Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 186/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_186/2009

Urteil vom 29. Juni 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Seiler,
Gerichtsschreiberin Dormann.

Parteien
IV-Stelle Basel-Stadt, Lange Gasse 7, 4052 Basel,
Beschwerdeführerin,

gegen

O.________,
vertreten durch Advokat Dr. Donald Stückelberger,
Beschwerdegegnerin,

Zürich Versicherungs-Gesellschaft,
Mitbeteiligte.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts Basel-Stadt
vom 3. Dezember 2008.

Sachverhalt:

A.
Die 1977 geborene O.________ wurde 1989 von ihrer Mutter wegen
Entwicklungsrückstand und schulpsychologischer Probleme bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug angemeldet. Von August 1989 bis Juni
1997 wurden ihr Sonderschulung sowie medizinische und berufliche Massnahmen
gewährt. Unter Hinweis auf grosse Lernschwierigkeiten (Legasthenie,
Dyskalkulie) meldete sich O.________ im Februar 2005 erneut bei der
Invalidenversicherung an. Die IV-Stelle Basel-Stadt sprach ihr berufliche
Massnahmen zu, hingegen verneinte sie nach Abklärungen und Durchführung des
Vorbescheidverfahrens mit Verfügung vom 6. Februar 2008 mangels
leistungsbegründender Invalidität einen Rentenanspruch.

B.
In Gutheissung der Beschwerde der O.________ hob das Sozialversicherungsgericht
Basel-Stadt die angefochtene Verfügung mit Entscheid vom 3. Dezember 2008 auf
und wies die Sache zum neuen Entscheid im Sinne der Erwägungen an die
Verwaltung zurück.

C.
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und
beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheides.

O.________ und das kantonale Gericht schliessen auf Abweisung der Beschwerde.
Die Versicherte lässt ferner um unentgeltliche Rechtspflege ersuchen. Das
Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Stellungnahme.

Erwägungen:

1.
Der als Vor- oder Zwischenentscheid im Sinne des BGG zu qualifizierende (vgl.
BGE 133 V 477 E. 4.2 S. 481 f.) kantonale Rückweisungsentscheid vom 3. Dezember
2008 kann unter den Voraussetzungen des Art. 93 Abs. 1 BGG angefochten werden.
Danach ist die Beschwerde gegen andere (d.h. nicht die Zuständigkeit oder
Ausstandsbegehren betreffende [vgl. Art. 92 BGG]) selbstständig eröffnete Vor-
und Zwischenentscheide zulässig, wenn sie einen nicht wieder gutzumachenden
Nachteil bewirken können, oder wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort einen
Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder
Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde.

Soweit mit dem kantonalen Rückweisungsentscheid der Invaliditätsgrad der
Versicherten auf 48 % und der Anspruch auf eine Viertelsrente der
Invalidenversicherung festgelegt werden, enthält er abschliessende materielle
Vorgaben, an welche die IV-Stelle gebunden ist. Diesbezüglich hat er für die
Verwaltung einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs.
1 lit. a BGG zur Folge (vgl. BGE 133 V 477 E. 5.2 S. 483 ff.). Auf die
Beschwerde ist daher einzutreten.

2.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem
die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die
Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht
und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend
sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den
Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG).

Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es
ist somit weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an
die Erwägungen der Vorinstanz gebunden. Es kann eine Beschwerde aus einem
anderen als dem angerufenen Grund gutheissen oder mit einer von der
Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (Urteil 9C_294/
2007 vom 10. Oktober 2007 E. 2 mit Hinweis; vgl. BGE 132 II 257 E. 2.5 S. 262;
130 III 136 E. 1.4 S. 140).

3.
3.1 Die Vorinstanz hat nicht offensichtlich unrichtig und daher für das
Bundesgericht verbindlich festgestellt (E. 2), die Beschwerdeführerin sei in
ihrer psychischen Gesundheit beeinträchtigt und die dadurch bedingten Lese- und
Rechenschwächen sowie die Prüfungsangst hätten bis anhin eine berufliche
Ausbildung verunmöglicht. Es sei von einer vollständigen Arbeitsfähigkeit in
einer angepassten Tätigkeit auszugehen. In der Folge hat sie den Rentenanspruch
ab 1. Februar 2004 (vgl. Art. 48 Abs. 2 IVG in der bis 31. Dezember 2007
geltenden Fassung) unter Anwendung der allgemeinen Methode des
Einkommensvergleichs (vgl. Art. 16 ATSG) geprüft.

3.2 Invalidität liegt nur vor, wenn nach zumutbarer Eingliederung ein ganzer
oder teilweiser Verlust der Erwerbsmöglichkeiten verbleibt (Art. 8 Abs. 1 in
Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 ATSG sowie Art. 16 ATSG; vgl. auch Art. 28 Abs. 1
lit. a IVG in der ab 1. Januar 2008 geltenden Fassung). Damit wird der
Grundsatz "Eingliederung vor Rente" statuiert, welcher bewirkt, dass vor der
Durchführung von Eingliederungsmassnahmen eine Rente nur gewährt werden darf,
wenn die versicherte Person wegen ihres Gesundheitszustandes (noch) nicht
eingliederungsfähig ist (BGE 121 V 190 E. 4a und c S. 191 ff.; HAVE 2003 S.
253, I 739/02 E. 4; Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 287/01 vom 22.
November 2001 E. 2b/aa).

3.3 Mit Verfügung vom 30. Januar 2007 schloss die IV-Stelle die zuvor der
Versicherten gewährte Berufsberatung und Abklärung der beruflichen
Eingliederungsmöglichkeiten vorläufig ab, weil zur Zeit behinderungsfremd keine
beruflichen Massnahmen möglich seien. Ausserdem stellte sie den grundsätzlichen
Anspruch auf die Vergütung von Mehrkosten im Rahmen einer allfälligen
erstmaligen beruflichen Ausbildung fest. Die Berufsberatung der
Invalidenversicherung halte nach erfolgreich durchlaufenen vorbereitenden
Massnahmen den Besuch des Lehrgangs "Link zum Beruf" der allgemeinen
Gewerbeschule für sinnvoll. Dafür reiche zu gegebener Zeit eine kurze
briefliche Mitteilung.

Vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellungen zur Eingliederungsfähigkeit der
Versicherten fehlen, können aber aufgrund der Akten ergänzt werden (Art. 105
Abs. 2 BGG). Infolge der gesundheitlich bedingten Lese- und Schreibschwäche hat
die Berufsberatung den Besuch von Deutsch- und Mathematikkursen als
Vorbereitung auf den vorgesehenen Lehrgang "ganz dringend" empfohlen. Dem ist
die Versicherte nachgekommen; bis zum Erlass der angefochtenen Verfügung am 6.
Februar 2008 (vgl. BGE 131 V 407 E. 2.1.2.1 S007 412, 116 V 246 E. 1a S. 248)
ist es aber dennoch nicht gelungen, die vorgeschlagene Eingliederungsmassnahme
durchzuführen. Trotz voller Arbeitsfähigkeit für angepasste Tätigkeiten (E.
3.1) war die Beschwerdeführerin invaliditätsbedingt nicht eingliederungsfähig,
weshalb Verwaltung und Vorinstanz zu Recht den Rentenanspruch geprüft haben.

3.4 Anspruch auf eine Rente haben u.a. Versicherte, die während eines Jahres
ohne wesentlichen Unterbruch durchschnittlich mindestens 40 Prozent
arbeitsunfähig gewesen sind (Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG resp. Art. 29 Abs. 1
lit. b IVG in der bis 31. Dezember 2007 geltenden Fassung). Die diese Wartezeit
auslösende Arbeitsunfähigkeit bezieht sich auf den bisherigen, d.h. ohne
gesundheitliche Beeinträchtigung ausgeübten Beruf oder Aufgabenbereich (Art. 6
ATSG; vgl. UELI KIESER, ATSG-Kommentar, 2. Aufl. 2009, N. 11 f. zu Art. 6
ATSG). Die Versicherte leidet im Wesentlichen am gleichen Gesundheitsschaden,
welcher ihr bereits als Kind und Jugendliche Anspruch auf Leistungen der
Invalidenversicherung vermittelte, weil sie weder die Schule in einer
Regelklasse noch eine berufliche Ausbildung absolvieren konnte. Es ist daher
ohne Weiteres davon auszugehen, dass die Wartezeit abgelaufen ist.

4.
4.1 Die Vorinstanz hat das Valideneinkommen unter Anwendung von Art. 26 Abs. 1
IVV auf Fr. 69'500.- festgesetzt. Diesen Betrag hat sie in ihrer Stellungnahme
vom 25. März 2009 aufgrund des unrichtig berücksichtigten Alters der
Beschwerdeführerin auf Fr. 62'550.- (für die Zeit vom 1. Februar 2004 bis 30.
November 2007) resp. Fr. 72'500.-(ab 1. Dezember 2007) korrigiert. Das
Invalideneinkommen hat das kantonale Gericht gestützt auf die im August 2003
aufgegebene Tätigkeit als Fitnessberaterin und unter Berücksichtigung der
Nominallohnentwicklung mit Fr. 36'396.- resp. Fr. 37'834.- (ab Dezember 2007)
beziffert. Daraus hat es einen Invaliditätsgrad von 42 resp. 48 % errechnet,
was Anspruch auf eine Viertelsrente begründet (Art. 28 IVG).

4.2 Auf der nicht medizinischen beruflich-erwerblichen Stufe der
Invaliditätsbemessung charakterisieren sich als Rechtsfragen die gesetzlichen
und rechtsprechungsgemässen Regeln über die Durchführung des
Einkommensvergleichs (BGE 130 V 343 E. 3.4 S. 348, 128 V 29 E. 1 S. 30, 104 V
135 E. 2a und b S. 136 f.). In dieser Sicht stellt sich die Feststellung der
hypothetischen Vergleichseinkommen als Tatfrage dar, soweit sie auf konkreter
Beweiswürdigung beruht, hingegen als Rechtsfrage, soweit sich der Entscheid
nach der allgemeinen Lebenserfahrung richtet. Letzteres betrifft etwa die
Fragen, ob Tabellenlöhne anwendbar sind und welches die massgebliche Tabelle
ist (BGE 132 V 393 E. 3.3 S. 399; Urteil 8C_255/2007 vom 12. Juni 2008 E. 1.2,
nicht publ. in: BGE 134 V 322).

4.3 In Bezug auf das Valideneinkommen ist auf die von der Vorinstanz in ihrer
Stellungnahme genannten Beträge abzustellen (E. 4.1), welche den Beanstandungen
der Beschwerdeführerin Rechnung tragen.

4.4 Für die Festsetzung des Invalideneinkommens ist primär von der
beruflich-erwerblichen Situation auszugehen, in welcher die versicherte Person
konkret steht. Übt sie eine Erwerbstätigkeit aus, bei der - kumulativ -
besonders stabile Arbeitsverhältnisse gegeben sind und anzunehmen ist, dass sie
die ihr verbleibende Arbeitsfähigkeit in zumutbarer Weise voll ausschöpft, und
erscheint zudem das Einkommen aus der Arbeitsleistung als angemessen und nicht
als Soziallohn, gilt grundsätzlich der tatsächlich erzielte Verdienst als
Invalidenlohn. Ist kein solches tatsächlich erzieltes Erwerbseinkommen gegeben,
namentlich weil die versicherte Person nach Eintritt des Gesundheitsschadens
keine oder jedenfalls keine ihr an sich zumutbare neue Erwerbstätigkeit
aufgenommen hat, so können Tabellenlöhne gemäss den vom Bundesamt für Statistik
periodisch herausgegebenen Lohnstrukturerhebungen (LSE) herangezogen werden
(BGE 129 V 472 E. 4.2.1 S. 475 mit Hinweisen).

4.5 Nach Aufgabe der Tätigkeit als Fitnessbetreuerin Ende August 2003 schöpfte
die Versicherte ihre vollständige Arbeitsfähigkeit (E. 3.1) höchstens noch
teilweise - und jedenfalls nicht in stabilen Arbeitsverhältnissen - aus. Unter
diesen Umständen ist für das Invalideneinkommen nicht auf den früher erzielten
Lohn, sondern auf die Tabellenlöhne der LSE 2004 und 2006 (Tabelle TA1, Total
Frauen, einfache und repetitive Tätigkeiten) abzustellen. Anhaltspunkte für
einen Abzug vom Tabellenlohn (BGE 134 V 322 E. 5.2 S. 327) sind nicht
ersichtlich und werden auch nicht geltend gemacht. Unter Berücksichtigung der
betriebsüblichen Wochenarbeitszeit und gegebenenfalls der
Nominallohnentwicklung beträgt das Invalideneinkommen ab Februar 2004 Fr.
48'585.- (Fr. 3'893.- x 12 : 40 x 41,6) und ab Dezember 2007 Fr. 51'032.- (Fr.
4'019.- x 12 : 40 x 41,7 x 101,5 %). Daraus ergibt sich ein Invaliditätsgrad
von 21 resp. 30 %, was für einen Rentenanspruch nicht genügt (Art. 28 IVG). Die
Beschwerde ist begründet.

5.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdegegnerin
grundsätzlich die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Ihrem Gesuch
um unentgeltliche Rechtspflege kann jedoch entsprochen werden (Art. 64 BGG; BGE
125 V 201 E. 4a S. 202). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG
hingewiesen, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten
hat, wenn sie später dazu in der Lage ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des
Sozialversicherungsgerichts Basel-Stadt vom 3. Dezember 2008 aufgehoben.

2.
Der Beschwerdegegnerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt, indes
vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.

4.
Rechtsanwalt Donald Stückelberger, Basel, wird als unentgeltlicher Anwalt der
Beschwerdegegnerin bestellt, und es wird ihm für das bundesgerichtliche
Verfahren aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 1'500.-
ausgerichtet.

5.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten des vorangegangenen Verfahrens an
das Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt zurückgewiesen.

6.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 29. Juni 2009

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Meyer Dormann