Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 368/2009
Zurück zum Index II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2009
Retour à l'indice II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2009


Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_368/2009

Urteil vom 17. Juli 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Seiler, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber Fessler.

Parteien
B.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dieter Studer,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Thurgau,
St. Gallerstrasse 13, 8500 Frauenfeld,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau
vom 18. März 2009.

Sachverhalt:

A.
Die 1966 geborene B.________ unterzog sich im März 2004 einer
Bandscheibenoperation L5/S1. Im November und Dezember 2004 wurden zwei
Bauchoperationen durchgeführt (Entfernung der Gebärmutter und Lösen eines
Darmverschlusses). Im Oktober 2005 meldete sich B.________ bei der
Invalidenversicherung an und beantragte eine Rente. Nach Abklärungen und nach
Durchführung des Vorbescheidverfahrens sprach ihr die IV-Stelle des Kantons
Thurgau mit Verfügungen vom 12. September 2008 für die Zeit vom 1. März 2005
bis 31. Januar 2007 und ab 1. Juni 2007 eine halbe Invalidenrente sowie für die
Monate Februar bis Mai 2007 eine ganze Invalidenrente, je samt drei
Kinderrenten zu.

B.
Die Beschwerde der B.________ wies das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau
als Versicherungsgericht nach zweifachem Schriftenwechsel mit Entscheid vom 18.
März 2009 ab.

C.
B.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 18. März 2009 sei aufzuheben und ihr
rückwirkend ab 1. März 2005 mindestens eine Dreiviertelsrente zuzusprechen,
eventualiter die Sache zur weiteren Abklärung und Neufestsetzung der Leistungen
an die IV-Stelle zurückzuweisen.
Kantonales Gericht und IV-Stelle stellen keinen Antrag zur Beschwerde. Das
Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

D.
In einer weiteren Eingabe nach Abschluss des Schriftenwechsels hat sich der
Rechtsvertreter von B.________ zur Stellungnahme des kantonalen Gerichts
geäussert.

Erwägungen:

1.
Die Vorinstanz hat die Invalidität in Anwendung der gemischten Methode (vgl.
Art. 28a Abs. 3 IVG und BGE 125 V 146) bemessen. Die Anteile der
Erwerbstätigkeit (= ohne gesundheitliche Beeinträchtigung geleistetes
Arbeitspensum als kaufmännische Angestellte; 0,8) und der Beschäftigung im
Aufgabenbereich Haushalt (0,2) sind unbestritten. Den Invaliditätsgrad im
erwerblichen Bereich hat die Vorinstanz durch Einkommensvergleich ermittelt
(Art. 16 ATSG in Verbindung mit Art. 28a Abs. 1 IVG). Dabei hat sie die ohne
und mit Behinderung erzielbaren Einkommen auf derselben Grundlage
(Salärempfehlung 2006 KV Schweiz) bestimmt. Diesfalls entspricht der
Invaliditätsgrad dem Grad der Arbeitsunfähigkeit bezogen auf das erwerbliche
Arbeitspensum ohne gesundheitliche Beeinträchtigung unter Berücksichtigung des
Abzuges vom Tabellenlohn gemäss BGE 126 V 75 (Urteil des Eidg.
Versicherungsgerichts I 295/06 vom 19. September 2006 E. 3.2.3). Die Vorinstanz
hat keinen Abzug vom Tabellenlohn vorgenommen, was die Beschwerdeführerin als
bundesrechtswidrig rügt (vgl. E. 2.3.2). Bei einem Normalarbeitspensum von 8,34
Stunden im Tag und einem zumutbaren Pensum von 4,5 Stunden mit einer
Leistungseinschränkung von 50 % ergab sich ein Invaliditätsgrad von 66,28 % ([1
- [4,5/2]/[0,8 x 8,34] x 100 %). Die gesundheitlich bedingte Einschränkung im
Aufgabenbereich Haushalt hat das kantonale Gericht auf 30,5 % beziffert.
Diesbezüglich wird gerügt, die Vorinstanz habe in Verletzung des
Untersuchungsgrundsatzes nicht geprüft, ob zwischen den beiden
Tätigkeitsbereichen Wechselwirkungen bestehen, welche gemäss BGE 134 V 9 beim
gewichtsmässig weniger bedeutsamen Aufgabenbereich Haushalt zu berücksichtigen
seien (vgl. E. 2.3.3). Die Berechnung des kantonalen Gerichts hat - für die
Zeit vom 1. März 2005 bis 31. Januar 2007 und ab 1. Juni 2007 - einen
Invaliditätsgrad von insgesamt 59 % (0,8 x 66,28 % + 0,2 x 30,5 %; zum Runden
BGE 130 V 121) ergeben.

2.
2.1 Wird das Invalideneinkommen auf der Grundlage von statistischen
Durchschnittswerten ermittelt, ist der entsprechende Ausgangswert
(Tabellenlohn) allenfalls zu kürzen. Damit soll der Tatsache Rechnung getragen
werden, dass persönliche und berufliche Merkmale, wie Art und Ausmass der
Behinderung, Lebensalter, Dienstjahre, Nationalität oder Aufenthaltskategorie
und Beschäftigungsgrad (vgl. LSE 94 S. 51) Auswirkungen auf die Lohnhöhe haben
können (BGE 124 V 321 E. 3b/aa S. 323) und je nach Ausprägung die versicherte
Person deswegen die verbliebene Arbeitsfähigkeit auch auf einem ausgeglichenen
Arbeitsmarkt nur mit unterdurchschnittlichem erwerblichem Erfolg verwerten kann
(BGE 126 V 75 E. 5b/aa in fine S. 80). Der Abzug ist unter Würdigung der
Umstände im Einzelfall nach pflichtgemässem Ermessen gesamthaft zu schätzen. Er
darf 25 % nicht übersteigen (BGE 126 V 75 E. 5b/bb-cc S. 80; Urteil 9C_469/2008
vom 18. August 2008 E. 5.1).
Die Frage nach der Höhe des (im konkreten Fall grundsätzlich angezeigten)
Abzuges vom Tabellenlohn ist eine typische Ermessensfrage. Deren Beantwortung
ist letztinstanzlicher Korrektur nur mehr dort zugänglich, wo das kantonale
Gericht das Ermessen rechtsfehlerhaft ausgeübt hat, also
Ermessensüberschreitung, -missbrauch oder -unterschreitung vorliegt (BGE 132 V
393 E. 3.3 S. 399; vgl. auch BGE 126 V 75 E. 6 S. 81; Urteil 9C_469/2008 vom
18. August 2008 E. 5.1).

2.2 Die Vorinstanz hat zur Frage eines Abzugs vom Tabellenlohn erwogen, mit der
Einschränkung der Leistungsfähigkeit um 50 % gemäss MEDAS-Gutachten vom 15.
April 2008 sei der behinderungsbedingten Verlangsamung bei der halbtägigen
Ausübung der Tätigkeit als Sekretärin infolge der ständigen
Körperpositionswechsel hinreichend Rechnung getragen. Der körperlichen
Einschränkung könne durchaus mit einem Stehpult und einem Sitzarbeitsplatz
begegnet werden. Sodann sollte es für den Arbeitgeber kein Problem sein, der
Versicherten einen Raum zur Verfügung zu stellen, in dem sie die
Selbstkatheterisierung als Folge der Blasenentleerungsstörung vornehmen könne.
Die Beschwerdeführerin bringe nicht vor, eine Toilette wäre hierfür nicht
geeignet. Es bestünde somit gegenüber den Mitbewerbern kein grösserer
Konkurrenznachteil und daher kein Anlass zur Annahme, sie könne ihre
Erwerbsfähigkeit nur mit unterdurchschnittlichem Erfolg verwerten.
2.3
2.3.1 Es stellt keine rechtsfehlerhafte Ermessensbetätigung dar, dass die
Vorinstanz die bei der Umschreibung der Arbeitsfähigkeit berücksichtigten
Traglimiten und Notwendigkeit häufiger Positionswechsel nicht als
abzugsrelevante Umstände betrachtet hat. Dies gilt auch in Bezug auf das am
Arbeitsplatz benötigte Stehpult. Diesbezüglich wird denn auch einzig geltend
gemacht, ein potenzieller Arbeitgeber würde nicht ohne weiteres eine solche
Investition tätigen. Dem ist entgegenzuhalten, dass es der Beschwerdeführerin
gegebenenfalls zumutbar wäre, selber eine solche Vorrichtung anzuschaffen.
Anderseits stellt es aus betriebswirtschaftlicher Sicht (Auslastung des
Arbeitsplatzes) einen gewissen Nachteil gegenüber gesunden Versicherten dar,
dass sie während der zumutbaren Arbeitszeit von 4,5 Stunden im Tag lediglich
die halbe Leistung zu erbringen vermag (vgl. Urteil 9C_603/2007 vom 8. Januar
2008 E. 4.2.3).
2.3.2 Die Beschwerdeführerin muss wegen der Harnblasenfunktionsstörung mit
hypo- bis kontraktilem Detrusor und Beckenboden-Relaxationsstörung
(MEDAS-Gutachten vom 15. April 2008) mehrmals am Tag einen Katheter zur
Ableitung des in der Blase angesammelten Urins verwenden (intermittierende
Selbstkatheterisierung; Berichte Spital M.________ vom 13. August und 26.
September 2007). Das ist unbestritten. Die Vorinstanz scheint davon auszugehen,
dass hiefür eine allgemein für alle Mitarbeiter zugängliche Toilette genügt.
Diese Annahme kann sich indessen auf keine Unterlagen in den Akten stützen, wie
in der Beschwerde zu Recht gerügt wird. Gegenteils wird im MEDAS-Gutachten
festgehalten, die Versicherte benötige - zusätzlich zu den Anforderungen an den
Arbeitsplatz - zeitlich und räumlich eine Möglichkeit zur
Selbstkatheterisierung. Ob diese Aussage dahingehend zu verstehen ist, dass aus
urologischer Sicht eine gewöhnliche, von allen Mitarbeitern eines Betriebs
benutzte Toilette aus Gründen der Hygiene und der Gefahr eines Harnweginfektes
als ungenügend anzusehen ist, lässt sich nicht sagen. Ein zusätzlich benötigter
Raum, allenfalls ein abschliessbares eigenes Büro mit den notwendigen
(hygienischen) Einrichtungen jedenfalls könnte auch auf einem ausgeglichenen
Arbeitsmarkt einen Nachteil gegenüber gesunden Versicherten darstellen. Dies
gilt insbesondere mit Blick darauf, dass aufgrund der jeden Tag mehrmals
vorzunehmenden Selbstkatheterisierung sich die Gefahr eines Infektes und damit
ein erhöhtes Krankheitsrisiko nicht gänzlich ausschliessen lassen, weshalb die
Versicherte als Arbeitnehmerin für einen potenziellen Arbeitgeber nicht mehr
attraktiv ist, wie in der Beschwerde vorgebracht wird.
2.3.3 In Gesamtwürdigung aller Umstände verletzt die Verneinung eines Abzugs
vom Tabellenlohn durch die Vorinstanz Bundesrecht. Nach der vorinstanzlichen
Invaliditätsbemessung führt ein Abzug von 5 % bei im Übrigen unveränderten
Berechnungsfaktoren (E. 1) zu einem Invaliditätsgrad von 60 %. Ob ein höherer
Abzug vorzunehmen ist, braucht nicht geprüft zu werden. Ebenfalls muss auf die
Frage nach allfälligen Wechselwirkungen zwischen den beiden Tätigkeitsbereichen
nicht näher eingegangen werden. Bei einem maximal zulässigen Abzug vom
Tabellenlohn von 25 % und bei einer wechselwirkungsbedingt um maximal 15 %
höheren Einschränkung im Aufgabenbereich Haushalt resultiert ein
Invaliditätsgrad von 69 % (0,8 x 60 % + 0,2 x 45,5 %). Ein Invaliditätsgrad von
mindestens 60 %, aber weniger als 70 % gibt Anspruch auf eine Dreiviertelsrente
(Art. 28 Abs. 2 IVG).

2.4 Somit hat die Beschwerdeführerin ab 1. März 2005 Anspruch auf eine
Dreiviertelsrente. Die ganze Rente für die Monate Februar bis Mai 2007 ist
unbestritten. Aufgrund der Akten besteht kein Anlass zu einer näheren Prüfung.
Die Beschwerde ist somit begründet.

3.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die IV-Stelle die Gerichtskosten zu
tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung
zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Thurgau als Versicherungsgericht vom 18. März 2009 und die Verfügungen
der IV-Stelle des Kantons Thurgau vom 12. September 2008 werden aufgehoben und
es wird festgestellt, dass die Beschwerdeführerin ab 1. März 2005 bis 31.
Januar 2007 und ab 1. Juni 2007 Anspruch auf eine Dreiviertelsrente und für die
Monate Februar bis Mai 2007 Anspruch auf eine ganze Rente hat.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der IV-Stelle des Kantons Thurgau
auferlegt.

3.
Die IV-Stelle des Kantons Thurgau hat die Beschwerdeführerin für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen.

4.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau als Versicherungsgericht hat die
Gerichtskosten und die Parteientschädigung für das vorangegangene Verfahren neu
festzusetzen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau,
der Ausgleichskasse des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 17. Juli 2009
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Fessler