Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 371/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_371/2009

Urteil vom 21. August 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Seiler, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiberin Keel Baumann.

Parteien
C.________, vertreten durch Beratungsstelle für Ausländer,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
11. März 2009.

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 28. Juli 2008 sprach die IV-Stelle des Kantons Aargau der
1950 geborenen C.________ für die Zeit vom 1. Dezember 2003 bis 31. Januar 2005
eine ganze Rente zu.

B.
Beschwerdeweise liess C.________ sinngemäss beantragen, die angefochtene
Verfügung sei aufzuheben und es sei ihr über den 31. Januar 2005 hinaus eine
ganze Invalidenrente auszurichten. Mit Entscheid vom 11. März 2009 wies das
Versicherungsgericht des Kantons Aargau, nach vorgängiger Androhung einer
reformatio in peius, die Beschwerde ab, hob die Verfügung vom 28. Juli 2008 auf
und stellte fest, dass die Versicherte keinen Anspruch auf eine Invalidenrente
hat. C.________ wurde die unentgeltliche Prozessführung gewährt.

C.
C.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Rechtsbegehren, es sei der angefochtene Entscheid aufzuheben und ihr
eine ganze Rente der Invalidenversicherung zuzusprechen. Des Weitern ersucht
sie um unentgeltliche Rechtspflege im Sinne der Befreiung von den
Gerichtskosten.
Die IV-Stelle des Kantons Aargau beantragt Abweisung der Beschwerde. Das
Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG)
kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG).
Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie
offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von
Artikel 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des
Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt
seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. Es
kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen
oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG).

2.
Da letztinstanzlich neue Tatsachen und Beweismittel nur so weit vorgebracht
werden dürfen, als erst der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass gibt (Art. 99
Abs. 1 BGG), ist sodann der vor Bundesgericht nachgereichte Bericht der Dr.
med. S.________ vom 15. Mai 2009 nicht zu berücksichtigen.

3.
Im angefochtenen Entscheid werden die für die Beurteilung des
Leistungsanspruchs massgeblichen Grundlagen sowie die diesbezügliche
Rechtsprechung zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

4.
4.1 Die Vorinstanz hat nach umfassender, sorgfältiger und bundesrechtskonformer
Beweiswürdigung (vgl. Art. 61 lit. c ATSG; vgl. auch BGE 132 V 393 E. 4.1 S.
400) zutreffend erkannt, dass die Beschwerdeführerin in der Zeit bis zur
Begutachtung durch das medizinische Zentrum Z.________ (Gutachten vom 23.
Dezember 2004) voll arbeitsfähig war.

Diese Feststellungen der Vorinstanz sind nach der Aktenlage weder
offensichtlich unrichtig noch ist darin eine Verletzung des
Untersuchungsgrundsatzes zu erblicken. Soweit die Beschwerdeführerin die
Unabhängigkeit des medizinischen Zentrums Z.________ in Frage stellt unter
Hinweis auf dessen ausgedehnte Gutachtertätigkeit für die Verwaltung, sei
darauf hingewiesen, dass eine solche rechtsprechungsgemäss keine Befangenheit
zu begründen vermag (SVR 2008 IV Nr. 22 S. 69, 9C_67/2007 E. 2.4). Entgegen der
Behauptung in der Beschwerde wurde im Zumutbarkeitsprofil sodann sehr wohl
berücksichtigt, dass aus rheumatologischer Sicht nur für körperlich leichte,
vorwiegend sitzende Tätigkeiten mit Arbeiten unter den Schulterhorizontalen
eine (volle) Arbeitsfähigkeit bestand. Nicht gefolgt werden kann der
Beschwerdeführerin auch, soweit sie im rheumatologischen Teilgutachten eine
Auseinandersetzung mit den Wirbelschmerzen vermisst, hielt doch die
Rheumatologin Dr. med. V.________ in ihrem Bericht vom 22. Dezember 2004 fest,
dass sich für die von der Versicherten angegebenen Beschwerden in der Hals- und
in der Lendenwirbelsäule sowie im Beckengürtel sowohl klinisch als auch
bildgebend kein strukturelles Korrelat finde. Entgegen der von der
Beschwerdeführerin vertretenen Auffassung bestand sodann für den
psychiatrischen Teilgutachter Dr. med. R.________ (Bericht vom 22. Dezember
2004) kein Anlass, sich mit der Angst, an Krebs zu sterben, zu befassen, da
sich anlässlich der Begutachtung keine Anhaltspunkte für eine solche fanden.

Mit der Vorinstanz ist ein Rentenanspruch für die Zeit bis zur Begutachtung
durch das medizinische Zentrum Z.________ mangels relevanter Arbeits- und
Erwerbsunfähigkeit zu verneinen.

4.2 Was die Folgezeit anbelangt, ging die Vorinstanz - ebenfalls gestützt auf
das Gutachten des medizinischen Zentrums Z.________ vom 23. Dezember 2004 -
davon aus, dass die Beschwerdeführerin in einer körperlich leichten, vorwiegend
sitzenden Tätigkeit mit Arbeiten unter der Schulterhorizontalen aus
rheumatologischer Sicht ebenfalls voll und aus psychiatrischer Sicht zu 70 %
arbeitsfähig gewesen sei.

Die Versicherte wirft der Vorinstanz vor, übersehen zu haben, dass es seit der
Begutachtung durch das medizinische Zentrum Z.________ zu einer
Verschlechterung des Gesundheitszustandes gekommen sei. Sie beruft sich in
diesem Zusammenhang - wie bereits im vorinstanzlichen Verfahren - auf die
Berichte des Dr. med. R.________, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie,
vom 5. Oktober 2008 und die verschiedenen Berichte der Hausärztin Dr. med.
S.________, Fachärztin für Allgemeine Medizin, welche die Vorinstanz als nicht
beweiskräftig erachtete. Indem das kantonale Gericht indessen auch für die
Beurteilung der Arbeitsfähigkeit in den dreieinhalb Jahren zwischen der
Begutachtung (Dezember 2004) und dem Zeitpunkt der Rentenverfügung (Juli 2008)
(allein) auf die Einschätzung der Ärzte des medizinischen Zentrums Z.________
vom 23. Dezember 2004 abstellte, hat es den Sachverhalt unvollständig
festgestellt. Da die Akten diesbezüglich nicht spruchreif sind, wird die Sache
an die IV-Stelle zurückgewiesen, damit sie weitere medizinische Abklärungen
(insbesondere rheumatologische und psychiatrische Begutachtung) zur Frage der
Arbeitsfähigkeit in der Zeit nach der Begutachtung vornehme, den
Invaliditätsgrad gegebenenfalls neu ermittle und anschliessend über den
Rentenanspruch neu verfüge.

5.
Dieses Ergebnis ist als teilweises Obsiegen zu betrachten, weshalb der durch
die Beratungsstelle für Ausländer vertretenen Beschwerdeführerin für das
Verfahren vor Bundesgericht eine reduzierte Parteientschädigung zusteht (Art.
68 Abs. 1 und 2 BGG; vgl. Urteil 8C_430/2007 vom 9. Oktober 2007 E. 3) und die
Gerichtskosten den Parteien anteilsmässig auferlegt werden (Art. 66 Abs. 1
BGG). Soweit das von der Versicherten gestellte Gesuch um unentgeltliche
Prozessführung damit nicht gegenstandslos wird, kann ihm entsprochen werden
(Art. 64 Abs. 1 BGG). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG
aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu
leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
In teilweiser Gutheissung der Beschwerde werden der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 11. März 2009 im Sinne der
Erwägungen teilweise und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Aargau vom 28.
Juli 2008 vollständig aufgehoben. Die Sache wird an die Verwaltung
zurückgewiesen, damit sie im Sinne der Erwägungen verfahre.

2.
Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Prozessführung gewährt.

3.
Von den Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin Fr. 125.-
und der Beschwerdegegnerin Fr. 375.- auferlegt. Der Anteil der
Beschwerdeführerin wird vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.

4.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 1000.- zu entschädigen.

5.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons Aargau
zurückgewiesen.

6.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 21. August 2009

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Meyer Keel Baumann