versicherte führt keine Argumente an, welche die Sachverhaltsfeststellung
des kantonalen Gerichts als offensichtlich unrichtig oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruhend erscheinen lassen (vgl. E. 1
hievor). Es trifft zu, dass der Verlust des 1977 geborenen Sohnes im Jahre 1993
weder in den von der SUVA veranlassten Abklärungen noch in den im IV-Verfahren
eingeholten medizinischen Beurteilungen thematisiert wird. Zwar ergibt er sich
aus den Angaben in der IV-Anmeldung vom 6. November 2003, doch erwähnte der
Beschwerdeführer dieses ohne jeden Zweifel traumatische Ereignis offenbar weder
gegenüber den Ärzten der Klinik K.________ (obwohl im Rahmen der dortigen
Hospitalisation vom 6. August bis 4. September 2003 auch ein psychosomatisches
Konsilium vom 12. August 2003 durchgeführt wurde) noch gegenüber der ihn am 10.
September 2004 abklärenden Psychiaterin Dr. med. D.________, den Gutachtern der
Psychiatrischen Dienste X.________, welche ihn am 31. März und 17. Mai 2005
explorierten, den ihn behandelnden Dres. med. L.________ und I.________, den
Ärzten an der Klinik B.________, wo er vom 5. Juli bis 3. August 2006
hospitalisiert war, und wohl längere Zeit auch nicht gegenüber seinem
Rechtsvertreter, welcher den krankheitsbedingten Tod des Sohnes erstmals im
Anschluss an das Überweisungsschreiben des Dr. med. N.________ vom 5. Februar
2007 ansprach. Dr. med. H.________ legt denn auch nachvollziehbar dar, dass der
Versicherte von sich aus nicht davon berichte, was ihn hauptsächlich quäle (wie
dies in der Psychotraumatologie häufig beobachtet werde). Auch soweit Dr. med.
H.________ beschreibt, der Tod des Sohnes nach einer bösartigen Krebserkrankung
habe den Beschwerdeführer tief erschüttert, sind seine Ausführungen ohne
Weiteres einleuchtend. Jedoch handelt es sich dabei nicht um einen neuen
Aspekt, trat doch der Tod bereits im Jahre 1993 ein. Auch ist der Vorinstanz
darin beizupflichten, dass die pathologische Trauer keine psychiatrische
Diagnose nach einem wissenschaftlich anerkannten Klassifikationssystem
darstellt, wie sie für eine invalidisierende (psychische) Erkrankung
erforderlich ist (Urteil I 683/06 vom 29. August 2007, publiziert in: SVR 2008
IV Nr. 23 S. 71 E. 2.1). Der Verlust des Sohnes vermag somit zwar besser zu
erklären, weshalb es beim Beschwerdeführer zur Entwicklung der fachärztlich
diagnostizierten mittelgradigen depressiven Episode (ICD-10 F32.1) kam (zu
dieser Diagnose vgl. Gutachten der Psychiatrischen Dienste X.________ vom 17.
Mai 2005 sowie den Austrittsbericht der Klinik B.________ vom 14. August 2006);
die Vorinstanz hat aber ohne Verletzung von Bundesrecht die Glaubhaftigkeit
einer anspruchsrelevanten Verschlechterung des Gesundheitszustandes infolge des
(pathologischen) Trauerprozesses verneint und zu Recht erwogen, dass der
Beweiswert namentlich der Beurteilung durch die Psychiatrischen Dienste
X.________ nicht entscheidend geschmälert wird, indem der für das psychische
Leiden - nach den insoweit einleuchtenden Ausführungen des Dr. med. H.________
- mitursächliche Tod des Sohnes anamnestisch (zufolge Nichterwähnung durch den
Versicherten) unberücksichtigt blieb. IV-rechtlich entscheidend bleibt allein,
dass die pathologische Trauer den Beschwerdeführer während Jahren nicht daran
hinderte, erwerbstätig zu sein.
Die übrigen in der Beschwerde vorgetragenen Rügen an der vorinstanzlichen
Beweiswürdigung sind als appellatorische Kritik letztinstanzlich nicht
zulässig. Das kantonale Gericht hat die medizinischen Akten ausführlich und
pflichtgemäss gewürdigt. In nicht zu beanstandender Weise hat es insbesondere
dargelegt, weshalb es zum einen die vom behandelnden Dr. med. L.________ nicht
näher begründete gesundheitliche Verschlechterung im Bericht vom 16. Oktober
2007 als nicht bewiesen erachtet und zum anderen - unter Bezugnahme auf die
Einschätzungen ihres RAD - der Beurteilung des Dr. med. H.________ (vom 20.
März 2007) keinen höheren Beweiswert beigemessen hat als dem Gutachten der
Psychiatrischen Dienste X.________ (vom 17. Mai 2005). Vor Bundesrecht Stand
hält auch die weitere Erwägung, wonach die im Austrittsbericht der Klinik
B.________ vom 14. August 2006 angeführte chronische Schmerzstörung (ICD-10
F45.4) eine revisionsrechtlich unerhebliche abweichende Beurteilung des seit
der Begutachtung durch die Psychiatrischen Dienste X.________ im Wesentlichen
gleich gebliebenen Gesundheitszustandes sei. Schliesslich hat die Vorinstanz
auf weitere Abklärungen in zulässiger antizipierter Beweiswürdigung verzichtet
(BGE 134 I 140 E. 5.3 S. 148).

5.
Das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung für das letztinstanzliche Verfahren
ist mangels nicht erbrachten Bedürftigkeitsnachweises abzulehnen (Art. 64 BGG).
Von der Erhebung von Gerichtskosten wird umständehalber abgesehen (Art. 66 Abs.
1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren
wird abgewiesen.

3.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau,
der Ausgleichskasse ALBICOLAC und dem Bundesamt für Sozialversicherungen
schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 2. November 2009
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Meyer Bollinger Hammerle