Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 342/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_342/2009

Urteil vom 23. Juni 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Seiler, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber Schmutz.

Parteien
D.________, vertreten durch Rechtsanwalt Christian Affentranger,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle Luzern, 6002 Luzern, Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern
vom 16. März 2009.

Sachverhalt:

A.
D.________, geboren 1959, meldete sich am 30. Juni 2003 bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug (medizinische
Eingliederungsmassnahmen, Rente) an. Gemäss ihren Angaben litt sie unter
Schmerzen an der Wirbelsäule, Blockaden in den Beinen und Händen,
Magenbeschwerden, diversen Allergien, Rheuma und Arthrose. Die IV-Stelle Luzern
holte Auskünfte früherer Arbeitgeber und Berichte behandelnder Ärzte ein. Am
21. Januar 2004 verfügte sie Beratung und Unterstützung bei der Stellensuche.
Des Weiteren gab sie bei Dr. med. M.________, Spezialarzt FMH für Psychiatrie
und Psychotherapie, Expertisen in Auftrag (vom 12. Dezember 2004 und 8. Juni
2006). Mit Verfügung vom 23. Juni 2006 und Einspracheentscheid vom 15. August
2008 verneinte sie den Anspruch auf Leistungen der Invalidenversicherung, weil
kein Gesundheitsschaden mit Auswirkungen auf die Erwerbsfähigkeit vorliege.

B.
Die hiegegen eingereichte Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons
Luzern mit Entscheid vom 16. März 2009 ab, da kein Invaliditätsgrad gegeben
sei, weil die Versicherte in einer Verweisungstätigkeit mehr verdienen könne
als in der bisherigen Beschäftigung als Servicehilfskraft.

C.
D.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Antrag auf Aufhebung des kantonalen Entscheides und Zusprechung einer
ganzen Invalidenrente ab 1. Mai 2003; eventualiter sei die Sache zur Abklärung
an die IV-Stelle zurückzuweisen; ferner beantragt sie die unentgeltliche
Rechtspflege.

Verwaltung und Vorinstanz schliessen auf Abweisung der Beschwerde; das
Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzung gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht legt
seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat
(Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen
nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf
einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht, einschliesslich einer
allfälligen rechtsfehlerhaften Tatsachenfeststellung, wozu auch die
unvollständige Tatsachenermittlung zählt (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.
Streitig ist der Anspruch auf eine Invalidenrente. Das kantonale Gericht hat
die zur Beurteilung einschlägigen Rechtsgrundlagen zutreffend dargelegt.

3.
Die Beschwerdeführerin rügt, das kantonale Gericht habe den rechtserheblichen
medizinischen Sachverhalt und die Auswirkungen auf die Arbeits- und
Erwerbsfähigkeit unvollständig festgestellt; sie begründet es damit, das
Verfahren habe sich von den letzten berücksichtigten ärztlichen Befunden bis
zum Einspracheentscheid über beinahe drei Jahre hingezogen; während dieser Zeit
habe sich der Gesundheitszustand erheblich verschlechtert und es seien
zusätzliche Beschwerden mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit diagnostiziert
worden (so z.B. Dermatitis, Auftreten von Schwindel, Carpaltunnelsyndrom
beidseits, chronisch obstruktive Bronchitis; vgl. dazu auch die Berichte Dres.
med. S.________, Kardiologe FMH, vom 18. Februar 2005, W.________,
Rheumatologie FMH, vom 4. Juli 2005, I.________, Innere Medizin FMH, vom 17.
Juli 2005 und 21. September 2008, B.________, Dermatologie FMH/Venerologie, vom
21. September 2006, sowie H.________, Neurologie FMH, vom 7. November 2007 und
18. Juni 2008).

4.
4.1 In psychiatrischer Hinsicht war der Sachverhalt aufgrund der Expertisen des
Dr. med. M.________ vollständig ermittelt und es stand fest, dass unter diesem
Aspekt bis zum Einspracheentscheid keine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit
gegeben war.

4.2 Hingegen fehlte es an einer umfassenden und rechtsgenüglichen Abklärung des
somatischen Leidensbildes sowie einer medizinischen Gesamtwürdigung unter
Einbezug der psychischen Seite. Die Verwaltung hat sich hier in der Tat auf
einen veralteten Sachverhalt abgestützt. Erst das kantonale Gericht hat eine
aktuelle Würdigung unter Berücksichtigung der von der Beschwerdeführerin im
vorinstanzlichen Verfahren eingebrachten Arztberichte nachgeholt. Es hat
erwogen, die Dermatologin Dr. med. B.________ habe zwar den Verdacht auf eine
ekzematoide Dermatitis geäussert, jedoch keine Arbeitsunfähigkeit angegeben;
das Problem des vom Neurologen Dr. med. H.________ rapportierten
Schwindelgefühls sei mit einer Umstellung der Medikation in Griff zu bekommen,
und das von ihm diagnostizierte beidseitige Carpaltunnelsyndrom könne
chirurgisch dekomprimiert werden; bezüglich der vom Hausarzt Dr. med.
I.________ neu angegebenen Leiden lasse sich die Medikamentenallergie durch den
Verzicht auf Penicillin und andere auslösende Arzneimittel vermeiden; falls mit
dem Rauchen aufgehört werde, könne die chronische Bronchitis medikamentös sehr
gut behandelt werden; die Polyallergie sei aufgrund der Akten nicht gesichert.
Aus somatischer Sicht sei somit in einer leichten bis mittelschweren Tätigkeit
ohne Rauch- und Nickelexposition volle Arbeitsfähigkeit gegeben.

5.
Bei diesen vorinstanzlichen Annahmen und Schlussfolgerungen handelt es sich
samt und sonders um mögliche plausible Deutungen, die indessen einen anderen
medizinischen Verlauf nicht ausschliessen und daher keine verbindliche
Tatsachenfeststellung im Sinne von Art. 105 Abs. 1 BGG darstellen. Folglich ist
die Sache zur Einholung eines (interdisziplinären) medizinischen Gutachtens an
die Verwaltung zurückzuweisen, welches insbesondere den Verlauf der
Arbeitsfähigkeit bis zum Einspracheentscheid am 15. August 2008 belegt.

6.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdegegnerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und der Beschwerdeführerin die
Parteikosten zu ersetzen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Deren Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege ist demzufolge gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche
Abteilung, vom 16. März 2009 und der Einspracheentscheid vom 15. August 2008
werden aufgehoben. Die Sache wird an die IV-Stelle Luzern zurückgewiesen, damit
sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Rentenanspruch
neu verfüge. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse ALBICOLAC und dem
Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 23. Juni 2009
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Schmutz