Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 325/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_325/2009

Urteil vom 24. Juli 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Seiler, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber Fessler.

Parteien
Xundheit, Öffentliche Gesundheitskasse Schweiz, Pilatusstrasse 28, 6003 Luzern,
Beschwerdeführerin,

gegen

F.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Urs Schaffhauser,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Krankenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom
20. März 2009.

Sachverhalt:

A.
A.a Die 1967 geborene F.________ war im Rahmen ihrer Anstellung bei der Firma
S.________ AG bis Ende Oktober 2003 bei der Öffentlichen Krankenkasse Luzern
(ÖKK; seit 1. Januar 2004: Xundheit, Öffentliche Gesundheitskasse Schweiz
[nachfolgend: Xundheit]) kollektiv krankentaggeldversichert. Ab 14. Juli 2003
war F.________ zu 50 % und ab 21. Juli 2003 zu 100 % arbeitsunfähig
geschrieben. Die ÖKK richtete Taggeldleistungen aus. Nach Beendigung des
Arbeitverhältnisses am 31. Oktober 2003 trat F.________ in die
Einzeltaggeldversicherung über.

Am 10. November 2003 reiste F.________ in ihr Heimatland in Asien. Am 14.
November trat sie ins Hospital H.________ ein, wo sie wegen Tuberkulose
stationär behandelt wurde. Am 3. Dezember 2003 wurde F.________ ins Hospital
L.________ verlegt. Dort wurde sie in der Folgezeit behandelt. Ende August 2004
konnte F.________ wieder zurück in die Schweiz reisen.
A.b Mit Verfügung vom 4. Oktober 2004 und Einspracheentscheid vom 18. November
2004 weigerte sich die Xundheit, für die Zeit vom 11. November 2003 bis 31.
August 2004 Taggeldleistungen zu erbringen. In teilweiser Gutheissung der
hiegegen erhobenen Beschwerde, soweit darauf einzutreten war, hob das
Verwaltungsgericht des Kantons Luzern den Einspracheentscheid insoweit auf, als
es den Krankenversicherer verpflichtete, Krankentaggelder für die Zeit vom 14.
November 2003 bis 31. August 2004 auszuzahlen (Entscheid vom 28. September
2005). Das Eidg. Versicherungsgericht hob dieses Erkenntnis sowie den
Einspracheentscheid vom 18. November 2004 auf und wies die Sache an die
Xundheit zurück, damit diese im Sinne der Erwägungen verfahre und hernach
erneut über den Leistungsanspruch der Versicherten befinde (Urteil K 180/05 vom
21. Dezember 2006). Auf ein Erläuterungsgesuch zu diesem Urteil trat die II.
sozialrechtliche Abteilung des Bundesgerichts mit Urteil vom 27. März 2007
nicht ein.
A.c Die Xundheit richtete Taggelder für die Dauer des Aufenthalts im Hospital
H.________ vom 14. November bis 3. Dezember 2003 aus. Hingegen verneinte sie
eine Leistungspflicht für die Dauer der ambulanten Behandlung im Hospital
L.________. Am 7. Mai 2007 erliess sie eine in diesem Sinne lautende Verfügung,
welche sie mit Einspracheentscheid vom 26. Juni 2007 bestätigte.

B.
In Gutheissung der Beschwerde von F.________ hob die
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung des Verwaltungsgerichts des Kantons
Luzern den Einspracheentscheid vom 26. Juni 2007 auf und verpflichtete die
Xundheit, für die Zeit vom 4. Dezember 2003 bis 31. August 2004 Taggelder
auszurichten (Entscheid vom 20. März 2009).

C.
Die Xundheit lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 20. März 2009 sei aufzuheben.
F.________, welche neben ihrem Rechtsvertreter ebenfalls eine Stellungnahme
eingereicht hat, lässt die Abweisung der Beschwerde beantragen.

Erwägungen:

1.
Das Eidg. Versicherungsgericht hat im Urteil vom 21. Dezember 2006 die
Rechtsgrundlagen für die Beurteilung der im Streite liegenden Leistungspflicht
der Beschwerdeführerin dargelegt. Darauf wird verwiesen. Hier nochmals zu
erwähnen sind die einschlägigen Bestimmungen des KVG-Taggeldreglements,
Ausgaben 2003 und 2004, des Krankenversicherers (nachfolgend: Reglement). Nach
Ziff. 4.1.5. («Arbeitsunfähigkeit im Ausland») Satz 1 werden bei privaten
Ferienreisen ins Ausland die versicherten Taggelder nur bei Spitalaufenthalt
ausgerichtet. Ziff. 4.1.6. («Auslandaufenthalt bei Arbeitsunfähigkeit») Satz 1
bestimmt, dass ein arbeitsunfähiges Mitglied, welches sich ohne Zustimmung der
Kasse ins Ausland begibt, während der Zeit des Auslandaufenthaltes keinen
Anspruch auf Leistungen hat.

2.
Dispositiv-Ziffer 1 des Urteils vom 21. Dezember 2006 wies die Sache an die
Xundheit zurück, damit diese im Sinne der Erwägungen verfahre und hernach
erneut über den Leistungsanspruch der Versicherten befinde. In E. 3.2, 3.2.1
und 3.2.2 führte das Eidg. Versicherungsgericht aus, die arbeitsunfähig
geschriebene und Taggeldleistungen beziehende Versicherte habe sich vorgängig
ihrer Reise nach Asien unbestrittenermassen nicht beim Krankenversicherer
abgemeldet resp. nicht dessen Zustimmung eingeholt. Das - hier nicht weiter zu
erörternde - Verhalten der Xundheit könne jedoch als nachträglich erfolgte
Zustimmung zur Auslandreise gewertet werden. Weiter erwog das Gericht
Folgendes: «Zu berücksichtigen gilt es jedoch, dass, anders als bei einer
vorgängig eingeholten Zustimmung der Kasse (vgl. Ziff. 4.1.6. des
Taggeldreglements), keine Taggeldleistungen für den gesamten Zeitraum des
Aufenthalts in Asien erbracht werden können. Liegt nämlich keine im Vorfeld
bewilligte Auslandreise vor, behält sich die Beschwerdeführerin
Taggeldleistungen für den Fall anderweitig zu kontrollierender, d.h. aufgrund
von objektiven Faktoren feststellbarer Arbeitsunfähigkeit vor, wie sie während
eines Spitalaufenthaltes vorliegt (vgl. Ziffer 4.1.5 des Taggeldreglements).
Diese Einschränkung der Leistungspflicht ist im Rahmen der dem
Krankentaggeldversicherer zustehenden Regelungsautonomie (...) als zulässig
anzusehen. Nur solcherart ist es dem Versicherer ohne grossen Aufwand im Sinne
von als nicht zumutbar zu erachtenden intensiven Nachforschungen möglich, zu
beurteilen, ob die geltend gemachte Erkrankung im Ausland tatsächlich die
behauptete Arbeitsunfähigkeit bewirkt hat. Blosse ärztliche
Arbeitsunfähigkeitsatteste vermöchten diesen Nachweis dagegen nicht ohne
weiteres zu erbringen. Wird somit, wie im hier zu beurteilenden Fall, die
Zustimmung zum Auslandaufenthalt bei einer arbeitsunfähigen, Taggeldleistungen
beziehenden versicherten Person infolge der besonderen medizinischen Situation
erst im Nachhinein erteilt, kann sich diese Einwilligung - und die damit
verbundene Ausrichtung von Taggeldern - in Analogie zu Ziffer 4.1.5 des
Taggeldreglements einzig auf die Dauer des ausländischen Spitalaufenthaltes
beziehen.» Somit bestehe, so das Eidg. Versicherungsgericht weiter, keine
Leistungspflicht des Krankenversicherers für die Tage der Ankunft in Asien bis
zur Hospitalisation im Hospital H.________, d.h. vom 11. bis 13. November 2003.
Hingegen sei unklar, wann der Austritt aus dem Hospital L.________ erfolgt sei.
Den genauen Zeitpunkt habe der Krankenversicherer im Rahmen der in diesem Punkt
zu erfolgenden Rückweisung zu erheben.

Bei der Darlegung der sich als sehr speziell erweisenden Sachlage hatte das
Eidg. Versicherungsgericht in E. 3.2 in fine festgehalten, der
Krankenversicherer habe «sich zu Recht nicht dahingehend geäussert, den die
Beschwerdegegnerin letztlich rettenden Auslandaufenthalt im Sinne der
mehrmonatigen stationären Behandlung - die Versicherte wurde, nachdem sie am
14. November 2003 ins Hospital H.________ eingeliefert worden war, am 3.
Dezember 2003 in das auf Tuberkulosefälle spezialisierte Hospital L.________
verlegt - abzulehnen».

3.
Das Eidg. Versicherungsgericht ging somit im Urteil K 180/05 vom 21. Dezember
2006 davon aus, dass die Versicherte sowohl im Hospital H.________ als auch im
Hospital L.________ stationär behandelt wurde und sich dort rund um die Uhr
aufhielt. Tatsächlich traf diese Annahme indessen lediglich auf das Hospital
H.________ zu. Die daran anschliessende Behandlung im Hospital L.________ wurde
ambulant durchgeführt, wie sich nachträglich herausstellte. Diese von der
Rechtskraft des Urteils K 180/05 vom 21. Dezember 2006 nicht erfasste Tatsache
ist als prozessual zulässiges Novum im Verwaltungsverfahren und
erstinstanzlichen Beschwerdeverfahren zu berücksichtigen (BGE 4A_527/2008 vom
11. März 2009 E. 2). Es ist somit - erstmals - zu prüfen, ob eine ambulante
Spitalbehandlung Spitalaufenthalt im reglementarischen Sinne ist.
3.1
3.1.1 Nach Auffassung der Vorinstanz ist der Umstand, dass die Behandlung im
Hospital L.________ ambulant und nicht stationär durchgeführt wurde, nicht
entscheidend. Auch das Eidg. Versicherungsgericht sei von einer
spitalärztlichen Behandlung ausgegangen und habe eine Taggeldleistung während
dieser Zeit für geschuldet gehalten. Es sei denn auch nicht ersichtlich,
weshalb die Verlegung aus dem Hospital H.________ in die Spezialklinik - wenn
auch nur zur ambulanten Behandlung - als eigentliche Spitalentlassung
interpretiert werden könne. Es sei darum gegangen, der Versicherten die
adäquate Behandlung für die Tuberkulose zukommen zu lassen. Solange diese
Behandlung im Ausland angedauert habe, sei von einer Spitalbehandlung
auszugehen und das dafür geschuldete Taggeld zu bezahlen. Aus dem Bericht des
Hospital L.________ gehe denn auch hervor, dass die Versicherte unter strikter
Beobachtung des Spitals gestanden sei und periodische Untersuchungen über sich
habe ergehen lassen müssen. Die Behandlung in der spezialisierten Lungenklinik
sei als weitere Spitalbehandlung im Sinne des Gesetzes und entsprechend dem
Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts zu betrachten, unabhängig davon, ob sie
ambulant oder stationär erfolgt sei. Demzufolge sei der Krankenversicherer auch
für diese Zeit leistungspflichtig.

3.1.2 Die Beschwerdeführerin bringt vor, nach Ziff. 4.1.5. des Reglements
würden Taggelder bei privaten Ferienreisen ins Ausland nur bei
Spitalaufenthalten ausgerichtet. Sodann habe das Eidg. Versicherungsgericht in
E. 3.2.1 seines Urteils vom 21. Dezember 2006 festgehalten, die nachträgliche
Zustimmung resp. Einwilligung und die damit verbundene Ausrichtung von
Taggeldern beziehe sich einzig auf die Dauer des ausländischen
Spitalaufenthaltes (vgl. E. 2). Dieser Begriff sei wie Statuten
öffentlich-rechtlicher Vorsorgeeinrichtungen nach den gewöhnlichen Regeln der
Gesetzesauslegung zu interpretieren (vgl. dazu BGE 130 V 49 E. 3.2.1 S. 50).
Der Wortlaut sei klar. Von Spitalaufenthalt könne nur bei einer stationären
Behandlung und wenn die versicherte Person sich Tag und Nacht in der
betreffenden Klinik aufhalte gesprochen werden. Es seien keine triftigen Gründe
gegeben, um ausnahmsweise vom klaren Wortlaut abzuweichen und, wie die
Vorinstanz, aus dem Spitalaufenthalt eine Spitalbehandlung zu machen. Es
bestehe somit lediglich für die Dauer des Aufenthalts im Hospital H.________
vom 14. November bis 3. Dezember 2003 eine Leistungspflicht.
3.2
3.2.1 Freiwillige Taggeldversicherungen nach Art. 67 ff. KVG beruhen auf einem
öffentlich-rechtlichen Versicherungsvertrag (BGE 126 V 499 E. 2a S. 501 mit
Hinweis auf die Lehre; vgl. auch Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts U 307/
03 vom 19. August 2004 E. 4.3, nicht publiziert in: BGE 130 V 553, aber in: SVR
2005 UV Nr. 3 S. 5). Die Reglemente als Konkretisierung der taggeldrechtlichen
Rechtsbeziehungen zwischen Krankenversicherer und versicherter Person sind - im
Unterschied zu Bestimmungen öffentlich-rechtlicher Vorsorgeeinrichtungen (BGE
133 V 314 E. 4.1 S. 316) - nach dem Vertrauensprinzip auszulegen (BGE 126 V 499
E. 3b S. 504 mit Hinweisen; vgl. auch Urteil 2A.414/2006 vom 19. März 2008 E.
6.3). Ausgehend vom Wortlaut und unter Berücksichtigung des Zusammenhanges, in
dem die zur Streitigkeit Anlass gebende Bestimmung innerhalb des Reglements als
Ganzes steht, ist der objektive Vertragswillen zu ermitteln, den die Parteien
mutmasslich gehabt haben. Dabei ist zu berücksichtigen, was sachgerecht ist,
weil nicht angenommen werden kann, dass sie eine unvernünftige Lösung gewollt
haben. Mehrdeutige Wendungen sind im Zweifel zu Lasten ihres Verfassers
auszulegen (BGE 122 V 143 E. 4c S. 146 mit Hinweisen). Im Gegensatz zur
Gesetzesauslegung kann es somit nicht bei einem klaren Wortlaut sein Bewenden
haben.

3.2.2 Bei der Auslegung von Ziff. 4.1.5. des Reglements der Beschwerdeführerin
im konkreten Fall ist zu berücksichtigen, dass der Aufenthalt in Asien aufgrund
der unbestrittenen Notwendigkeit einer in der Schweiz nicht erhältlichen
Behandlung medizinisch indiziert war. Die ambulante Behandlung im
spitalmässigen Rahmen, welcher die Beschwerdegegnerin im Hospital L.________
zugeführt wurde, ist daher als Spitalaufenthalt im reglementarischen Sinne zu
würdigen, dies unter Berücksichtigung der spezifischen Gegebenheiten des
vorliegenden Falles. Die Vorinstanz hat somit im Ergebnis nicht Bundesrecht
verletzt, wenn sie auch für die Dauer der Behandlung im Hospital L.________
eine Leistungspflicht des Krankenversicherers bejaht hat.

4.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und der Beschwerdegegnerin eine
u.a. nach dem anwaltlichen Vertretungsaufwand bemessene Parteientschädigung zu
bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdeführerin hat die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 1500.- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit
schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 24. Juli 2009

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Fessler