Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 253/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_253/2009

Urteil vom 11. Januar 2010
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Seiler, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiberin Keel Baumann.

Parteien
G.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Petra Oehmke Schiess,
Beschwerdeführerin,

gegen

Verwaltungsgericht des Kantons Zug,
An der Aa 6, 6301 Zug,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Zug vom 29.
Januar 2009.

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 10. September 2008 stellte die IV-Stelle Zug, nach
Durchführung des Vorbescheidverfahrens, die G.________ ausgerichtete
Viertelsrente (Verfügung vom 24. August 2005) mit Wirkung auf 31. Oktober 2008
ein.

B.
G.________ liess hiegegen Beschwerde erheben und beantragen, es sei die
Verfügung aufzuheben und festzustellen, dass sie ab 1. Mai 2008 Anspruch auf
eine halbe Invalidenrente habe; eventualiter sei ihr die Viertelsrente weiter
auszurichten. Gleichzeitig ersuchte sie um unentgeltliche Rechtspflege
(Prozessführung, Verbeiständung). Am 3. November 2008 reichte sie die beiden
Formulare "Gesuch um unentgeltliche Prozessführung" und "Zeugnis zur Erlangung
der unentgeltlichen Prozessführung" mit Belegen nach. Mit Verfügung vom 4.
November 2008 lehnte der Vorsitzende der sozialversicherungsrechtlichen Kammer
des Verwaltungsgerichts des Kantons Zug das Gesuch um Bewilligung der
unentgeltlichen Rechtspflege (Prozessführung, Verbeiständung) ab mit der
Begründung, aufgrund der Akten sei die Prozessbedürftigkeit nicht ausgewiesen.
Die von G.________ hiegegen eingereichte Beschwerde mit dem Antrag auf
Aufhebung der Verfügung und Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege wies
das Verwaltungsgericht des Kantons Zug mit Entscheid vom 29. Januar 2009 ab.

C.
G.________ lässt Beschwerde führen mit dem Rechtsbegehren, der kantonale
Entscheid sei aufzuheben und das Verwaltungsgericht anzuweisen, ihr die
unentgeltliche Prozessführung zu gewähren und in der Person der
Unterzeichnenden eine unentgeltliche Rechtsvertreterin beizugeben.
Das Verwaltungsgericht beantragt die Abweisung der Beschwerde.
Erwägungen:

1.
Gegen selbständig eröffnete, weder die Zuständigkeit noch den Ausstand (vgl.
Art. 92 BGG) betreffende Zwischenentscheide ist die Beschwerde an das
Bundesgericht - abgesehen vom hier nicht gegebenen Ausnahmefall gemäss Art. 93
Abs. 1 lit. b BGG - nur zulässig, wenn sie einen nicht wieder gutzumachenden
Nachteil bewirken können (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG). Angefochten ist ein in
einem hängigen kantonalen Beschwerdeverfahren ergangener Entscheid betreffend
unentgeltliche Rechtspflege; dabei handelt es sich um einen Zwischenentscheid,
von dem die Rechtsprechung annimmt, er könne einen nicht wieder gutzumachenden
Nachteil bewirken (SVR 2009 UV Nr. 12 S. 49, 8C_530/2008 E. 2.3; Urteil 8C_429/
2008 vom 8. Juli 2008 E. 1, 9C_815/2007 vom 20. Februar 2008 E. 1 mit
Hinweisen). Auf die Beschwerde ist daher einzutreten.

2.
Die Beschwerde kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben
werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1
BGG). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat, ausser wenn diese Feststellung offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 beruht (Art. 105 Abs. 1
und 2 BGG).

3.
Jede Person, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, hat Anspruch auf
unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos
erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem
Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand (Art. 29 Abs. 3 BV). Die
unentgeltliche Rechtspflege bezweckt, auch der bedürftigen Partei den Zugang
zum Gericht und die Wahrung ihrer Parteirechte zu ermöglichen. Sie soll
sicherstellen, dass jedermann unabhängig von seinen finanziellen Verhältnissen
nicht aussichtslose Streitsachen zur gerichtlichen Entscheidung bringen und
sich überdies im Prozess, sofern es sachlich geboten ist, durch einen Anwalt
vertreten lassen kann (BGE 135 I 1 E. 7.1 S. 2). Für das - in der Regel
kostenlose (Art. 61 lit. a ATSG [SR 830.1]) - sozialversicherungsrechtliche
Beschwerdeverfahren findet der Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand in
Art. 61 lit. f ATSG eine gesetzliche Grundlage.
Die prozessuale Bedürftigkeit beurteilt sich nach der gesamten wirtschaftlichen
Situation des Rechtsuchenden im Zeitpunkt der Einreichung des Gesuchs (hier:
2008). Dazu gehören einerseits sämtliche finanziellen Verpflichtungen,
andererseits die Einkommens- und Vermögensverhältnisse (BGE 124 I 1 E. 2a S. 2,
120 Ia 179 E. 3a S. 181, je mit Hinweisen). Bei der Ermittlung des notwendigen
Lebensunterhaltes soll nicht schematisch auf das betreibungsrechtliche
Existenzminimum abgestellt, sondern den individuellen Umständen Rechnung
getragen werden. Die Grenze für die Annahme der Bedürftigkeit im Sinne der
Regeln über die unentgeltliche Rechtspflege liegt jedoch höher als diejenige
des betreibungsrechtlichen Existenzminimums (SVR 2007 AHV Nr. 7 S. 19, H 27/05
E. 4.1.2 mit Hinweisen; RKUV 2000 Nr. KV 119 S. 154, K 140/99 E. 2). Ein
allfälliger Überschuss zwischen dem zur Verfügung stehenden Einkommen und dem
Zwangsbedarf der gesuchstellenden Person ist mit den für den konkreten Fall zu
erwartenden Gerichts- und Anwaltskosten in Beziehung zu setzen (BGE 118 Ia 369
E. 4a S. 370 f.). Dabei sollte es der monatliche Überschuss ihr ermöglichen,
die Prozesskosten bei weniger aufwendigen Prozessen innert eines Jahres, bei
anderen innert zweier Jahre zu tilgen. Entscheidend ist zudem, ob die
gesuchstellende Person mit dem ihr verbleibenden Überschuss in der Lage ist,
die anfallenden Gerichts- und Anwaltskostenvorschüsse innert absehbarer Zeit zu
leisten (Pra 2008 Nr. 67 S. 444, 5A_336/2007 E. 3.1 mit Hinweis auf BGE 118 Ia
369 E. 4a S. 370 und 109 Ia 5 E. 3a S. 9).

4.
4.1 Die Vorinstanz erwog, weil die Beschwerdeführerin bei der Abklärung der
finanziellen Verhältnisse ungenügend mitgewirkt habe, indem sie die
erforderlichen Unterlagen zur aktuellen finanziellen Situation - wie namentlich
die letzte bei der kantonalen Steuerverwaltung eingereichte Steuererklärung
oder Auszüge aus den Bankkonten - weder beigelegt noch in Aussicht gestellt
habe, sei ihre Bedürftigkeit unbewiesen geblieben. Dass der Kammervorsitzende
anhand der vorhandenen Akten und Angaben entschieden habe, ohne ein weiteres
Mal Frist zur Einreichung der verlangten Unterlagen zu setzen, verletze den
Untersuchungsgrundsatz nicht. Angesichts des Einkommensüberschusses (Notbedarf:
Fr. 2'142.70; Einnahmen: Fr. 2'254.40) und der Anrechenbarkeit des Renault
Megane als Vermögen habe der Vorsitzende denn auch zu Recht auf fehlende
Bedürftigkeit geschlossen und ihr Gesuch abgewiesen.

4.2 Die Beschwerdeführerin macht geltend, es sei überspitzt formalistisch, ihr
eine Verletzung der Mitwirkungspflicht vorzuwerfen, habe sie doch ihre
finanzielle Situation - wenn sie auch nicht gleich zu Beginn die ohnehin wenig
ergiebigen Steuererklärungen 2006 und 2007 eingereicht habe - klar und
umfassend dargelegt. Wie es sich damit verhält, kann offen bleiben, weil sich
das kantonale Gericht in der Lage sah, über das Vorliegen der Bedürftigkeit
anhand der gemachten Angaben zu entscheiden, ohne dass es eine Position mangels
Nachweises unberücksichtigt gelassen hätte.

4.3 In der Beschwerde wird sodann geltend gemacht, dem kantonalen Gericht seien
bei der Ermittlung der Einkommens- und Bedarfssituation mehrere Fehler
unterlaufen. Zum einen habe es auf die SKOS- statt auf die
betreibungsrechtlichen Richtlinien für die Bemessung des Existenzbedarfs
abgestellt. Des Weitern habe es auch die SKOS-Richtlinien nicht korrekt
angewendet, indem es zwar die Fahrspesen berücksichtigt habe, aber nicht die
generell erwerbstätigen Sozialhilfebezügern zugebilligten allgemeinen
Erwerbsunkosten. Es habe die Kosten für die Garagenmiete ausser acht gelassen
mit der Begründung, das Auto stelle kein Kompetenzgut dar, und dabei übersehen,
dass der Garagenplatz erst gekündigt werden müsste. Sodann hätte es dem Umstand
Rechnung tragen müssen, dass die Beschwerdeführerin den ganzen und nicht nur
den halben Mietzins zu bezahlen habe, weil der mündige Sohn seiner
Verpflichtung, etwas an den gemeinsamen Haushalt beizusteuern, nicht nachkomme.
Was das Vermögen anbelange, bestreite zwar auch das kantonale Gericht nicht,
dass die Beschwerdeführerin - mit Ausnahme des Renaults - auf kein Vermögen
zurückgreifen könne, welches ihr erlauben würde, die Gerichts- und
Anwaltskosten zu decken, doch messe es dem 8-jährigen Renault Megane einen
Verkehrswert von Fr. 5'000.- zu und erachte es als zumutbar, das Auto zu
verkaufen und aus dem Verkaufserlös die Kosten zu decken. Es werde bestritten,
dass ein solch bescheidener Vermögenswert der Annahme der Bedürftigkeit
entgegenstehe. Selbst wenn kein Vermögensfreibetrag zuerkannt würde, sei zu
berücksichtigen, dass das 8-jährige Fahrzeug erst einmal vorgeführt werden
müsste, um den behaupteten Verkaufserlös zu erzielen.

4.4 Zu Unrecht wirft die Beschwerdeführerin der Vorinstanz vor, auf die
SKOS-Richtlinien abgestellt zu haben, liegen den Erwägungen des kantonalen
Gerichts doch nachweislich die von der Justizkommission des Obergerichts des
Kantons Zug ausgearbeiteten "Richtlinien für die Berechnung des
betreibungsrechtlichen Existenzminimums (Notbedarf) nach Art. 93 SchKG"
zugrunde. Im Übrigen wäre eine Ermittlung der Bedürftigkeit gestützt auf die
SKOS-Richtlinien im Rahmen von Art. 61 lit. f ATSG zulässig, wenn dabei die
nach der Rechtsprechung definierte Bedürftigkeit, welche über dem
betreibungsrechtlichen Existenzminimum liegt (SVR 2007 AHV Nr. 7 S. 19, H 27/05
mit zahlreichen Hinweisen), respektiert wird (Urteil 9C_234/2008 vom 4. August
2008 E. 4.3.1).
Des Weitern ist auch nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz den Mietzins des
Garagenplatzes als Aufwendung für den nicht lebensnotwendigen Bedarf
unberücksichtigt gelassen hat (vgl. BGE 124 I 1 E. 2c S. 4). Ob das kantonale
Gericht aber zu Recht eine hälftige Beteiligung des Sohnes an den Miet- und
Haushaltskosten angenommen hat, kann offen bleiben; denn entgegen der
Vorinstanz schiene die Beschwerdeführerin angesichts des geringfügigen
Überschusses von Fr. 111.70 pro Monat selbst bei dieser Betrachtungsweise als
bedürftig, weil sie damit die geschätzten Gerichts- (Fr. 800.-) und
Anwaltskosten (welche Fr. 600.- klar übersteigen dürften) nicht innert
Jahresfrist begleichen könnte. Dass die Anwaltskanzlei, welcher die
Rechtsvertreterin angehört, den Kostenvorschuss für die Beschwerdeführerin am
4. Dezember 2008 einbezahlt hat, ändert daran nichts.
Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts verletzt es sodann Bundesrecht,
wenn hinsichtlich des sog. Notgroschens pauschal auf den im Kanton Zug
angewandten Vermögensfreibetrag von Fr. 5'000.- abgestellt und die
Bedürftigkeit verneint wird mit der Begründung, der Erlös aus dem Verkauf des
Renault Megane übersteige diesen Wert. Denn nach Rechtsprechung und Lehre ist
bei der Festsetzung des Notgroschens den Verhältnissen des konkreten Falles wie
beispielsweise Alter und Gesundheit Rechnung zu tragen (Urteil I 362/05 vom 9.
August 2005 E. 5.3, B 52/02 vom 20. Dezember 2002 E. 5.3; Alfred Bühler, Die
Prozessarmut, in: Gerichtskosten, Parteikosten, Prozesskaution, unentgeltliche
Prozessführung, Bern 2001, S. 154 ff.), wobei dies namentlich auch gilt, wenn
zu beurteilen ist, ob der gesuchstellenden Person zuzumuten ist, bewegliches
Vermögen, wie ein eigenes Fahrzeug, zu veräussern, um aus dem Erlös die
Prozesskosten ganz oder teilweise zu bestreiten (Urteil I 362/05 vom 9. August
2005 E. 5.3). Unter Berücksichtigung der gesamten Umstände, namentlich der
Tatsache, dass die Beschwerdeführerin bei Gesuchseinreichung 46 Jahre alt war,
geschieden und gesundheitlich angeschlagen ist, über nur knapp ausreichende
Einkünfte verfügt und ihre Altersvorsorge bescheiden sein dürfte, rechtfertigt
sich die Annahme eines Notgroschens von mindestens Fr. 10'000.- (vgl. auch
Urteil B 52/02 vom 20. Dezember 2002, in welchem einer 42-jährigen,
gesundheitlich beeinträchtigten Versicherten mit knapp ausreichenden Einkünften
und bescheidener Altersvorsorge ein Vermögensfreibetrag von Fr. 13'903.-
zuerkannt wurde; vgl. auch Bühler, a.a.O., S. 155). Da das Vermögen der
Beschwerdeführerin selbst bei Anrechnung des Renault Megane unter diesem Wert
liegt, ist ihre Bedürftigkeit auch unter diesem Gesichtspunkt zu bejahen. Die
Sache geht an die Vorinstanz zurück, damit sie die weiteren Voraussetzungen der
Nichtaussichtslosigkeit des Verfahrens und der Gebotenheit der Verbeiständung
prüfe und hernach über die unentgeltliche Rechtspflege neu verfüge.

5.
Vom Kanton als unterliegende Partei sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art.
66 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 4 BGG). Hingegen hat die Beschwerdeführerin
für das bundesgerichtliche Verfahren Anspruch auf eine Parteientschädigung
(Art. 68 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Zug vom 29. Januar 2009 und die Verfügung des Verwaltungsgerichts des
Kantons Zug vom 4. November 2008 werden aufgehoben. Die Sache wird an die
Vorinstanz zurückgewiesen, damit sie im Sinne der E. 4.4 in fine verfahre.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Der Kanton Zug hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren
mit Fr. 2800.- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, der IV-Stelle Zug und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 11. Januar 2010

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Meyer Keel Baumann