Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 224/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_224/2009

Urteil vom 11. September 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Seiler, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber Schmutz.

Parteien
KPT Krankenkasse AG, Tellstrasse 18, 3014 Bern,
Beschwerdeführerin,

gegen

M.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Jean Baptiste Huber,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Krankenversicherung (Krankenpflege,
Wirtschaftlichkeit der Behandlung),

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern
vom 16. Februar 2009.

Sachverhalt:

A.
M.________, geboren 1954, ist bei der KPT Krankenkasse AG (nachfolgend: KPT)
obligatorisch krankenpflegeversichert. Im Jahr 2000 wurde ihm ein Magenband
implantiert. Am 13. Dezember 2007 ersuchte die Klinik B.________ die KPT um
Kostengutsprache für einen Magenbandwechsel. Die KPT stellte M.________ eine
Leistungszusicherung mit dem Vermerk zu, sie übernehme lediglich die Entfernung
des Magenbandes als Pflichtleistung aus der obligatorischen
Krankenpflegeversicherung, nicht aber das Einlegen eines neuen Magenbands. Am
19. Dezember 2007 unterzog sich der Versicherte zunächst dem geplanten
Eingriff, worauf die Klinik am 29. Januar 2008 ein weiteres
Kostengutsprachegesuch für einen erneuten Bandersatz (am 1. Februar 2008)
stellte. Die KPT verfügte am 7. Mai 2008 die Ablehnung der Kostenübernahme von
weiteren Bandeinlagen. M.________ erhob Einsprache. Am 18. Juli 2008 erklärte
die KPT, sie sei gestützt auf eine vertrauensärztliche Stellungnahme bereit,
die am 19. Dezember 2007 durchgeführte Bandeinlage zu übernehmen. Mit Entscheid
vom 9. Oktober 2008 wies sie die Einsprache ab, soweit der gestellte Antrag
nicht durch Übernahme geforderter Leistungen gegenstandslos geworden war;
mithin Kostenübernahme für das Magenband vom 19. Dezember 2007, nicht aber für
die 3. Einlage vom 1. Februar 2008. Sie begründete dies damit, dass aufgrund
wiederholt aufgetretener Komplikationen und der vor der Operation
diagnostizierten Zwerchfellhernie ein Magen-Bypass die zweckmässigere
Behandlung dargestellt habe, was vom Versicherten abgelehnt worden sei. Das
gewählte Vorgehen, ein drittes Magenbanding, sei jedoch nicht zweckmässig,
weshalb aus der obligatorischen Krankenpflegeversicherung keine Leistungen
erbracht würden, die mit der Einlage des Magenbandes am 1. Februar 2008 im
Zusammenhang stünden.

B.
Die von M.________ dagegen erhobene Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des
Kantons Bern mit Entscheid vom 16. Februar 2009 gut. Es verpflichtete die KPT,
dem Versicherten im Zusammenhang mit dem medizinischen Eingriff am 1. Februar
2008 auch die Materialkosten von Fr. 3'462.80 zu vergüten.

C.
Die KPT führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und
beantragt Aufhebung des kantonalen Entscheides.
M.________ beantragt Abweisung der Beschwerde; Vorinstanz und Bundesamt für
Gesundheit verzichten auf Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Die obligatorische Krankenversicherung übernimmt nach Art. 24 KVG die Kosten
für die Leistungen gemäss Art. 25-31 KVG nach Massgabe der in Art. 32-34 KVG
festgelegten Voraussetzungen. Bedingung für die Übernahme der Kosten der im
Rahmen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung erbrachten Leistungen ist
nach Art. 32 Abs. 1 KVG neben Wirksamkeit und Zweckmässigkeit auch ihre
Wirtschaftlichkeit.

1.1 Die Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit der in der Schweiz
von Ärztinnen und Ärzten erbrachten Leistungen wird gesetzlich vermutet (vgl.
Art. 33 Abs. 1 KVG; RKUV 2000 Nr. KV 132 S. 283 f. [K 151/99] E. 3). Die
genannten Kriterien enthalten einen gewissen ärztlichen Ermessensspielraum.
Eine Therapie kann nicht schon als gegen das Gebot einer wirksamen,
zweckmässigen und wirtschaftlichen Behandlung verstossend betrachtet werden,
weil im Nachhinein eine Behandlung als suboptimal oder wenig erfolgreich
erscheint (in RKUV 2003 Nr. KV 251 S. 226 nicht publizierte E. 3 des Urteils K
79/02 vom 12. Februar 2003). Zudem muss die Einhaltung des Gebotes einer
wirksamen, zweckmässigen und wirtschaftlichen Behandlung nach dem Wissen im
Zeitpunkt der Therapie beurteilt werden (Urteil 9C_567/2007 vom 25. September
2008 E. 1.2).

1.2 Die Beurteilung der Wirksamkeit und Zweckmässigkeit medizinischer
Anwendungen ist ein ununterbrochener Prozess. Häufig stellt sich die
Unzweckmässigkeit erst nach Jahren heraus. Art. 32 Abs. 2 KVG sieht daher vor,
dass die Zulassungsvoraussetzungen bei den medizinischen Anwendungen und
Techniken zu überprüfen sind. Diese Bestimmung hat nicht die Aufgabe, die
Qualität medizinischer Leistungen laufend auf dem besten Stand zu halten,
sondern durch den Ausschluss überholter Techniken unnötige Kosten zu sparen.
Sie ist ein Instrument zur Sicherstellung der Wirtschaftlichkeit mittels
Qualitätskontrolle. Überholte Leistungen sind aus dem Pflichtleistungskatalog
auszumustern (Gebhard Eugster, Krankenversicherung, in: Schweizerisches
Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale Sicherheit, 2. Aufl. 2007, S. 609 Rz.
633).

2.
2.1 Gestützt auf Art. 33 Abs. 1 KVG kann der Bundesrat die von Ärzten und
Ärztinnen erbrachten Leistungen bezeichnen, deren Kosten von der
obligatorischen Krankenpflegeversicherung nicht oder nur unter bestimmten
Bedingungen übernommen werden. Das Eidgenössische Departement des Innern (EDI),
an welches der Bundesrat diese Aufgabe übertragen hat (vgl. Art. 33 Abs. 5 KVG
in Verbindung mit Art. 33 lit. a und c KVV), hat gemäss Art. 1 der Verordnung
über Leistungen in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung
(Krankenpflege-Leistungsverordnung, KLV) vom 29. September 1995 im Anhang 1 zur
KLV die ärztlichen Leistungen aufgeführt, welche vorbehaltlos, unter gewissen
Voraussetzungen oder überhaupt nicht zu Lasten der obligatorischen
Krankenpflegeversicherung gehen.

2.2 Wie der Bundesrat in der Stellungnahme vom 24. Juni 2009 zum Bericht der
Parlamentarischen Verwaltungskontrolle vom 21. August 2008 sowie zu den
Empfehlungen der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates (GPK-N) vom 26.
Januar 2009 betreffend der Inspektion "Bestimmung und Überprüfung ärztlicher
Leistungen in der obligatorischen Krankenversicherung" (BBl 2009 5577, 5589,
5649) ausgeführt hat (BBl 2009 5650), bedeutet das Konzept der Umschreibung der
Leistungspflicht nach Art. 33 Abs. 1 KVG, dass grundsätzlich alle ärztlichen
Leistungen vergütet werden, wenn nicht etwas anderes bestimmt wird. Der
Pflichtleistungscharakter von diagnostischen und therapeutischen Arztleistungen
wird damit implizit vermutet (Vertrauensprinzip). Der Verordnungsgeber kann
neue oder umstrittene Behandlungen von den Pflichtleistungen ausschliessen, bis
sie einer methodischen Überprüfung auf Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und
Wirtschaftlichkeit standhalten (Art. 33 Abs. 3 KVG). Er hat auch die
Möglichkeit, neue Techniken oder Methoden lediglich für bestimmte Indikationen
zuzulassen, wenn nur in diesem Bereich Art. 32 Abs. 1 KVG erfüllt ist, oder
deren Zulassung von einer bestimmten fachlichen Kompetenz des
Leistungserbringers abhängig zu machen (Art. 58 Abs. 3 lit. b KVG). Er kann
schliesslich sich noch in Abklärung befindliche Leistungen auf Zusehen hin und
unter der Auflage des definitiven Nachweises der Voraussetzungen von Art. 32
KVG zulassen. Neue oder umstrittene Leistungen können durchaus wirksam,
zweckmässig und wirtschaftlich sein, obwohl es ihnen lediglich noch an einem
ausreichenden Beweis dieser Eigenschaft fehlt. Die ärztlichen Leistungen der
Krankheitsbehandlungen werden in einer offenen Liste bzw. einem offenen und
beschränkten "Ausschluss- oder Voraussetzungskatalog" geführt (Botschaft über
die Revision der Krankenversicherung, BBl 1992 I 93, 159). Diese offene Liste
ist in der KLV in Anhang 1 integriert. Sie nennt bei vielen Leistungen die
Voraussetzungen für die Kostenübernahme wie Limitationen auf bestimmte
Indikationen, Vorgaben, die die Leistungserbringer erfüllen müssen, oder (für
Leistungen gemäss Art. 33 Abs. 3 KVG) zeitliche Befristungen der
Leistungspflicht mit Auflage der Evaluation durch die Leistungserbringer. Im
Gegensatz dazu werden für Arzneimittel, Analysen, Mittel und Gegenstände,
präventivmedizinische Leistungen, Leistungen bei Mutterschaft sowie für
Leistungen von nichtärztlichen Leistungserbringern abschliessende Listen
geführt (sog. Positivlisten, Art. 33 Abs. 2 KVG).

3.
Nach Ziff. 1.1 des Anhangs 1 zur KLV ist die operative Adipositasbehandlung
(Gastric Roux-Y Bypass, Gastric Banding, Vertical Banded Gastroplasty) unter
den in lit. a-g statuierten Voraussetzungen zu übernehmen; es ist unbestritten,
dass sie hier alle erfüllt waren. Wie die Vorinstanz zutreffend darlegt, ist
zwischen den Parteien hauptsächlich die Wirksamkeit und Zweckmässigkeit der
konkret zu beurteilenden Operation vom 1. Februar 2008 dem Einlegen eines
dritten Magenbandes streitig.

3.1 Die Beschwerdeführerin hält dem Beschwerdegegner vor, aufgrund der
medizinischen Vorgeschichte und der Entwicklung von Hernien habe der
Vertrauensarzt mit Recht bei einer dritten Magenbandeinlage einen Misserfolg
sowie Komplikationen als wahrscheinlich eingeschätzt. Die Risiken und
Komplikationen einer neuerlichen Magenbandeinlage seien in einem Ausmass erhöht
gewesen, welches prognostisch den Nutzen einer erneuten Magenbandeinlage nicht
höher werten liess als die Risiken, die mit einer Magen-Bypass-Operation
eingegangen worden wären, die hier die zweckmässige Behandlung gewesen wäre
(jedoch vom Beschwerdegegner abgelehnt worden sei).

3.2 Der Versicherte hält dagegen, dass auch die am 1. Februar 2008 erfolgte
dritte Magenbandeinlage der Wirtschaftlichkeits- und Zweckmässigkeitsprüfung
ohne Weiteres standgehalten habe. Der Verlauf habe den behandelnden Ärzten
Recht gegeben. Das neue Band werde bestens vertragen und es sei noch einmal ein
Gewichtsverlust eingetreten, sodass heute ein dem Behandlungsziel
entsprechendes Normalgewicht bestehe. Da eine Reoperation mit Magenband nach
spezialärztlicher Aussage eine Mortalität von 0 % aufweise, die Konversion zu
einem Magen-Bypass aber eine solche von 0,1-1 %, sei es aus medizinischer Sicht
sinnvoll und ethisch richtig, dem Wunsch des Patienten zu einer erneuten
Magenbandeinlage zu entsprechen: Die Methode sei bis zum Wechsel des Bandes
erfolgreich gewesen, und das Band werde auch heute noch gut vertragen, womit
sich die Prognose der behandelnden Ärzte bewahrheitet habe.

4.
4.1 Dass die Einlage eines Magenbandes nach wie vor zum Pflichtleistungskatalog
gehört, ist bundesrechtlich durch die Revision von Ziff. 1.1 des Anhangs 1 zur
KLV auf den 1. Juli 2009 (AS 2009 2821) gerade wieder bestätigt worden, indem
der Katalog der Massnahmen für die operative Adipositasbehandlung unverändert
beibehalten worden ist; neu ist für die Patienten sogar ein Höchstalter von 65
statt 60 Jahren vorgesehen. Es deutet nichts darauf hin, dass sich hinsichtlich
der Wirksamkeit und Zweckmässigkeit der Magenbandeinlage generell bereits eine
Einschätzung durchgesetzt hat, wie sie von der Beschwerdeführerin mit der
Ablehnung der Kostengutsprache im Leistungsstreit vertreten wird; weitere
Erörterungen dazu erübrigen sich deshalb.

4.2 Auf den vorliegenden Fall bezogen hat die Vorinstanz überzeugend dargelegt,
dass zwischen den Ärzten nur Uneinigkeit darüber herrscht, welche der
verschiedenen zur Verfügung stehenden therapeutischen Massnahmen, ex ante
betrachtet, in Bezug auf die konkrete Situation des Versicherten im Zeitpunkt
des Eingriffes vom 1. Februar 2008 zweckmässiger war. Es könnten, unter
Berücksichtigung der Einschätzung des Vertrauensarzts und des Operateurs,
sowohl das Magenband als auch der Magen-Bypass als zweckmässig qualifiziert
werden, selbst wenn die beiden Behandlungsmethoden bezüglich der damit
verbundenen Operationsrisiken, Komplikationsraten und Spätresultate voneinander
abwichen. Welche von mehreren in Betracht fallenden Massnahmen als geeigneter
erscheine, sei jedoch in Bezug auf die Beurteilung der Zweckmässigkeit
unmassgeblich. Die Leistungspflicht des Krankenversicherers beurteile sich
folglich allein unter dem Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit. Würden die
vorliegend strittigen Materialkosten des Bandes den zu veranschlagenden Kosten
für die Anlage eines Magen-Bypasses gegenübergestellt, so erhelle, dass unter
dem Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit dem umstrittenen Eingriff vom 1.
Februar 2008 der Vorzug zu geben sei.

4.3 Die Sichtweise der Vorinstanz respektiert die oben in E. 1.1, 1.2 und 2.2
angesprochenen rechtlichen Aspekte, gerade auch bei einer rückwirkenden
Beurteilung des zu wahrenden ärztlichen Ermessensspielraums bei der
Konkretisierung der einzuhaltenden Leistungskriterien. In diesem Zusammenhang
bleibt anzufügen, dass die Aussage des Vertrauensarztes in der Aktennotiz vom
29. Dezember 2008, das KVG wolle, dass der Vertrauensarzt zu solchen
Operationen seine Zustimmung gebe, auf einer unzutreffenden Einschätzung der
Rechtslage basiert: Verlangt wird in Ziff. 1.1 des Anhangs 1 zur KLV lediglich,
dass mit ihm vor der Operation Rücksprache genommen wird ("après en avoir
référé au médecin-conseil"; "previo colloquio con il medico di fiducia"). Somit
besteht weder Anlass zur Korrektur der vorinstanzlichen
Sachverhaltsfeststellung (Art. 105 Abs. 2 BGG), noch verletzt der angefochtene
Entscheid in der Anwendung der massgeblichen materiellrechtlichen Grundlagen
Bundesrecht (Art. 95 BGG).

5.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird die unterliegende Beschwerdeführerin
kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdeführerin hat den Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit
schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 11. September 2009
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Schmutz