Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 276/2009
Zurück zum Index II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2009
Retour à l'indice II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2009


Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_276/2009

Urteil vom 24. Juni 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Seiler,
Gerichtsschreiber Fessler.

Parteien
G.________, vertreten durch Rechtsanwalt
Dr. André Largier,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrase 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich
vom 29. Januar 2009.

Sachverhalt:

A.
Der 1947 geborene G.________ meldete sich im Oktober 2002 bei der
Invalidenversicherung an und beantragte Berufsberatung, Umschulung und eine
Rente. Die IV-Stelle des Kantons Zürich klärte die gesundheitlichen und
erwerblichen Verhältnisse ab. Unter anderem holte sie den Bericht des Spital
X.________ vom 22. Oktober 2002 über die zweitägige Teilevaluation der
arbeitsbezogenen funktionellen Leistungsfähigkeit sowie bei der Klinik
Y.________ ein Gutachten ein. Nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens
verneinte die IV-Stelle mit Verfügung vom 29. März 2007 den Anspruch auf eine
Invalidenrente.

B.
Die Beschwerde des G.________ wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich mit Entscheid vom 29. Januar 2009 ab.

C.
G.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 29. Januar 2009 sei aufzuheben und
ihm rückwirkend eine angemessene Invalidenrente zuzusprechen, allenfalls die
Sache an die IV-Stelle zu ergänzenden Abklärungen und neuer Verfügung über den
Anspruch auf die gesetzlichen Leistungen zurückzuweisen.
Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Beschwerde. Kantonales Gericht und
Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Das kantonale Gericht hat die Verneinung des Anspruchs auf eine Invalidenrente
durch die IV-Stelle bestätigt. In tatsächlicher Hinsicht hat es festgestellt,
der Versicherte leide in erster Linie an chronischen Nackenschmerzen in Form
eines Cervikalsyndroms resp. eines cervikobrachialen oder cervikospondylogenen
Schmerzsyndroms, wobei die Schmerzen zeitweilig bis in den kleinen Finger des
rechten Arms ausstrahlten, sowie an einem chronischen lumbospondylogenen
Schmerzsyndrom und einer koronaren Herzkrankheit. Gemäss dem Gutachten der
Klinik Y.________ vom 5. April 2006 sei trotz der geklagten Beschwerden eine
behinderungsangepasste (leichte bis mittelschwere, wechselbelastende) Tätigkeit
ganztags zumutbar. Den von der IV-Stelle aufgrund dieser Einschätzung durch
Einkommensvergleich (Art. 16 ATSG in Verbindung mit Art. 28a Abs. 1 IVG)
ermittelten Invaliditätsgrad von 24 % hat die Vorinstanz mangels
substanziierter Bestreitung sowie fehlender Anhaltspunkte für Rechtsfehler
bestätigt.

2.
Der Beschwerdeführer rügt eine offensichtlich unrichtige
Sachverhaltsfeststellung durch die Vorinstanz. Das Gutachten vom 5. April 2006
sei weder beweistauglich noch beweiskräftig. Die Einschätzung der
Arbeitsfähigkeit in der Expertise werde durch die Berichte der Klinik
S.________ vom 6. Februar und 13. April 2007 entscheidend in Frage gestellt.

3.
Die unvollständige Feststellung der rechtserheblichen Tatsachen sowie
Nichtbeachtung des Untersuchungsgrundsatzes nach Art. 61 lit. c ATSG durch das
kantonale Versicherungsgericht stellen eine Verletzung von Bundesrecht nach
Art. 95 lit. a BGG dar (Urteil 9C_802/2008 vom 22. Dezember 2008 E. 1.1 mit
Hinweisen). Der Verzicht der Vorinstanz auf weitere Abklärungen oder
Rückweisung der Sache an die IV-Stelle zu diesem Zwecke (antizipierte
Beweiswürdigung; Urteil 9C_561/2007 vom 11. März 2008 E. 5.2.1) im Besonderen
verletzt etwa dann Bundesrecht, wenn der festgestellte Sachverhalt unauflösbare
Widersprüche enthält oder wenn eine entscheidwesentliche Tatfrage, wie
namentlich Gesundheitszustand und Arbeitsfähigkeit einer versicherten Person,
auf unvollständiger Beweisgrundlage beantwortet wird (Urteil 9C_410/2008 vom 8.
September 2008 E. 3.3.1 mit Hinweisen).

Im Übrigen ist die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz für das
Bundesgericht verbindlich, wenn sie nicht offensichtlich unrichtig ist oder auf
einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2
BGG). Die konkrete Beweiswürdigung ist wie die darauf beruhende
Sachverhaltsfeststellung ebenfalls nur unter diesem eingeschränkten Blickwinkel
überprüfbar (Urteile 9C_801/2008 vom 6. Januar 2009 E. 2.2 und 9C_410/2008 vom
8. September 2008 E. 3.3.1). Demgegenüber ist die richtige Anwendung der
Beweiswürdigungsregeln durch das kantonale Versicherungsgericht nach Art. 61
lit. c ATSG eine Rechtsfrage und als solche im Rahmen der den Parteien
obliegenden Rügepflicht (Art. 42 Abs. 2 BGG und Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 133 II
249 E. 1.4.1 und 1.4.2 S. 254) frei zu prüfen (BGE 132 V 393 E. 3.2 und 4 S.
397 ff.; Urteil 270/2007 vom 12. August 2008 E. 2.2).

Geht es im Besonderen um den Gesundheitszustand und die Arbeitsfähigkeit einer
versicherten Person, ist auf die Rechtsprechung hinzuweisen, wonach einem
ärztlichen Bericht Beweiswert zukommt, wenn er für die streitigen Belange
umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch die geklagten
Beschwerden berücksichtigt und in Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben
worden ist, wenn die Beschreibung der medizinischen Situation und Zusammenhänge
einleuchtet und die Schlussfolgerungen des Arztes begründet sind (BGE 125 V 351
E. 3a S. 352; Urteil 9C_55/2008 vom 26. Mai 2008 E. 4.2; Urteil 9C_932/2008 vom
23. März 2009 E. 3).

4.
4.1 Im Gutachten vom 5. April 2006 wurde als Hauptdiagnose ein chronisches
zervikospondylogenes Schmerzsyndrom rechts und lumbospondylogenes
Schmerzsyndrom beidseits, linksbetont genannt. Bezüglich der Befunde im
HWS-Bereich wurde eine im Vergleich zu den Voraufnahmen vom März 1996
unveränderte diskret beginnende Spondylarthrose C4/5 und C5/6 erwähnt. In der
Beurteilung wurde ausgeführt, obschon der Versicherte seine Beschwerden
glaubhaft schildere und bei der Untersuchung gut kooperiere, bestehe klinisch
und radiologisch eine Diskrepanz zwischen den wenig objektiven Befunden und den
subjektiv geklagten Schmerzen.

Im Bericht der Klinik S.________ vom 13. April 2007 wurde als Diagnose neben
Spondylarthrosen mit lumbospondylogener Ausstrahlung linksbetont u.a. auch eine
C4 Reizung mit myotomaler/radikulärer Ausstrahlung rechts genannt. Dabei wurde
auf das CT der HWS vom 11. Dezember 2006 hingewiesen, welches eine
neuroforaminale ossäre Stenosierung C3/4 beidseits gezeigt hatte. Die Ärzte der
Klinik S.________ führten aus, eine Steroidinfiltration über der C4-Wurzel habe
für sieben Wochen gut gewirkt. Nun sei der interscapuläre Schmerz jedoch wieder
zunehmend. Es solle daher im Mai eine weitere Injektion durchgeführt werden.
Das Fortführen dieser Therapie sei vertretbar, falls mit drei bis vier
Injektionen pro Jahr die Schmerzen genügend kontrolliert werden könnten.

4.2 Die Vorinstanz stellt weder Befund (neuroforaminale ossäre Stenosierung C3/
4 beidseits) noch Diagnose (C4 Reizung mit myotomaler/radikulärer Ausstrahlung
rechts) im Bericht der Klinik S.________ vom 13. April 2007 in Frage. Sie ist
jedoch der Auffassung, es sei lediglich eine Frage der Bezeichnung, ob es sich
bei den chronischen Nackenschmerzen um eine radikuläre oder eine vertebragene
resp. spondylogene oder sonst eine Symptomatik handle. Dabei meint sie mit
Bezeichnung der Schmerzen offenbar die Diagnose.
4.2.1 Für den Anspruch auf eine Invalidenrente sind die erwerblichen Folgen der
gesundheitlich bedingt eingeschränkten Arbeitsfähigkeit entscheidend (vgl. Art.
6 und 7 ATSG). So besehen sind weder eine richtige Diagnosestellung noch die
Kenntnis der (genauen) Ursachen des Gesundheitsschadens an sich von
ausschlaggebender Bedeutung. Ein klarer Befund, eine genaue Diagnose und
allenfalls die Ätiologie können aber wesentlich sein, wenn zu beurteilen ist,
ob einem ärztlichen Bericht Beweiswert zukommt, insbesondere ob er schlüssig,
für die rechtsanwendenden Behörden prüfend nachvollziehbar und in sich
widerspruchsfrei ist. Dies trifft auf das Gutachten der Klinik Y.________ vom
5. April 2006 insofern zu, als darin die Befunde im HWS-Bereich als wenig
objektiv (diskret) bezeichnet, auf die Diskrepanz zu den subjektiv geklagten
Schmerzen hingewiesen und für leichte wechselbelastende Tätigkeiten eine
Arbeitsfähigkeit von 100 % angegeben wird. Diese Beurteilung wird jedoch durch
die im - nach der Begutachtung erstellten - CT entdeckte neuroforaminale ossäre
Stenosierung C3/4 beidseits ernstlich in Frage gestellt. Die Annahme eines
diskreten Befundes und damit eine durch objektivierbare Befunde nicht
hinreichend erklärbare Diskrepanz zu den subjektiv geklagten Schmerzen
erscheint nicht mehr gesichert, wie in der Beschwerde zu Recht sinngemäss
vorgebracht wird.
4.2.2 Gemäss Bericht der Klinik S.________ vom 13. April 2007 verursacht die
neuroforaminale ossäre Stenosierung C3/4 eine Reizung mit myotomaler/
radikulärer Ausstrahlung rechts. Ebenfalls werden myofasziale Ausstrahlungen
mit Missempfindungen am kleinen Finger rechts erwähnt. Inwiefern sich diese
Symptome auf die Arbeitsfähigkeit auswirken, kann nicht gesagt werden. Entgegen
der Auffassung der Vorinstanz kann nicht deshalb auf weitere Abklärungen
verzichtet werden, weil die Einschätzung der Arbeitsfähigkeit im Gutachten vom
5. April 2006 mit dem Ergebnis der im Oktober 2002 durchgeführten Evaluation
der funktionellen Leistungsfähigkeit übereinstimmt. Abgesehen von der
zeitlichen Distanz standen damals Nackenschmerzen nicht im Vordergrund. Zudem
handelte es sich lediglich um eine Teilevaluation, wie in der Beschwerde
richtig vorgebracht wird. Ebenfalls ist unerheblich, dass die Ärzte der Klinik
S.________ keine Angaben zur Arbeitsfähigkeit gemacht haben. Daraus kann
jedenfalls nicht gefolgert werden, sie würden solche (implizit) verneinen. Die
Therapie mit Infiltrationen hatte zwar zur einer Schmerzreduktion geführt.
Unklar ist aber, ob dieser Erfolg bei (zumutbaren) jährlich vier Applikationen
von Dauer wäre.
4.2.3 Schliesslich weist die Vorinstanz insoweit richtig darauf hin, dass bei
der Würdigung von Berichten behandelnder Ärzte berücksichtigt werden darf und
soll, dass deren Beurteilung mitunter im Hinblick auf ihre auftragsrechtliche
Vertrauensstellung in Zweifelsfällen eher zu Gunsten der Patienten ausfällt
(Urteile 8C_812/2007 vom 6. Oktober 2008 E. 8.2, 8C_772/2007 vom 6. Mai 2008 E.
5.2.3 und 6B_547/2007 vom 1. Februar 2008 E. 2.3). Berichte behandelnder Ärzte
können jedoch ein Gutachten in Frage stellen und zumindest Anlass für weitere
Abklärungen geben, wenn darin nicht rein subjektiver ärztlicher Interpretation
entspringende Aspekte benennt werden, die im Rahmen der Begutachtung unerkannt
oder ungewürdigt geblieben sind und bei deren Berücksichtigung sich eine
abweichende Beurteilung aufdrängt (SVR 2008 IV Nr. 15, I 514/06 E. 2.2.1,
Urteile 9C_739/2008 vom 26. März 2009 E. 2.4 und 9C_24/2008 vom 27. Mai 2008 E.
2.3.2). Die mittels Computertomogramm nachgewiesene neuroforaminale ossäre
Stenosierung C3/4 beidseits stellt einen solchen Umstand dar.

4.3 Nach dem Gesagten beruht der vorinstanzliche Entscheid auf einem
unvollständig abgeklärten Sachverhalt. Auf die Einschätzung der trotz der
gesundheitlichen Beeinträchtigungen zumutbaren Arbeitsfähigkeit des Hausarztes
Dr. med. E.________ im Bericht vom 3. März 2004 kann nicht abgestellt werden.
Es erübrigt sich daher, auf die Ausführungen in der Beschwerde zur Ermittlung
des Invalideneinkommens näher einzugehen. Die IV-Stelle wird nochmals ein
Gutachten einholen und danach über den streitigen Rentenanspruch neu verfügen.
Die Beschwerde ist im Eventualstandpunkt begründet.

5.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die IV-Stelle die Gerichtskosten zu
tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung
zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts
des Kantons Zürich vom 29. Januar 2009 und die Verfügung der IV-Stelle des
Kantons Zürich vom 29. März 2007 werden aufgehoben. Die Sache wird an die
Verwaltung zurückgewiesen, damit sie nach Abklärungen im Sinne der Erwägungen
über den Anspruch des Beschwerdeführers auf eine Rente der
Invalidenversicherung neu verfüge.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der IV-Stelle des Kantons Zürich
auferlegt.

3.
Die IV-Stelle des Kantons Zürich hat den Beschwerdeführer für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen.

4.
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich hat die Gerichtskosten und
die Parteientschädigung für das vorangegangene Verfahren neu zu verlegen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 24. Juni 2009
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Fessler