Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 547/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_547/2009

Urteil vom 30. Oktober 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Seiler, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber R. Widmer.

Parteien
M.________,
vertreten durch Advokat Sebastian Laubscher,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 20.
Mai 2009.

Sachverhalt:

A.
Die 1986 geborene M.________ absolvierte seit 2001 eine Lehre als
Pharmaassistentin in der Apotheke K.________. Am 17. November 2001 erlitt sie
als Beifahrerin in einem Kleinbus bei einem Unfall ein Polytrauma. Nach
mehrmonatiger Behandlung konnte sie die Lehre fortsetzen. Nach dem Abschluss
ihrer Ausbildung arbeitete sie in der Apotheke im Zentrum X.________ und seit
August 2006 bei der Apotheke Z.________. Am 30. Januar 2008 meldete sich
M.________ bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an, wobei sie unter
Hinweis darauf, dass sie seit 1. Februar 2007 zu 20 % arbeitsunfähig sei, um
Berufsberatung und Umschulung auf eine Tätigkeit ersuchte. Die IV-Stelle Bern
zog die Akten der Zürich Versicherungs-Gesellschaft bei, welche für die Folgen
des Unfalls die gesetzlichen Leistungen, worunter eine Entschädigung für eine
Integritätseinbusse von 81 %, ausgerichtet hatte, und gewährte Unterstützung
durch die Berufsberatung sowie Hilfe bei der Abklärung der beruflichen
Eingliederungsmöglichkeiten. Gestützt auf die Stellungnahme des Regionalen
Ärztlichen Dienstes der IV-Stellen Bern/Freiburg/Solothurn vom 9. September
2008, wonach eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit in der angestammten
Tätigkeit als Pharmaassistentin nicht nachvollziehbar sei, wurde der
Versicherten mit Vorbescheid vom 19. September 2008 die Ablehnung des
Leistungsgesuchs in Aussicht gestellt; mit Verfügung vom 6. November 2008
lehnte die IV-Stelle den Anspruch von M.________ auf Leistungen der
Invalidenversicherung ab.

B.
Die hiegegen eingereichte Beschwerde, mit welcher M.________ beantragen liess,
unter Aufhebung der Verfügung sei die IV-Stelle zu verpflichten, weitere
Abklärungen vorzunehmen und hernach über den Anspruch auf berufliche
Eingliederungsmassnahmen neu zu verfügen, wies das Verwaltungsgericht des
Kantons Bern ab (Entscheid vom 20. Mai 2009).

C.
M.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit den Rechtsbegehren, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides und
der Verwaltungsverfügung sei ihr zu Lasten der Invalidenversicherung eine
Umschulung zu gewähren; evtl. sei die IV-Stelle anzuweisen, zusätzliche
Abklärungen vorzunehmen und hernach über den Umschulungsanspruch neu zu
verfügen.
Nachträglich reicht sie eine Stellungnahme der Rehabilitationsklinik Y.________
vom 30. Juni 2009 ein.
Während die IV-Stelle auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das
Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung
des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf eine Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann
(Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann
die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.
Die Vorinstanz hat die Voraussetzungen des vorliegend aufgrund des
Rechtsbegehrens der Versicherten streitigen und zu prüfenden Anspruchs auf
Umschulung nach Art. 17 IVG unter Hinweis auf die Rechtsprechung zum Begriff
der Umschulung (BGE 124 V 108 E. 2a S. 110) soweit zur erforderlichen
invaliditätsbedingten Leistungseinbusse von etwa 20 % (BGE 124 V 108 E. 2b S.
110; SVR 2006 IV Nr. 15 S. 53) zutreffend wiedergegeben, sodass darauf
verwiesen wird.

Ergänzend ist auf Art. 8 Abs. 1 IVG in der vorliegend anwendbaren, seit 1.
Januar 2008 geltenden Fassung hinzuweisen. Nach dieser Bestimmung haben
Invalide oder von einer Invalidität bedrohte Versicherte Anspruch auf
Eingliederungsmassnahmen, soweit diese notwendig und geeignet sind, die
Erwerbsfähigkeit oder die Fähigkeit, sich im Aufgabenbereich zu betätigen,
wieder herzustellen, zu erhalten oder zu verbessern (lit. a) und die
Voraussetzungen für den Anspruch auf die einzelnen Massnahmen erfüllt sind. Der
Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen setzt somit nur noch eine drohende, und
nicht mehr eine unmittelbar drohende Invalidität (Art. 8 Abs. 1 IVG in der bis
31. Dezember 2007 gültig gewesenen Fassung) voraus (Botschaft des Bundesrates
zur Änderung des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung [5. Revision]
vom 22. Juni 2005, BBl 2005 S. 4560).

3.
3.1 Das Verwaltungsgericht stellte in Würdigung der medizinischen Unterlagen
fest, die Beschwerdeführerin sei zur Folge des gravierenden Unfalls vom 17.
November 2001 während 5 Monaten voll arbeitsunfähig gewesen, habe jedoch die
Lehre fortsetzen und im Sommer 2004 ohne Verzögerung abschliessen können.
Hiernach habe sie eine neue Arbeitsstelle in der Apotheke im Zentrum X.________
antreten können. Der darauf folgende Wechsel in die Apotheke Z.________ sei
nicht aus gesundheitlichen Gründen erfolgt. Dass seither keine namhafte
Verschlechterung des Gesundheitszustandes eingetreten sei, habe als erstellt zu
gelten, dass die Beschwerdeführerin an dieser oder einer ähnlichen
Arbeitsstelle nach wie vor zu 100 %, jedenfalls aber zu mehr als 80 %, als
Pharmaassistentin tätig sein könnte. Der Umschulungsanspruch sei somit bereits
mangels des Mindestinvaliditätsgrades von 20 % zu verneinen, halte der
ausgeglichene Arbeitsmarkt doch genügend Stellen offen, die für die Versicherte
mit Rücksicht auf die Restfolgen des Unfalls zumutbar wären.

3.2 Die Beschwerdeführerin wirft der Vorinstanz vor, den Sachverhalt
offensichtlich unrichtig festgestellt und nicht alle Arztberichte
berücksichtigt zu haben. Namentlich habe sie Berichte der Frau Dr. med.
S.________, Rehabilitationsklinik Y.________, vom 2. Februar 2007 und 11.
November 2008 offensichtlich falsch gewürdigt; entgegen den Ausführungen des
kantonalen Gerichts habe die Ärztin eine Arbeitszeitreduktion aus medizinischer
Sicht als indiziert erachtet. Auch habe sich nach Auffassung der Frau Dr. med.
S.________ eine Umschulung auf eine weniger Rücken belastende Tätigkeit
aufgedrängt. Die Versicherte weist sodann auf weitere Arztberichte hin. Ferner
habe die Vorinstanz den Untersuchungsgrundsatz verletzt: die Feststellung, dass
Frau Dr. med. S.________ nicht die Absicht gehabt habe, eine generelle
Arbeitsunfähigkeit von 20 % in der Tätigkeit als Pharmaassistentin zu
attestieren, basiere auf eine unzureichend abgeklärte medizinische Aktenlage.
Als willkürlich zu erachten sei schliesslich, dass die Vorinstanz das volle
Pensum an der ersten Arbeitsstelle, nicht aber das aus medizinischen Gründen
auf 80 % reduzierte Pensum an der zweiten Stelle als massgebend erachtet habe.

4.
Das kantonale Gericht hat den Umschulungsanspruch einzig unter dem Blickwinkel
der rechtsprechungsgemäss erforderlichen invaliditätsbedingten
Leistungseinbusse von etwa 20 % geprüft und eine solche gestützt auf die
medizinischen Unterlagen verneint. Diese Feststellung ist insoweit weder
offensichtlich unrichtig noch beruht sie auf einer Bundesrechtsverletzung. Im
Einzelnen ist Folgendes festzuhalten: Frau Dr. med. S.________,
Rehabilitationsklinik Y.________, hat im Bericht vom 2. Februar 2007
ausdrücklich dargelegt, dass das Arbeitspensum zwecks Entlastung und
Gewährleistung regelmässiger Therapie vorübergehend auf 80 % reduziert werde.
Auch aus dem späteren Bericht der gleichen Ärztin (vom 11. November 2008) geht
nicht klar hervor, dass aus medizinischen Gründen eine dauernde
Arbeitsunfähigkeit von 20 % vorliegt. Was sodann den Bericht des Prof.
R.________, Chefarzt am Spital W.________, Behandlungszentrum Bewegungsapparat,
vom 2. Mai 2007, betrifft, dessen Nichtbeachtung die Beschwerdeführerin der
Vorinstanz vorwirft, wird darin bloss anamnestisch deren Aussage wiedergegeben,
wonach sie aus gesundheitlichen Gründen nur zu 80 % arbeite. Eine aktuelle
Arbeitsunfähigkeit von 20 % wird indessen nicht bescheinigt. Hingegen erachtet
Prof. R.________ eine künftige Verschlechterung als möglich.
Wenn die Vorinstanz gestützt auf das ursprüngliche Arbeitsverhältnis eine volle
Leistungsfähigkeit als möglich und zumutbar betrachtet hat, lässt sich dies
nicht beanstanden und schon gar nicht als willkürlich bezeichnen, da, wie
erwähnt, eine dauernde Einschränkung der Arbeitsunfähigkeit um 20 % von
ärztlicher Seite nicht attestiert wird. Immerhin gilt es zu beachten, dass die
Beschwerdeführerin nach dem Unfall jahrelang ein Arbeitspensum von 100 %
erfüllte und als voll integriert galt. Da im Übrigen für die Belange der
Invaliditätsbemessung eine Bezugnahme auf den gesamten in den Betracht
fallenden Arbeitsmarkt zu erfolgen hat, ist auch daran zu erinnern, dass es für
Pharmaassistentinnen offenbar Stellen gibt, die körperlich weniger belastend
sind. Die Versicherte hat sich denn auch auf eine solche beworben, ihre
Bemühungen blieben allerdings erfolglos, wofür nicht medizinische Gründe
ausschlaggebend waren.

5.
5.1 Nicht geprüft hat die Vorinstanz den Anspruch der Beschwerdeführerin nach
Massgabe von Art. 8 Abs. 1 lit. a IVG in der seit 1. Januar 2008 geltenden
Fassung (5. IV-Revision). Mit Bezug auf die Frage nach der drohenden
Invalidität, welche laut dieser Bestimmung Anspruch auf
Eingliederungsmassnahmen, worunter Umschulung, verleiht, lässt der
vorinstanzliche Entscheid sachbezügliche tatbeständliche Feststellungen
vermissen. Die Vorinstanz hat den rechtserheblichen Sachverhalt in diesem Punkt
in Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes (Art. 61 lit. c ATSG) unvollständig
festgestellt, weshalb das Bundesgericht nicht daran gebunden ist und die
tatbeständlichen Darlegungen von Amtes wegen ergänzen kann. Der
letztinstanzlich eingereichte Bericht der Frau Dr. med. S.________ vom 30. Juni
2009 kann demnach in die Beurteilung miteinbezogen werden, zumal er nur knapp
acht Monate nach Erlass der Ablehnungsverfügung (vom 6. November 2008)
erstattet wurde, Rückschlüsse auf die Situation zu dem für die richterliche
Beurteilung massgeblichen Zeitpunkt des Verfügungserlasses erlaubt und der
angefochtene Entscheid Anlass zu dessen Einreichung gegeben hat (Art. 99 Abs. 1
BGG). Die Ärztin der Rehabilitationsklinik Y.________ nahm im erwähnten Bericht
Stellung zur Arbeitsunfähigkeit der Versicherten als Pharmaassistentin und wies
darauf hin, dass diese im Verlauf der Berufstätigkeit zunehmend an
Rückenschmerzen gelitten habe, die regelmässig medizinische Behandlung
erforderten. Prognostisch äusserte sich Frau Dr. med. S.________ dahin, dass
sie längerfristig mit einer weiteren Zunahme der Rückenschmerzen im Verlauf
rechne, weshalb sie eine Umschulung auf einen Beruf befürworte, der auch
zwischenzeitlich sitzend ausgeübt werden könne. Weiter erachtete sie es als
wichtig, dass Anpassungen der Arbeitssituation und der Arbeitsfähigkeit
zeitgerecht erfolgten, um ein Dekompensieren zu vermeiden und damit
mehrmonatige Arbeitsunfähigkeiten und stationäre Aufenthalte zu verhindern.
Sodann ging die Zürich Versicherungs-Gesellschaft, bei welcher die
Beschwerdeführerin für die Folgen des Unfalls vom 17. November 2001 versichert
war, in der Verfügung betreffend Integritätsentschädigung vom 14. Februar 2008
aufgrund der ärztlichen Angaben des Spitals W.________ und der
Rehabilitationsklinik Y.________ davon aus, dass sich der Integritätsschaden
voraussichtlich verschlimmern werde, wovon auch die Arbeitsfähigkeit betroffen
sein dürfte.

5.2 Die Angaben der Frau Dr. med. S.________ im nachträglich eingereichten
Bericht vom 30. Juni 2009 deuten darauf hin, dass die Beschwerdeführerin, wenn
auch aktuell nicht in anspruchsbegründendem Ausmass invalid, so doch im Sinne
von Art. 8 Abs. 1 IVG von einer Invalidität bedroht sein könnte und daher
gemäss Art. 17 Abs. 1 IVG Anspruch auf Umschulung auf eine neue
Erwerbstätigkeit hat, wenn die übrigen Voraussetzungen nach dieser Bestimmung
erfüllt sind. Die Verwaltung, an welche die Sache zurückzuweisen ist, wird
gestützt auf zusätzliche Abklärungen in medizinischer Hinsicht prüfen, ob die
Voraussetzungen für den Leistungsanspruch nach Art. 8 Abs. 1 und 17 Abs. 1 IVG
erfüllt sind und hernach über die Umschulung neu verfügen.

6.
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden
IV-Stelle aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Diese hat der Beschwerdeführerin
überdies eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
In teilweiser Gutheissung der Beschwerde werden der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 20. Mai 2009 und die Verfügung der
IV-Stelle Bern vom 6. November 2008 aufgehoben. Die Sache wird an die IV-Stelle
Bern zurückgewiesen, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der
Erwägungen, über den Anspruch auf Umschulung neu verfüge.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Bern
zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 30. Oktober 2009

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Widmer