Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 214/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_214/2009

Urteil vom 11. Mai 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Seiler, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber Fessler.

Parteien
M.________, Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwalt Philip Stolkin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Freiburg,
Route du Mont-Carmel 5, 1762 Givisiez,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid
des Kantonsgerichts Freiburg
vom 16. Januar 2009.

Sachverhalt:

A.
Der 1965 geborene M.________ zog sich am 28. Mai 2002 bei einem Unfall auf
einer Baustelle mehrere Frakturen der rechten Hand zu. Nach drei operativen
Eingriffen und einem stationären Aufenthalt in der Rehaklinik Z.________ vom 2.
Oktober bis 4. Dezember 2002 sprach ihm die Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) ab 1. November 2004 eine Invalidenrente
aufgrund einer Erwerbsunfähigkeit von 46 % sowie eine Integritätsentschädigung
bei einer Integritätseinbusse von 20 % zu (Einspracheentscheid vom 8. März
2005), was das Eidgenössische Versicherungsgericht letztinstanzlich bestätigte
(Urteil U 545/06 vom 9. Januar 2008).
Im April 2003 hatte sich M.________ bei der Invalidenversicherung angemeldet
und Umschulung beantragt. Nach Abklärung der gesundheitlichen und erwerblichen
Verhältnisse sowie der beruflichen Eingliederungsmöglichkeiten sprach ihm die
IV-Stelle des Kantons Freiburg ab 1. Mai 2003 eine Viertelsrente samt
Zusatzrente für die Ehefrau sowie drei Kinderrenten zu (Verfügung vom 18. März
2005 und Einspracheentscheid vom 29. November 2006).

B.
Die Beschwerde des M.________ wies der Sozialversicherungsgerichtshof des
Kantonsgerichts Freiburg nach zweifachem Schriftenwechsel ab (Entscheid vom 16.
Januar 2009).

C.
M.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit den Rechtsbegehren, es sei der Entscheid vom 16. Januar 2009 aufzuheben und
ihm eine Rente bei einem Invaliditätsgrad von 100 % zuzusprechen, eventualiter
die Sache zur Neubeurteilung an das kantonale Versicherungsgericht oder die
IV-Stelle zurückzuweisen.
Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Beschwerde. Kantonales Gericht und
Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Das kantonale Gericht hat durch Einkommensvergleich (Art. 16 ATSG in Verbindung
mit Art. 28a Abs. 1 IVG) einen Invaliditätsgrad von 47,3 % (zum Runden BGE 130
V 121) ermittelt, was Anspruch auf eine Viertelsrente gibt (Art. 28 Abs. 2
IVG). Für die Bestimmung des Invalideneinkommens ist die Vorinstanz gestützt
auf die Berichte des Handchirurgen Prof. Dr. med. B.________ vom 28. Juni 2004
und des Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD) der IV-Stellen vom 8. August 2006
von einer zumutbaren Arbeitsfähigkeit von 72 % (6 Arbeitsstunden im Tag), wobei
die rechte Hand höchstens als Helferhand eingesetzt werden kann, und in diesem
zeitlichen Rahmen von einer um 15 % reduzierten Leistungsfähigkeit ausgegangen.

2.
In der Beschwerde wird in erster Linie eine Verletzung von Art. 43 ATSG und
Art. 61 lit. c ATSG gerügt. Der rechtserhebliche medizinische Sachverhalt sei
ungenügend abgeklärt worden. Der vorinstanzliche Entscheid beruhe auf einem
unvollständig festgestellten Sachverhalt. In den gesamten medizinischen
Unterlagen fände sich keine verlässliche Angabe zum Ausmass der Einschränkung
der Leistungsfähigkeit. Einzig im Bericht der Beruflichen Abklärungsstelle der
IV vom 3. Mai 2004 über die stationäre berufliche Abklärung vom 16. Februar bis
7. Mai 2004 sei die Leistungsfähigkeit unter realen Bedingungen auf 30 %
eingeschätzt worden. Wolle darauf nicht abgestellt werden, müsse zu dieser
Frage ein Gutachten eingeholt werden.

3.
3.1 Das Bundesgericht legt seinem Urteil - von hier nicht interessierenden
Ausnahmen abgesehen - den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat. Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen oder
auf Rüge hin (Art. 97 Abs. 1 BGG) berichtigen oder ergänzen, wenn sie
offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von
Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG). Die konkrete Beweiswürdigung ist
wie die darauf beruhende Sachverhaltsfeststellung ebenfalls nur unter diesem
eingeschränkten Blickwinkel überprüfbar (Urteil 9C_454/2009 vom 3. April 2009
E. 1.2 mit Hinweisen).

Die Beweiswürdigung durch das kantonale Gericht verletzt Bundesrecht,
namentlich wenn es den Sinn und die Tragweite eines Beweismittels
offensichtlich falsch eingeschätzt, ohne sachlichen Grund ein wichtiges und für
den Ausgang des Verfahrens entscheidendes Beweismittel nicht beachtet oder aus
den abgenommenen Beweisen unhaltbare Schlüsse gezogen hat (BGE 129 I 8 E. 2.1
S. 9; Urteil 9C_932/2009 vom 19. April 2009 E. 3.1 mit Hinweisen).

3.2 Wegen der grundsätzlichen Bindung des Bundesgerichts an die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz kommt der Frage, welches die den
angefochtenen Entscheid tragenden Tatsachen sind, besondere Bedeutung zu. In
diesem Sinne rechtserheblich sind alle Tatsachen, von deren Vorliegen es
abhängt, ob über den streitigen Anspruch so oder anders zu entscheiden ist
(Fritz Gygi, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl. 1983, S. 43 und 273;
Urteil 9C_339/2007 vom 5. März 2008 E. 5.1.2). Ein diesbezüglich unvollständig
festgestellter Sachverhalt verhindert die korrekte Anwendung des einschlägigen
Rechts, was Art. 112 Abs. 1 lit. b BGG und somit Bundesrecht verletzt (Art. 95
lit. a BGG; Urteil 2C_505/2008 vom 28. Januar 2009 E. 8.2).
Eine die tatsächlichen Grundlagen des vorinstanzlichen Entscheids betreffende
Verletzung von Bundesrecht liegt auch vor, wenn das kantonale
Versicherungsgericht in Missachtung des Untersuchungsgrundsatzes nach Art. 61
lit. c ATSG den rechtserheblichen Sachverhalt ungenügend abklärt und darauf
abstellt (Urteil 9C_45/2009 vom 3. April 2009 E. 1.1 mit Hinweis).

4.
4.1 Prof. B.________ bezifferte im Arztbericht vom 28. Juni 2004 die
Arbeitsfähigkeit auf sechs Stunden im Tag in einer angepassten Tätigkeit. In
diesem zeitlichen Rahmen bestehe je nach Berufsspektrum eine verminderte
Leistungsfähigkeit. Im RAD-Bericht vom 8. August 2006 wurde an der bisherigen
Beurteilung einer Arbeitsfähigkeit von 72 % in leichter industrieller
Produktion mit um 15 % reduzierter Leistungsfähigkeit festgehalten. Im Bericht
vom 3. Mai 2004 über die stationäre berufliche Abklärung vom 16. Februar bis 7.
Mai 2004 wurde die vom Versicherten erbrachte Arbeitsleistung auf rund 30 %
eingeschätzt.

4.2 Die vorinstanzliche Annahme einer Arbeitsfähigkeit im zeitlichen Umfang von
sechs Stunden pro Tag oder 72 % eines in industriellen Betrieben üblichen
Arbeitspensums ist nicht offensichtlich unrichtig und wird im Übrigen auch
nicht ernstlich bestritten. Ebenfalls steht ausser Frage, dass in diesem
zeitlichen Rahmen die Leistungsfähigkeit eingeschränkt ist. Prof. B.________,
auf dessen Einschätzung die Vorinstanz im Übrigen abgestellt hat, äusserte sich
allerdings nicht genauer dazu. Im RAD-Bericht vom 8. August 2006 wurde die
Verminderung der Leistungsfähigkeit im Rahmen der von Prof. B.________
umschriebenen Arbeitsfähigkeit auf 15 % beziffert. Es stellt keine unhaltbare
Beweiswürdigung dar, dass die Vorinstanz darauf abgestellt hat. Auch Berichten
der Regionalen Ärztlichen Dienste nach Art. 49 Abs. 3 IVV kann Beweiswert
zukommen (Urteil 9C_55/2008 vom 26. Mai 2008 E. 4.1 mit Hinweis). Das kantonale
Gericht hat auch nicht den Untersuchungsgrundsatz verletzt, indem es von
weiteren Abklärungen zur Frage der Leistungsfähigkeit aus handchirurgischer
Sicht abgesehen hat. Daran ändert nichts, dass die Arbeitsleistung während der
stationären beruflichen Abklärung vom 16. Februar bis 7. Mai 2004 auf rund 30 %
geschätzt wurde, zumal nach unwidersprochener Feststellung der Vorinstanz der
Versicherte aus Angst vor Überanstrengung nicht an seine körperlichen Limiten
gegangen war.

4.3 Die von der Vorinstanz der Invaliditätsbemessung zugrunde gelegten
Arbeitsfähigkeit und Leistungsfähigkeit gelten spätestens ab 1. November 2004
(UV-Rentenbeginn). Für die Zeit davor ist aufgrund der medizinischen Akten von
einem protrahierten Verlauf des Gesundheitsschadens nach dem Unfall vom 28. Mai
2002 auszugehen. Insbesondere erwähnte der Kreisarzt der SUVA in seinen
Berichten vom 4. September 2002, 12. Juni und 27. November 2003 eine
Komplikation verursacht durch eine Algoneurodystrophie. Es stellt sich somit
für die Zeit vom 1. Mai 2003 (Leistungsbeginn) bis 31. Oktober 2004 die von der
IV-Stelle noch zu prüfende Frage nach dem Ausmass der Arbeitsunfähigkeit.
Insoweit ist die Beschwerde begründet.

5.
Streitig sind auch Validen- und Invalideneinkommen.

5.1 Das Valideneinkommen von Fr. 60'320.- für 2003 ist nicht zu beanstanden. Es
entspricht den Angaben im Fragebogen für Arbeitgebende vom 24. Juni 2003. Vom
selben Valideneinkommen ging auch der Unfallversicherer bei der Ermittlung des
Invaliditätsgrades durch Einkommensvergleich aus (Einspracheentscheid vom 8.
März 2005). Auf den gemäss einer handschriftlichen Berechnung vom 30. März 2004
im Jahr vor dem Unfall vom 28. Mai 2002 erzielten Lohn von Fr. 65'856.- kann
nicht abgestellt werden. Dabei handelt es sich um den versicherten Verdienst
für die Bemessung der Rente (Art. 15 Abs. 1 UVG).

5.2 Unbestritten ist sodann die Ermittlung des Invalidenkommens auf der
Grundlage der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung 2002 des Bundesamtes für
Statistik (vgl. BGE 124 V 321). Dabei ist die Vorinstanz vom durchschnittlichen
monatlichen Bruttolohn («Total») für Männer oder Frauen bei einfachen und
repetitiven Tätigkeiten (Anforderungsniveau des Arbeitsplatzes 4) im privaten
Sektor ausgegangen. Dies entspricht der Regel bei Versicherten, die wie der
Beschwerdeführer nach Eintritt des Gesundheitsschadens lediglich noch leichte
und intellektuell nicht anspruchsvolle Arbeiten verrichten können (RKUV 2001
Nr. U 439, U 240/99). Davon kann abgewichen und auf einen anderen Tabellenlohn
abgestellt werden, wenn der Verwertbarkeit der verbliebenen Arbeitsfähigkeit
derart enge Grenzen gesetzt sind, dass praktisch alle Tätigkeiten eines
bestimmten Wirtschaftszweiges ausser Betracht fallen (Urteil 9C_55/2007 vom 18.
Oktober 2007 E. 5.3.2 mit Hinweisen). Dazu hat die Vorinstanz keine
Feststellungen getroffen. Daher wird die IV-Stelle dem Einwand, dem
Beschwerdeführer seien nur einfachste Handreichungen zumutbar, bei denen er
sich nicht allzu stark konzentrieren müsse, im Rahmen der Rückweisung noch
nachzugehen haben. Hingegen vermögen die Vorbringen in der Beschwerde nicht
darzutun, inwiefern die Vorinstanz mit einem Abzug vom Tabellenlohn gemäss BGE
126 V 75 von 10 % ihr Ermessen rechtsfehlerhaft ausgeübt hat, also
Ermessensüberschreitung, -missbrauch oder -unterschreitung vorliegt (Urteil
9C_106/2009 vom 8. April 2009 E. 5).

5.3 Die IV-Stelle wird auch zu prüfen haben, ob der Beschwerdeführer Anspruch
auf berufliche Massnahmen, insbesondere auf Arbeitsvermittlung gestützt auf
Art. 18 Abs. 1 lit. a IVG hat.

6.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend haben der Beschwerdeführer und die
IV-Stelle Gerichtskosten nach Massgabe ihres Unterliegens zu tragen (Art. 66
Abs. 1 BGG). Der Beschwerdeführer hat Anspruch auf eine reduzierte
Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
In teilweiser Gutheissung der Beschwerde werden der Entscheid des
Kantonsgerichts Freiburg, Sozialversicherungsgerichtshof, vom 16. Januar 2009
und der Einspracheentscheid der IV-Stelle des Kantons Freiburg vom 29. November
2006 aufgehoben. Die Sache wird an die Verwaltung zurückgewiesen, damit sie,
nach Aktenergänzung im Sinne von E. 4.3 und 5.2, über den Rentenanspruch ab 1.
Mai 2003 neu verfüge. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden je hälftig dem Beschwerdeführer und der
IV-Stelle des Kantons Freiburg auferlegt.

3.
Die IV-Stelle des Kantons Freiburg hat den Beschwerdeführer für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 1400.- zu entschädigen.

4.
Das Kantonsgericht Freiburg, Sozialversicherungsgerichtshof, hat die
Gerichtskosten und die Parteientschädigung für das vorinstanzliche Verfahren
neu festzusetzen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Freiburg,
Sozialversicherungsgerichtshof, der Ausgleichskasse des Schweizerischen
Baumeisterverbandes und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich
mitgeteilt.

Luzern, 11. Mai 2009
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Fessler