Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 24/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_24/2009

Urteil vom 6. März 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Seiler, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiberin Dormann.

Parteien
S.________,
Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Giuseppe Dell'Olivo,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
25. November 2008.

Sachverhalt:

A.
Die 1947 geborene S.________ meldete sich im November 1989 wegen
Schwerhörigkeit bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die
IV-Stelle sprach ihr Hörgeräte, eine FM-Anlage zur drahtlosen Signalübertragung
und berufliche Massnahmen zu. Unter Verweis auf andere - in die Diagnose einer
Multiplen Sklerose mündende - gesundheitliche Beeinträchtigungen ersuchte die
Versicherte im November 2005 um weitere Leistungen. Nach Abklärungen und
Durchführung des Vorbescheidverfahrens sprach ihr die IV-Stelle mit Verfügung
vom 3. August 2007 bei einem Invaliditätsgrad von 63 % ab September 2006 eine
Dreiviertelsrente der Invalidenversicherung zu.

B.
Die Beschwerde der S.________ wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau
mit Entscheid vom 25. November 2008 ab.

C.
S.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
und beantragen, unter Aufhebung des Entscheids vom 25. November 2008 sei die
IV-Stelle zu verpflichten, ihr eine ganze Invalidenrente zuzusprechen.

Die IV-Stelle, das kantonale Gericht und das Bundesamt für Sozialversicherungen
verzichten auf eine Stellungnahme.

Erwägungen:

1.
1.1 Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter
anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die
Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht
und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend
sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den
Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG).

1.2 Auf der nicht medizinischen beruflich-erwerblichen Stufe der
Invaliditätsbemessung charakterisieren sich als Rechtsfragen die gesetzlichen
und rechtsprechungsgemässen Regeln über die Durchführung des
Einkommensvergleichs (BGE 130 V 343 E. 3.4 S. 348, 128 V 29 E. 1 S. 30, 104 V
135 E. 2a und b S. 136 f.). In dieser Sicht stellt sich die Feststellung der
beiden hypothetischen Vergleichseinkommen als Tatfrage dar, soweit sie auf
konkreter Beweiswürdigung beruht, hingegen als Rechtsfrage, soweit sich der
Entscheid nach der allgemeinen Lebenserfahrung richtet. Letzteres betrifft etwa
die Fragen, ob Tabellenlöhne anwendbar sind und welches die massgebliche
Tabelle ist (BGE 132 V 393 E. 3.3 S. 399; Urteil 8C_255/2007 vom 12. Juni 2008
E. 1.2, nicht publ. in: BGE 134 V 322). Demgegenüber beschlägt der Umgang mit
den Zahlen in der massgeblichen LSE-Tabelle eine Tatfrage. Schliesslich ist die
Frage, ob ein (behinderungsbedingt oder anderweitig begründeter) Leidensabzug
vorzunehmen sei, eine Rechtsfrage, während jene nach der Höhe des Abzuges eine
typische Ermessensfrage darstellt, deren Beantwortung letztinstanzlicher
Korrektur nur mehr dort zugänglich ist, wo das kantonale Gericht das Ermessen
rechtsfehlerhaft ausgeübt hat (BGE 132 V 393 E. 3.3 S. 399).

2.
Nach Art. 28 Abs. 1 IVG (in der bis 31. Dezember 2007 geltenden Fassung)
besteht bei einem Invaliditätsgrad von mindestens 70 % Anspruch auf eine ganze
Rente der Invalidenversicherung. Für die Bestimmung des Invaliditätsgrades wird
das Erwerbseinkommen, das die versicherte Person nach Eintritt der Invalidität
und nach Durchführung der medizinischen Behandlung und allfälliger
Eingliederungsmassnahmen durch eine ihr zumutbare Tätigkeit bei ausgeglichener
Arbeitsmarktlage erzielen könnte, in Beziehung gesetzt zum Erwerbseinkommen,
das sie erzielen könnte, wenn sie nicht invalid geworden wäre (Art. 16 ATSG).

Es steht fest und ist unbestritten, dass die Versicherte seit September 2005 in
ihrer Arbeitsfähigkeit eingeschränkt ist und ihr eine sitzende Tätigkeit
während rund drei Stunden täglich zumutbar ist. Unbestritten ist auch, dass sie
als Gesunde zu 100 % erwerbstätig wäre. Streitig und zu prüfen sind die Höhe
des hypothetischen Einkommens ohne Invalidität (Valideneinkommen) sowie des
Invalideneinkommens und der daraus resultierende Invaliditätsgrad.

3.
3.1 Die Vorinstanz hat einen Invaliditätsgrad von 63 % errechnet, welchem sie
ein Valideneinkommen von Fr. 56'626.- zu Grunde legte. Sie ist der Auffassung,
für dessen Festsetzung sei auf das Einkommen abzustellen, das die Versicherte
an ihrer letzten Arbeitsstelle im Jahr 2005 erzielt habe. Ein höheres Einkommen
aus früheren, 1983 bis 1996 ausgeübten Tätigkeiten könne nicht berücksichtigt
werden. Sie sei durch die Invalidenversicherung mit Hörgeräten versorgt und
1997 auf eine Bürotätigkeit umgeschult worden und voll einsatzfähig gewesen.
Vom Februar 2000 bis zur Arbeitsunfähigkeit im September 2005 habe sie die
Tätigkeit als Sachbearbeiterin ohne wesentliche Einschränkungen wahrnehmen
können. Sodann könnten die früher im Raum X.________ erzielten höheren Löhne
nicht ohne Weiteres herangezogen werden.

3.2 Ausschlaggebend für die Höhe des Valideneinkommens ist nicht der Verdienst
für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit, sondern das Einkommen, das die Versicherte
mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erzielen würde, wenn sie nicht invalid
geworden wäre. Das vor dem Eintritt des Gesundheitsschadens erzielte Einkommen
ist dafür in der Regel der Anknüpfungspunkt, da es empirischer Erfahrung
entspricht, dass die bisherige Tätigkeit fortgesetzt worden wäre. Ausnahmen
müssen mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erstellt sein (BGE 129 V 222 E.
4.3.1 S. 224; Urteile 9C_678/2008 vom 29. Januar 2009 E. 4.2; 9C_432/2008 vom
18. September 2008 E. 3.2).

Aus den Akten geht hervor, dass der Versicherten aufgrund einer
gesundheitlichen Beeinträchtigung im Dezember 1990 mit einem Hörgerät erstmals
eine Leistung der Invalidenversicherung zugesprochen wurde. Wegen ihrer
zunehmenden Schwerhörigkeit, mithin aus gesundheitlichen Gründen, konnte sie
die bisherige Tätigkeit als Telefonistin nicht mehr ausüben, weshalb sie das
seit 1983 bestehende Arbeitsverhältnis auf den 31. Januar 1995 kündigte. Für
das Valideneinkommen ist mindestens der damals - trotz gesundheitlicher
Beeinträchtigungen - erzielte Jahreslohn von Fr. 66'950.- massgeblich, zumal
die Beschwerdeführerin bei zwei in der Folge angetretenen und jeweils
behinderungsbedingt nach kurzer Zeit verlorenen Stellen sogar noch mehr
verdiente. Nicht relevant ist, ob sie allenfalls aufgrund eines
Standortvorteils ein überdurchschnittliches Einkommen erzielte; immerhin
entsprach nach Angaben der Arbeitgeberin die Arbeitsleistung dem Lohn. Ebenso
ist in diesem Zusammenhang bedeutungslos, dass die Versicherte dank Leistungen
der Invalidenversicherung beruflich eingegliedert werden und - bei geringerem
Lohn - bis September 2005 eine behinderungsangepasste Tätigkeit ausüben konnte.
Unter Berücksichtigung der Nominallohnentwicklung 1995 bis 2006 (vgl. Bundesamt
für Statistik, Schweizerischer Lohnindex insgesamt, Entwicklung der
Nominallöhne von Frauen) ergibt sich ein Valideneinkommen von mindestens Fr.
77'536.-.

3.3 Das kantonale Gericht hat ein Invalideneinkommen von Fr. 20'908.-
angenommen. Ausgehend vom Tabellenlohn der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung
(LSE) 2006 des Bundesamtes für Statistik (Tabelle TA1, Anforderungsniveau 3,
Frauen Total) hat es die gesundheitlich bedingte zeitliche Einschränkung der
Arbeitsfähigkeit auf drei Stunden pro Tag sowie einen leidensbedingten Abzug
von 10 % berücksichtigt.

3.4 Nach Auffassung der Beschwerdeführerin ist ein zu hohes Invalideneinkommen
festgesetzt worden. Neben der zeitlichen Einschränkung sei ihrer verminderten
Leistungsfähigkeit im Umfang von 10 % Rechnung zu tragen und für die
Teilzeittätigkeit sei ein zusätzlicher Abzug von 7 % vorzunehmen. Wie es sich
damit verhält, kann indessen offen bleiben: Wird der vorinstanzlich angenommene
Betrag von Fr. 20'908.- als Invalideneinkommen herangezogen, resultiert bei
einem Valideneinkommen von Fr. 77'536.- (E. 3.2) bereits ein Invaliditätsgrad
von 73 %, mit der Folge, dass die Beschwerdeführerin Anspruch auf eine ganze
Rente der Invalidenversicherung hat.

4.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten der IV-Stelle
aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Diese hat der obsiegenden Beschwerdeführerin
überdies eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des
Kantons Aargau vom 25. November 2008 und die Verfügung der IV-Stelle des
Kantons Aargau vom 3. August 2007 werden aufgehoben. Es wird festgestellt, dass
die Beschwerdeführerin ab 1. September 2006 Anspruch auf eine ganze Rente der
Invalidenversicherung hat.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons Aargau
zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 6. März 2009

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Meyer Dormann