Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 533/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_533/2009

Urteil vom 16. Oktober 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Kernen, Seiler,
Gerichtsschreiber Traub.

Parteien
Sozialversicherungsanstalt des Kantons Graubünden, AHV-Ausgleichskasse,
Ottostrasse 24, 7000 Chur,
Beschwerdeführerin,

gegen

D.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Andrea Cantieni,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Ergänzungsleistung zur AHV/IV,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden
vom 12. Mai 2009.

Sachverhalt:

A.
Die AHV-Ausgleichskasse des Kantons Graubünden sprach D.________ mit Wirkung ab
Januar 2008 eine monatliche Ergänzungsleistung von Fr. 1749.- zu (durch
Einspracheentscheid vom 5. Januar 2009 bestätigte Verfügung vom 14. November
2008). Der Berechnung dieser Leistung legte sie unter anderem eine
Pensionskassenrente von Fr. 1482.- monatlich zugrunde; indessen zahlte die
Vorsorgeeinrichtung zufolge teilweiser Verrechnung mit einer Rückforderung ab
September 2008 tatsächlich bloss ein Betreffnis von Fr. 1000.- aus.

B.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden hiess die gegen den
Einspracheentscheid vom 5. Januar 2009 erhobene Beschwerde gut und wies die
Sache im Sinne der Erwägungen zur Neuberechnung des Anspruchs ab September 2008
an die Ausgleichskasse zurück (Entscheid vom 12. Mai 2009).

C.
Die Ausgleichskasse führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
mit dem Rechtsbegehren, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben.

D.________ und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine
Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
1.1 Die Pensionskasse hat dem Beschwerdegegner unbestrittenermassen
Rentenleistungen im Betrag von insgesamt Fr. 47'456.- zuviel ausgerichtet. Im
Rahmen einer Verrechnung zahlt sie dem Versicherten die Rente aus beruflicher
Vorsorge in einem monatlich um Fr. 482.- reduzierten Umfang (von Fr. 1000.-)
aus. Strittig ist die Rechtmässigkeit des Verwaltungsentscheids, dem
Beschwerdegegner bei der Bemessung der Ergänzungsleistung den von der
Vorsorgeeinrichtung einbehaltenen Betrag mit der Begründung als Einkommen
anzurechnen, die Hinnahme einer unzulässigen Verrechnung bedeute einen
Einnahmenverzicht.

1.2 Die jährliche Ergänzungsleistung entspricht dem Betrag, um den die
anerkannten Ausgaben die anrechenbaren Einnahmen übersteigen (Art. 9 Abs. 1
ELG). Unter letztere fallen gemäss Art. 11 Abs. 1 lit. d Renten, Pensionen und
andere wiederkehrende Leistungen, einschliesslich der Renten der AHV und der
IV. Als Einkommen anzurechnen sind im Weiteren auch Einkünfte und
Vermögenswerte, auf die verzichtet worden ist (Art. 11 Abs. 1 lit. g ELG). Eine
Verzichtshandlung liegt vor, wenn die versicherte Person ohne rechtliche
Verpflichtung auf Vermögen verzichtet hat, wenn sie einen Rechtsanspruch auf
bestimmte Einkünfte und Vermögenswerte hat, davon aber faktisch nicht Gebrauch
macht bzw. ihre Rechte nicht durchsetzt, oder wenn sie aus von ihr zu
verantwortenden Gründen von der Ausübung einer möglichen und zumutbaren
Erwerbstätigkeit absieht (AHI 2001 S. 132 E. 1b mit Hinweisen, P 18/99).

1.3 Im Rahmen von Art. 11 Abs. 1 lit. d ELG anrechenbar sind nur Einnahmen,
welche die versicherte Person tatsächlich erhalten hat und über welche sie im
Zeitpunkt der Beanspruchung von Ergänzungsleistungen in rechtlich
ungeschmälerter Weise verfügen kann (SVR 2009 EL Nr. 3 S. 9 E. 5.1, P 68/06,
vgl. dazu SZS 2009 S. 155 ff.; SVR 2009 EL Nr. 4 S. 14 E. 5.2, P 2/07). Dies
ist mit Bezug auf den verrechnungsweise einbehaltenen Teil der Rente aus
beruflicher Vorsorge nicht der Fall. Zu prüfen ist daher allein die Rechtsfrage
(Art. 95 BGG), ob es sich dabei um Verzichtseinkommen im Sinne von Art. 11 Abs.
1 lit. g ELG handelt, weil die Verrechnung unzulässig in das Existenzminimum
eingreift und sie deswegen nicht gerichtlich durchsetzbar wäre (Art. 125 Ziff.
2 OR; BGE 128 V 50 E. 4a S. 53; SVR 2009 EL Nr. 3 S. 10 E. 6, P 68/06).
1.4
1.4.1 Das kantonale Gericht stellte - für das Bundesgericht grundsätzlich
verbindlich (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG) - fest, der Versicherte habe monatliche
Rentenansprüche über Fr. 4585.-; die Rente der Invalidenversicherung betrage
Fr. 3103.-, diejenige der beruflichen Vorsorge Fr. 1482.-. Das
betreibungsrechtliche Existenzminimum liege gemäss dem Einspracheentscheid der
Ausgleichskasse bei Fr. 4514.-, nach Berechnung des Betreibungsamtes vom 19.
Februar 2009 bei Fr. 4535.-. Die Einnahmen überträfen das Existenzminimum somit
lediglich um Fr. 71.- oder Fr. 50.-. Die Verrechnung durch die
Vorsorgeeinrichtung im Umfang von Fr. 482.- greife erheblich in den Notbedarf
des Versicherten ein. Dennoch sei ein Verzicht im Sinne von Art. 11 Abs. 1 lit.
g ELG zu verneinen. Der Versicherte habe auf den Rentenanspruch nicht
verzichtet; einzig die Auszahlungsmodalitäten erführen eine Änderung, indem ein
Teil der Rente zur Tilgung des Rückforderungsanspruchs der Vorsorgeeinrichtung
verwendet werde. Der verrechnete Betrag dürfe demnach nicht als Einnahme im
Sinne von Art. 11 Abs. 1 lit. g ELG angerechnet werden.
1.4.2 Die beschwerdeführende Ausgleichskasse macht geltend, der Versicherte
habe die Möglichkeit, sich gegenüber der Pensionskasse gegen die Verrechnung zu
wehren; daher sei der betreffende Betrag bei der Berechnung der
Ergänzungsleistung als Verzichtseinkommen anzurechnen. Die Betrachtungsweise
des kantonalen Gerichts führe dazu, dass "die Pensionskassen regelmässig
Rückforderungen in das Existenzminimum hinein verrechnen könnten" und die
EL-Stellen den zu Unrecht verrechneten Betrag über die Ergänzungsleistung
auszugleichen hätten, sofern sich die versicherte Person gegen die
(ungerechtfertigte) Rückforderung nicht wehre. Die EL würde so dazu
missbraucht, eine (aktuell nicht durchsetzbare) Rückforderung der Pensionskasse
zu begleichen. Der angefochtene Entscheid verletze Art. 11 Abs. 1 lit. g ELG.

2.
2.1 Das kantonale Gericht hält zunächst zutreffend fest, dass die
Ergänzungsleistung bei der Festsetzung des Notbedarfs (entgegen der Meinung der
im vorinstanzlichen Verfahren beigeladenen Pensionskasse) nicht berücksichtigt
werden darf. Im Übrigen kann der Vorinstanz jedoch nicht gefolgt werden. Soweit
die Verrechnung einen Eingriff in das Existenzminimum des Beschwerdegegners
bedeutet, ist sie unzulässig (Art. 125 Ziff. 2 OR; SVR 2009 EL Nr. 3 S. 10 E.
6, P 68/06). Die Hinnahme einer unrechtmässigen Verrechnung kommt einem
Verzicht gleich (a.a.O. E. 7.2). Mit der beschwerdeführenden Ausgleichskasse
ist auch hier ein Einnahmeverzicht im Sinne von Art. 11 Abs. 1 lit. g ELG
anzunehmen, soweit der unbedingt erforderliche Unterhalt des Versicherten und
seiner Familie wegen der Tilgung der Rückforderung nicht mehr gewährleistet ist
(vgl. Art. 125 Ziff. 2 OR). Es besteht offenkundig keine gesetzliche Handhabe,
um das von der Rückforderungsgläubigerin zu tragende Ausfallrisiko der für die
Ergänzungsleistungen aufkommenden öffentlichen Hand (Art. 13 ELG) aufzubürden.

2.2 Unterschreitet der Existenzbedarf des Beschwerdegegners (nach Berechnung
des zuständigen Betreibungsamts von Fr. 4535.-) dessen Renteneinkommen um Fr.
50.- (oben E. 1.4.1), so ist die Vorsorgeeinrichtung höchstens berechtigt,
diesen "Überschuss" zu verrechnen. Verfährt sie derweise, so hätte die
Beschwerdeführerin das anzurechnende Verzichtseinkommen entsprechend zu
reduzieren.

3.
Umständehalber wird auf die Erhebung von Gerichtskosten verzichtet (Art. 66
Abs. 1 Satz 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird im Sinne der Erwägungen gutgeheissen und der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden vom 12. Mai 2009 aufgehoben.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 16. Oktober 2009

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Traub