Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 244/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_244/2009

Urteil vom 12. Mai 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Seiler, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber Ettlin.

Parteien
S.________, Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwältin Simone Schmucki,

gegen

IV-Stelle des Kantons Thurgau,
St. Gallerstrasse 13, 8500 Frauenfeld,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau
vom 4. Februar 2009.

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 26. August 2008 sprach die IV-Stelle des Kantons Thurgau
S.________, geboren 1971, eine ganze Invalidenrente ab 1. Mai 2004 zu. Für die
Zeit vom 1. Mai 2004 bis Ende August 2008 resultierte eine Nachzahlung von Fr.
115'172.-. Davon bezahlte die IV-Stelle Fr. 20'340.- an einen vorleistenden
Dritten aus. Einen Betrag von Fr. 48'544.- verrechnete sie mit
Rückerstattungsansprüchen gegen die Ehefrau von S.________ aufgrund
nachträglicher Plafonierung der an die Ehefrau geleisteten Rente. Auf der
Restanz von Fr. 46'288.- sprach die IV-Stelle Verzugszins von Fr. 3'948.- zu.

B.
Beschwerdeweise beantragte S.________, der Verzugszins sei auf Fr. 8'088.20
festzulegen. Mit Urteil vom 4. Februar 2009 wies das Verwaltungsgericht des
Kantons Thurgau die Beschwerde ab.

C.
S.________ erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und
erneuert das vorinstanzlich gestellte Rechtsbegehren. Die IV-Stelle des Kantons
Thurgau beantragt Abweisung der Beschwerde. Vorinstanz und Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG)
kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG).
Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie
offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von
Artikel 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des
Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt
seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. Es
kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen
oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG).

2.
Es ist unbestritten, dass die Ehefrau des Beschwerdeführers infolge
nachträglicher Plafonierung ihrer eigenen Rente (Art. 37 Abs. 1bis IVG in
Verbindung mit Art. 35 AHVG) den Betrag von Fr. 48'544.- zurückzubezahlen hat.
Auch wird die Verrechnung (Art. 50 IVG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 2 AHVG)
der Rentennachzahlung an den Beschwerdeführer mit den Rückerstattungsansprüchen
gegen dessen Ehefrau mit Recht nicht beanstandet. Zwar besteht keine Identität
zwischen Gläubiger der einen und Schuldner der anderen Forderung, was
normalerweise Voraussetzung für die Verrechnung ist (Art. 120 Abs. 1 OR), doch
kann nach der Rechtsprechung im Sozialversicherungsrecht bei
versicherungstechnisch eng zusammenhängenden Leistungen und Forderungen auf
diese Identität verzichtet werden (BGE 130 V 505 E. 2.4 S. 510, 115 V 341 E. 2b
S. 342; FRANZ SCHLAURI, Die zweigübergreifende Verrechnung und weitere
Instrumente der Vollstreckungskoordination des Sozialversicherungsrechts, in:
SCHAFFHAUSER/SCHLAURI, Sozialversicherungsrechtstagung 2004, S. 137 ff., 154).
Ein derartiger Zusammenhang besteht nach der Verwaltungspraxis namentlich auch
dann, wenn der zweite Versicherungsfall eintritt und die Rente des
erst-rentenberechtigten Ehegatten wegen der Plafonierung tiefer ausfällt (Rz.
10908 der Wegleitung über die Renten in der Eidgenössischen Alters-,
Hinterlassenen- und Invalidenversicherung [RWL]). Das Bundesgericht hat diese
Verwaltungspraxis als gesetzeskonform beurteilt (BGE 130 V 505 E. 2.6-2.9 S.
512 ff.). Die Verrechnung ist daher als solche nicht zu beanstanden.

3.
Streitig ist der Verzugszins.

3.1 Unbestritten ist, dass auf der dem Beschwerdeführer nachzuzahlenden
Invalidenrente ab Mai 2006 Verzugszinsen zu bezahlen sind (Art. 26 Abs. 2 ATSG;
BGE 133 V 9). Die Vorinstanz hat erwogen, dass auch auf dem zur Verrechnung
gebrachten Rückerstattungsanspruch gegenüber der Ehefrau ein Vergütungszins zu
leisten sei; die Verwaltung habe daher mit Recht den Verzugszins nur auf dem
noch auszuzahlenden Restbetrag von Fr. 46'288.- berechnet. Der Beschwerdeführer
macht demgegenüber geltend, im Unterschied zur Rentennachzahlung sei die
Rückerstattungsforderung nicht zinsbelastet. Der Verzugszins sei daher auf der
Nachzahlungssumme von Fr. 94'832.- zu bezahlen. Zu Recht nicht bestritten ist,
dass auf dem an bevorschussende Dritte ausbezahlten Betrag von Fr. 20'340.-
keine Verzugszinsen geschuldet sind (Art. 26 Abs. 4 lit. b und c ATSG).

3.2 Ob die Rückerstattungsforderung der Verzinsung unterliegt, wie die
Vorinstanz angenommen hat, erscheint fraglich: Der Wortlaut von Art. 26 Abs. 1
und 2 ATSG beschränkt die Zinspflicht ausdrücklich auf Beitragsforderungen,
Beitragsrückerstattungen und (nach Ablauf von 24 Monaten) auf Leistungen;
Rückerstattungen von Leistungen sind nicht erwähnt, was angesichts der
Entstehungsgeschichte eher auf ein qualifiziertes Schweigen als auf eine echte
Lücke hinweist (UELI KIESER, ATSG-Kommentar, 2009, N. 20 zu Art. 26 ATSG; vgl.
auch Urteil K 40/05 vom 12. Januar 2006 E. 4.3). Die Frage kann aber
offenbleiben, da aus einem anderen Grund der vorinstanzliche Entscheid im
Ergebnis richtig ist.

3.3 Nach Art. 124 Abs. 2 OR, der mangels entgegenstehender Bestimmungen auch im
öffentlichen Recht gilt (BGE 132 V 127 E. 7.2.1 S. 147), wird die Wirkung der
Verrechnung auf den Zeitpunkt zurückbezogen, in dem sich die beiden Forderungen
zur Verrechnung geeignet einander gegenüberstanden, das heisst, wenn die
Verrechnungsbefugnis des nachmaligen Kompensanten entsteht (VIKTOR AEPLI,
Zürcher Kommentar, 1991, N. 119 zu Art. 124 OR). In diesem Zeitpunkt geht die
kleinere Forderung samt ihren Nebenansprüchen, namentlich der
Verzinsungspflicht, unter. Die grössere Forderung reduziert sich im Umfang der
kleineren und auch ihre Nebenansprüche bestehen nur noch in diesem reduzierten
Umfang (VIKTOR AEPLI, a.a.O., N. 125, 126 und 130 zu Art. 124 OR; NICOLAS
JEANDIN, Commentaire Romand, 2003, N. 7 und 8 zu Art. 124 OR; WOLFGANG PETER,
Basler Kommentar, 2003, N. 5 und 6 zu Art. 124 OR). Der Verrechnende kann somit
Verzugsfolgen mit der Verrechnungserklärung beseitigen (ALFRED KOLLER, Die
Verrechnung nach schweizerischem Recht, recht 2007, S. 101 ff., 109).

3.4 Vorliegend entstand die Rückerstattungsforderung der Beschwerdegegnerin
gleichzeitig mit dem Rentenanspruch des Beschwerdeführers, also im Grundsatz am
1. Mai 2004 und von da an jeweils monatlich (Art. 19 Abs. 1 und 3 ATSG) für das
entsprechende Rentenbetreffnis. Damit entstand auch die Verrechnungsbefugnis
und auf diesen Zeitpunkt wird die Wirkung der Verrechnung zurückbezogen. In dem
Umfang, in dem der Rentenanspruch des Beschwerdeführers durch Verrechnung mit
der Rückerstattungsforderung getilgt wird, entsteht kein Verzugszinsanspruch.
Die Beschwerdegegnerin hat deshalb den Zins mit Recht nur auf der Restanz
berechnet. Dies erscheint auch im Ergebnis billig: Der Verzugszins hat zum
Zweck, die erst verspätete Verfügbarkeit des geschuldeten Betrags
auszugleichen. In der vorliegenden Konstellation stand der betreffende Betrag
indessen dem Beschwerdeführer und seiner Ehefrau (vgl. BGE 130 V 505 E. 2.7 S.
512 zur wirtschaftlichen Einheit der Familie als Grundlage der
Rentenplafonierung) zur Verfügung, wenn auch unter einem anderen Rechtstitel
(nicht plafonierte Rente der Ehefrau anstatt Rente des Beschwerdeführers).

4.
Der Beschwerdeführer trägt die Kosten des bundesgerichtlichen Verfahrens (Art.
66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau,
der Ausgleichskasse Grosshandel + Transithandel und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 12. Mai 2009
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Ettlin