Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 341/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_341/2009

Urteil vom 10. August 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Seiler, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber Schmutz.

Parteien
IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,

gegen

F.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Eva Frefel,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Invalidenversicherung, Massnahmen beruflicher Art, Invalidenrente

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 26. Februar 2009.

Sachverhalt:

A.
F.________, geboren 1978, meldete sich am 10. Oktober 2006 bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug (Berufsberatung und Rente) an. Seit
seiner Jugend konsumierte er Drogen. Von 1997 bis 1999 befand er sich im Rahmen
einer stationären Massnahme im Zentrum L._______. Danach absolvierte er von
August 1999 bis August 2002 eine Lehre als Drucktechnologe und war nach derem
Abschluss noch während eines Monats im Lehrbetrieb beschäftigt. Nachher war er
nicht mehr erwerbstätig. Zwischen September 2003 und April 2006 hielt sich
F.________ viermal zur stationären Drogenentzugstherapie in der Klinik
W.________ auf. Im Anschluss an die letzte Behandlung mit vollständigem Entzug
der Benzodiazepine und einer Reduktion der Methadon-Substitution auf Null trat
er am 12. April 2006 (bis 30. Juni 2007) in das Zentrum X.________ zur
stationären Entwöhnungstherapie ein. Am 1. November 2006 begann er in diesem
Rahmen ein vorerst bis 30. Juni 2007 dauerndes Praktikum in der Kinderkrippe
Y.________ mit einem Arbeitspensum von 80 %. Die IV-Stelle des Kantons St.
Gallen holte Auskünfte des Lehrbetriebs sowie Berichte behandelnder Ärzte und
des Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD) ein. Mit Vorbescheiden vom 16. und 17.
Mai 2007 und Verfügungen vom 1. und 2. Oktober 2007 verweigerte sie F.________
je den Anspruch auf Umschulung und Rente.

B.
Die hiegegen eingereichte Beschwerde mit dem Antrag auf Zusprechung einer
ganzen Rente ab 1. September 2004 und Feststellung des Anspruchs auf berufliche
Massnahmen hiess das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid
vom 26. Februar 2009 teilweise gut; es hob die Verfügungen auf und sprach
F.________ ab 1. Oktober 2005 (im Sinne der Erwägungen) eine ganze IV-Rente zu.
Im Übrigen wies es die Sache zur weiteren Abklärung (im Sinne der Erwägungen)
und Neuverfügung an die IV-Stelle zurück. In der Begründung des Entscheides
stellte es fest, der Anspruch auf die ganze Rente bestehe auch für den Zeitraum
des vom Versicherten bis 31. Oktober 2008 im Werkheim U.________ mit einem
Beschäftigungsgrad von 80 % absolvierten Praktikums. Sie wies die Verwaltung
an, für den Zeitraum nach Beendigung dieser Anstellung ein fachärztliches
Gutachten in Auftrag zu geben, welches sich insbesondere zur Frage äussere,
welche Tätigkeiten (und in welchem Umfang) vom Versicherten aus
medizinisch-theoretischer Sicht ausgeführt werden können. Es sei insbesondere
auch zur Frage Stellung zu nehmen, ob Wiedereingliederungsbemühungen ins
Druckereigewerbe aus gesundheitlicher Sicht möglich und längerfristig
zweckmässig sind, oder ob eine berufliche Neuorientierung in eine
Betreuungstätigkeit im sozialen Bereich medizinisch begründet und notwendig
erscheint (und welche Richtung aus medizinischer Sicht Erfolg versprechend in
Frage kommt). Gestützt auf die Ergebnisse habe die IV-Berufsberatung
Abklärungen zu treffen. Danach sei zu entscheiden, ob weiterhin eine
Invalidität mit allfälligen Ansprüchen auf berufliche Massnahmen oder fürderhin
ein Rentenanspruch besteht. Mit der Begutachtung sei eine Fachperson zu
beauftragen, welche über Erfahrung im Zusammenhang mit den medizinischen und
praktischen Rahmenbedingungen bei der Wiedereingliederung von Drogenabhängigen
verfügt.

C.
Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen erhebt Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, der kantonale Entscheid
sei soweit aufzuheben, als er über Oktober 2006 hinaus eine Rente zuspricht;
die Sache sei zu weiteren Abklärungen an sie zurückzuweisen.

Der Beschwerdeführer schliesst auf Abweisung der Beschwerde; Vorinstanz und
Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
1.1 Die Beschwerde an das Bundesgericht ist zulässig gegen das Verfahren
abschliessende Endentscheide (Art. 90 BGG), und gegen Teilentscheide, die nur
einen Teil der gestellten Begehren behandeln, wenn diese unabhängig von den
anderen beurteilt werden können, oder die das Verfahren nur für einen Teil der
Streitgenossen und Streitgenossinnen abschliessen (Art. 91 BGG). Gegen
selbstständig eröffnete Vor- und Zwischenentscheide ist hingegen die Beschwerde
nur zulässig, wenn sie die Zuständigkeit oder den Ausstand betreffen (Art. 92
BGG), einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken können (Art. 93 Abs.
1 lit. a BGG; BGE 133 V 645 E. 2.1 S. 647; 133 V 477 E. 5.2 S. 483) oder wenn
die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit
einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges
Beweisverfahren ersparen würde (Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG).
Rückweisungsentscheide, mit denen eine Sache zur neuen Entscheidung an die
Vorinstanz zurückgewiesen wird, sind Zwischenentscheide, die nur unter den
genannten Voraussetzungen beim Bundesgericht angefochten werden können (BGE 133
V 477 E. 4.2 S. 481 f.). Anders verhält es sich nur dann, wenn der unteren
Instanz, an welche zurückgewiesen wird, kein Entscheidungsspielraum mehr
verbleibt und die Rückweisung nur noch der Umsetzung des oberinstanzlich
Angeordneten dient (SVR 2008 IV Nr. 39 S. 131, 9C_684/2007 E. 1.1).

1.2 Nach dem angefochtenen Entscheid hat der Beschwerdegegner ab 1. Oktober
2005 bis 31. Oktober 2008 Anspruch auf eine IV-Rente. Es handelt sich hier um
einen Endentscheid. Die Beschwerdeführerin anerkennt den Anspruch nur bis zum
31. Oktober 2006. Für die Zeit nach dem 31. Oktober 2008 hat die Vorinstanz
entschieden, dass die Arbeitsfähigkeit unter diversen Aspekten näher abzuklären
und dann über den Leistungsanspruch in diesem Zeitraum neu zu verfügen ist. Die
Beschwerdeführerin unterzieht sich dieser Verpflichtung vom zeitlichen Rahmen
her uneingeschränkt; damit liegt für den Zeitraum ab 1. November 2008 ein
letztinstanzlich nicht angefochtener kantonaler Zwischenentscheid auf
Rückweisung vor. Streitig ist somit, ob während der Zeit vom 1. November 2006
bis 31. Oktober 2008 ein Anspruch auf Rente (oder allenfalls - wie in der
Beschwerde angesprochen - Massnahmen beruflicher Art) bestand.

2.
2.1 Die leistungsabweisenden Verfügungen sind bereits am 1. und 2. Oktober 2007
ergangen. Es bleibt zu prüfen, in welchem zeitlichen Umfang der Anspruch im
vorliegenden Verfahren überprüft werden kann: Nach ständiger Rechtsprechung
beurteilt das Sozialversicherungsgericht die Gesetzmässigkeit der
Verwaltungsverfügungen in der Regel nach dem Sachverhalt, der zur Zeit des
Abschlusses des Verwaltungsverfahrens gegeben war. Tatsachen, die jenen
Sachverhalt seither verändert haben, sollen im Normalfall Gegenstand einer
neuen Verwaltungsverfügung sein (BGE 121 V 362 E. 1b S. 366). Ausnahmsweise
kann das Gericht aus prozessökonomischen Gründen jedoch auch die Verhältnisse
nach Erlass der Verfügung in die Beurteilung miteinbeziehen und zu deren
Rechtswirkungen über den Verfügungszeitpunkt hinaus verbindlich Stellung
nehmen, mithin den das Prozessthema bildenden Streitgegenstand in zeitlicher
Hinsicht ausdehnen. Eine solche Ausdehnung des richterlichen
Beurteilungszeitraums ist indessen nur zulässig, wenn der nach Erlass der
Verfügung eingetretene, zu einer neuen rechtlichen Beurteilung der Streitsache
ab jenem Zeitpunkt führende Sachverhalt hinreichend genau abgeklärt ist und die
Verfahrensrechte der Parteien, insbesondere deren Anspruch auf rechtliches
Gehör, respektiert worden sind (BGE 130 V 138 E. 2.1 S. 140).

2.2 Hier war das Verwaltungsverfahren mit dem Erlass der Verfügungen vom 1. und
2. Oktober 2007 abgeschlossen und so der Streitgegenstand in zeitlicher
Hinsicht grundsätzlich auf diesen Moment begrenzt. In dieser Zeit hat der
Beschwerdegegner aber auch das schliesslich bis zum 31. Oktober 2008 dauernde
Praktikum im Werkheim U.________ angetreten. In Ausweitung des
Streitgegenstandes hat die Vorinstanz den Anspruch auf die ganze Rente ebenso
für jene Periode bejaht. Indem die Beschwerdeführerin in der Beschwerdeantwort
am 28. Juli 2008 nach erneut getätigten Abklärungen festhielt, es bestehe nach
wie vor kein Raum für eine Rente oder berufliche Massnahmen, konnte sie ihren
Gehörsanspruch für den Zeitraum nach Erlass der Verfügung wahren.

3.
Nebst anderer Voraussetzungen bedarf es für eine berufliche Umschulung der
invaliditätsbedingten Erwerbseinbusse von etwa 20 % (BGE 130 V 488 E. 4.2 S.
489; 124 V 108 E. 2b S. 110). Die leistungsspezifische Lohneinbusse bei
Versicherten mit oder ohne berufliche Ausbildung bestimmt sich anhand eines
Vergleichs des Valideneinkommens mit jenem Einkommen, welches die versicherte
Person nach Durchführung der medizinischen Behandlung, hingegen ohne
Eingliederungsmassnahmen, erzielen könnte, sofern ihr eine zumutbare Tätigkeit
bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage ohne (zusätzliche) berufliche Ausbildung,
somit auf dem Weg der Selbsteingliederung, offensteht (vgl. ULRICH
MEYER-BLASER, Bundesgesetz über die Invalidenversicherung, 1997, S. 124 f.).
Die Selbsteingliederung als Ausdruck der allgemeinen Schadenminderungspflicht
geht nicht nur dem Renten-, sondern auch dem gesetzlichen
Eingliederungsanspruch vor (BGE 113 V 22 E. 4a S. 28).

4.
Die Beschwerdegegnerin hat die beruflichen Massnahmen abgelehnt, weil sie der
Meinung war, es liege auch im angestammten Beruf eine Arbeitsfähigkeit von 80 %
vor, weshalb der Versicherte angemessen eingegliedert sei. Geht man entgegen
dieser Annahme mit der Vorinstanz davon aus, der Versicherte sei im
angestammten Beruf nicht mehr arbeitsfähig, so besteht zunächst ein Anspruch
auf berufliche Massnahmen (Umschulung). Vor der Durchführung von
Eingliederungsmassnahmen darf keine Rente gewährt werden, wenn der Versicherte
eingliederungsfähig ist (Art. 7 Abs. 1, Art. 8 Abs. 1 sowie Art. 16 ATSG; Art.
29 Abs. 2 IVG; BGE 121 V 190 E. 4a und c; I 346/00 E. 4c; I 287/01 E. 2b/aa; I
739/02 E. 4).

5.
Nach den Feststellungen der Vorinstanz war der Versicherte für die Praktika in
der Kinderkrippe und dem Werkheim zu 80 % arbeitsfähig; er hat diese
tatsächlich auch absolviert. Entgegen der Annahme der Vorinstanz handelt es
sich bei einem solchen Praktikum nicht um eine Art geschützte Werkstätte,
sondern um eine Tätigkeit, in welcher die Eignung und Neigung für einen Beruf
abgeklärt wird und wo eine vergleichbare Leistung verlangt wird wie in der
betreffenden Arbeitstätigkeit. Wenn also der Beschwerdegegner die genannten
Praktika absolvieren konnte, dann war er in Bezug auf diese Tätigkeit
eingliederungsfähig. In einem solchen Falle hat er, wenn man ihm eine
krankheitswertige (d.h. nicht nur durch Drogenkonsum verursachte)
Arbeitsunfähigkeit zugesteht, Anspruch auf berufliche Massnahmen (Umschulung)
samt Taggeld, aber nicht, wie von der Vorinstanz entschieden, auf Rente.

6.
Die Beschwerde wird daher insofern gutgeheissen, als die Rentenzusprache über
Oktober 2006 hinaus aufgehoben und die Verwaltung angewiesen wird zu prüfen, ob
die Praktika als berufliche Massnahmen von der Invalidenversicherung zu
übernehmen seien.

7.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdegegner die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Seinem Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege wird entsprochen (Art. 64 BGG; BGE 125 V 201 E. 4a S. 202). Er hat
der Gerichtskasse Ersatz zu leisten, wenn er später dazu in der Lage ist (Art.
64 Abs. 4 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 26. Februar 2009 und die
Verfügungen der IV-Stelle des Kantons St. Gallen vom 1. und 2. Oktober 2007 -
soweit den Anspruch auf Umschulung sowie denjenigen auf Rente ab 1. November
2006 betreffend - aufgehoben werden und die Sache an die IV-Stelle des Kantons
St. Gallen zurückgewiesen wird, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne
der Erwägungen, über den Leistungsanspruch neu verfüge.

2.
Dem Beschwerdegegner wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt, indes
vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.

4.
Rechtsanwältin Eva Frefel, Grüt, wird als unentgeltliche Anwältin des
Beschwerdegegners bestellt, und es wird ihr für das bundesgerichtliche
Verfahren aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 1400.- ausgerichtet.

5.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten des vorangegangenen Verfahrens an
das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen zurückgewiesen.

6.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen, der Ausgleichskasse der graphischen und papierverarbeitenden Industrie
der Schweiz und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 10. August 2009
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Schmutz