Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 41/2009
Zurück zum Index II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2009
Retour à l'indice II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2009


Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_41/2009

Urteil vom 24. April 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Seiler, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber Schmutz.

Parteien
O.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Markus Wydler,

gegen

IV-Stelle des Kantons Thurgau, St. Gallerstrasse 13, 8500 Frauenfeld,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom
26. November 2008.

Sachverhalt:

A.
O.________, geboren 1954, arbeitete als Betriebsmitarbeiter der Firma
X.________, bis er am 31. Oktober 2003 die Stelle wegen Produktionsverlagerung
ins Ausland verlor. In der Folge beanspruchte er Leistungen der
Arbeitslosenversicherung und der Krankentaggeldversicherung. Am 22. August 2005
(Eingang) meldete er sich bei der Invalidenversicherung zum Rentenbezug an. Die
IV-Stelle des Kantons Thurgau holte Informationen zur gesundheitlichen,
erwerblichen und persönlichen Situation des Versicherten ein und liess ihn am
Zentrum Y.________ polydisziplinär untersuchen und beurteilen (Gutachten vom
30. Mai 2007). Mit Vorbescheid vom 22. Juni 2007 und Verfügungen vom 5. Juli
2008 verneinte die IV-Stelle den Anspruch auf eine Invalidenrente
(Invaliditätsgrad 38,55 %) und berufliche Massnahmen.

B.
Die gegen den Rentenentscheid erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht
des Kantons Thurgau mit Entscheid vom 26. November 2008 ab, wobei es einen
Invaliditätsgrad von höchstens 31,5 % errechnete.

C.
O.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Er
beantragt Aufhebung des kantonalen Entscheides und Rückweisung der Sache zur
Neubeurteilung nach ergänzenden Untersuchungen; eventualiter sei festzustellen,
dass ihm bei einem Invaliditätsgrad von über 40 % ab 1. August 2006 eine
Viertelsinvalidenrente zustehe; ferner beantragt er die unentgeltliche
Rechtspflege.

Vorinstanz, IV-Stelle und Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf
Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann
wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG erhoben werden. Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung
der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig
ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105
Abs. 2 BGG; vgl. BGE 132 V 393 zur auch unter der Herrschaft des BGG gültigen
Abgrenzung von Tat- und Rechtsfragen im Bereich der Invaliditätsbemessung [Art.
16 ATSG] für die Ermittlung des Invaliditätsgrades nach Art. 28 Abs. 1 IVG).

2.
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, indem die
Vorinstanz entgegen der IV-Stelle und völlig überraschend die gutachterlich
festgestellte Reduktion der Leistungsfähigkeit um 30 % nicht als
invalidisierend anerkannt habe.

2.1 Der Anspruch auf rechtliches Gehör bezieht sich insbesondere auf die
Feststellung des Sachverhaltes; die Befugnis der Parteien, zu rechtlichen
Fragen angehört zu werden, ist eingeschränkt. Im Allgemeinen ist das Gericht in
Anwendung des Grundsatzes "iura novit curia" in der rechtlichen Würdigung des
Sachverhaltes frei und kann sich dabei auch auf andere Rechtsnormen als die von
den Parteien angerufenen abstützen. Die Parteien sind ausnahmsweise dann
anzuhören, wenn das Gericht seinem Entscheid eine Rechtsnorm oder einen
Grundsatz zu Grunde zu legen gedenkt, der im vorangehenden Verfahren nicht zur
Sprache gekommen ist, auf den sich keine Partei berufen hat und dessen
Erheblichkeit die Parteien im konkreten Fall auch nicht voraussehen konnten
(BGE 133 III 139 [Urteil 4P.168/2006 vom 19. Februar 2007] nicht publ. E. 7.1;
130 III 35 E. 5 S. 38; je mit Hinweisen).

2.2 Demnach bezieht sich der Anspruch auf rechtliches Gehör primär auf
Sachverhaltsfragen und nur ausnahmsweise auf deren rechtliche Würdigung. Die
Rechtsfragen sind vom kantonalen Gericht von Amtes wegen (Art. 110 BGG) zu
prüfen und die Parteien haben damit ohne Weiteres zu rechnen. Der
Beschwerdeführer konnte sich zu solchen Fragen im kantonalen
Beschwerdeverfahren uneingeschränkt äussern, es bestand jedoch kein Anspruch
darauf, vom Gericht aufgefordert zu werden, sich in rechtlicher Hinsicht
nochmals speziell zur rechtlichen Würdigung des Gutachtens zu vernehmen, lag
doch keine der in E. 2.1 dargelegten Ausnahmen vor.

3.
Das Sozialversicherungsgericht beurteilt die Gesetzmässigkeit der angefochtenen
Verfügung in der Regel nach dem Sachverhalt, der bis zum Abschluss des
Verwaltungsverfahrens (hier der Verfügung vom 5. Juli 2008) eingetreten war.
Tatsachen, die jenen Sachverhalt seither verändert haben, sollen im Normalfall
Gegenstand einer neuen Verwaltungsverfügung sein (BGE 131 V 242 E. 2.1 S. 243;
121 V 362 E. 1b S. 366). Die in der Beschwerde geltend gemachten Entwicklungen
nach Erlass der Verfügung sind hier nicht zu berücksichtigen.

4.
Streitig ist der Anspruch auf eine Invalidenrente. Das kantonale Gericht hat
die zur Beurteilung einschlägigen Rechtsgrundlagen zutreffend dargelegt. Darauf
wird verwiesen.

4.1 Die Frage, ob eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung vorliegt und
bejahendenfalls, ob eine psychische Komorbidität oder weitere Umstände und in
welcher Intensität gegeben sind, die eine Schmerzbewältigung mit zumutbarer
Willensanstrengung behindern, betrifft den rechtserheblichen Sachverhalt.
Diesbezügliche Feststellungen der Vorinstanz prüft das Bundesgericht somit
lediglich unter eingeschränktem Blickwinkel (E. 1). Dagegen überprüft es frei,
ob Art und Ausmass der festgestellten psychischen Komorbidität sowie Intensität
und Konstanz einzelner oder mehrerer weiterer Kriterien ausreichen, um den
invalidisierenden Charakter der somatoformen Schmerzstörung zu bejahen (SVR
2008 IV Nr. 23, I 683/06 E. 2.2; vgl. auch 132 V 393 E. 3.2 in fine S. 399).

4.2 Dass die Vorinstanz sich sachverhaltlich auf das Gutachten des Zentrums
Y.________ gestützt hat, wird vom Beschwerdeführer zu Recht nicht beanstandet.
Die Expertise entspricht den Beweisanforderungen, dies allerdings mit folgendem
Vorbehalt: Das Gutachten und ihm folgend die Vorinstanz haben somatisch (nach
Abklärung des allgemein-internistischen, des orthopädischen, des neurologischen
und des HNO-Status) keine wesentliche Einschränkung der Arbeitsfähigkeit in
angepasster Tätigkeit festgestellt, was vom Beschwerdeführer nicht in Frage
gestellt wird. In der Gesamtbeurteilung ist in angepassten Tätigkeiten eine
Arbeitsunfähigkeit von 30 % rein aus psychiatrischer Sicht angenommen worden.
Im psychiatrischen Teilgutachten hat der Experte Dr. med. A.________ eine
leichte bis höchstens mittelgradige depressive Störung bestätigt, die aber die
Arbeitsfähigkeit nicht erheblich beeinträchtige; effektiver eingeschränkt werde
der Beschwerdeführer durch das Schmerzsyndrom, welches überwiegend im Sinne
einer Somatisierung bei organischem Kern anzusehen sei. Mit diesem
gutachterlichen Befund ist ein somatoformes Leiden im Sinne der Rechtsprechung
BGE 130 V 352 erstellt. Die Vorinstanz hat diese angewandt und insofern mit
Recht die gutachterliche Annahme einer reduzierten Arbeitsfähigkeit
hinterfragt. Mit Ausnahme gewisser körperlicher Begleiterkrankungen hat sie das
Vorliegen der Voraussetzungen für ein ausnahmsweises Abweichen vom rechtlichen
Grundsatz verneint, dass eine somatoforme Schmerzstörung als solche in der
Regel keine lang dauernde, zu einer Invalidität führende Einschränkung der
Arbeitsfähigkeit zu bewirken vermag. Die übrigen Voraussetzungen sind auch nach
den Vorbringen des Beschwerdeführers nicht erfüllt; namentlich ist auch bei
Zugrundelegung seiner Sachverhaltsdarstellung keine konsequente antidepressive
Therapie durchgeführt worden.

4.3 Die Vorinstanz hat entgegen der Darstellung des Beschwerdeführers die
Voraussetzungen nicht als kumulativ verlangt dargestellt, sie ist aber mit
Recht davon ausgegangen, dass eine einzige dieser Voraussetzungen (gewisse
körperliche Begleiterscheinungen) für sich allein nicht genügt für die Annahme
der Nichtüberwindbarkeit der Beschwerden, zumal gerade diese
Begleiterscheinungen die Arbeitsfähigkeit in einer angepassten Tätigkeit gar
nicht einschränken. Sie hat insgesamt mit Recht den invalidisierenden Charakter
des diagnostizierten Schmerzsyndroms verneint. Bei dieser Ausgangslage sind die
beschwerdeführerischen Ausführungen zum Einkommensvergleich und zum
leidensbedingten Abzug hinfällig, da so oder anders kein rentenbegründender
Invaliditätsgrad resultieren kann.

5.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdeführer die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Seinem Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege kann jedoch entsprochen werden (Art. 64 BGG; BGE 125 V 201 E. 4a
S. 202). Es wird indessen ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er der
Gerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn er später dazu in der Lage ist (Art.
64 Abs. 4 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indes
vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.

4.
Rechtsanwalt Markus Wydler wird als unentgeltlicher Anwalt des
Beschwerdeführers bestellt, und es wird ihm für das bundesgerichtliche
Verfahren aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'547.85
ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 24. April 2009

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Schmutz