Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 166/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_166/2009

Urteil vom 22. April 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Kernen, Seiler,
Gerichtsschreiber Traub.

Parteien
K.________, Beschwerdeführer,vertreten durch
Winterthur-ARAG Rechtsschutzversicherung,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich
vom 19. Dezember 2008.

Sachverhalt:

A.
Der 1955 geborene K.________ meldete sich im April 2006 bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Zürich
nahm erwerbliche und medizinische Abklärungen vor und sprach K.________ mit
Wirkung ab April 2005 eine ganze Invalidenrente zu (Verfügungen vom 18. Juni
[Leistungszeitraum ab Juli 2007] und 17. Juli 2007 [Leistungszeitraum April
2005 bis Juni 2007]).

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde, mit welcher eine Ausrichtung der Leistung
bereits ab April 2001 verlangt wurde, wies das Sozialversicherungsgericht des
Kantons Zürich ab (Entscheid vom 19. Dezember 2008).

C.
K.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit den Rechtsbegehren, die ganze Invalidenrente sei ihm mit Wirkung ab April
2001 zuzusprechen; insoweit seien der angefochtene Entscheid und die strittige
Verfügung aufzuheben. Eventuell sei die Sache zur ergänzenden medizinischen
Abklärung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG erhoben werden. Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung
der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig
ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 97
Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.
2.1 Das kantonale Gericht hat eine Verwaltungsverfügung bestätigt, wonach der
Beginn der einjährigen Wartezeit zum Anspruchsbeginn (Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG
[in Kraft bis Ende 2007]) zwar auf den 1. April 1999 falle, da die
Arbeitsfähigkeit seit diesem Datum erheblich eingeschränkt sei; die Leistungen
könnten indessen nur für die der Anmeldung vorangehenden zwölf Monate gewährt
werden. Angesichts der am 4. April 2006 eingereichten Anmeldung erfolge die
Auszahlung der Rentenleistungen ab April 2005.

2.2 Der Anspruch auf Nachzahlung erlischt fünf Jahre nach dem Ende des Monats,
für welchen die Leistung geschuldet war (Art. 48 Abs. 1 IVG [in Kraft bis Ende
2007] in Verbindung mit Art. 24 Abs. 1 ATSG). Soweit statuiert das Gesetz eine
absolute Verwirkungsfrist, welche rückwärts ab dem Zeitpunkt der Neuanmeldung
berechnet wird (BGE 121 V 195 S. 202; Urteil I 71/00 vom 29. März 2001 E. 3b).
Meldet sich ein Versicherter mehr als zwölf Monate nach Entstehen des Anspruchs
an, so werden die Leistungen in Abweichung von Art. 24 Abs. 1 ATSG lediglich
für die zwölf der Anmeldung vorangehenden Monate ausgerichtet. Weitergehende
Nachzahlungen werden erbracht, wenn der Versicherte den anspruchsbegründenden
Sachverhalt nicht kennen konnte und die Anmeldung innert zwölf Monaten nach
Kenntnisnahme vornimmt (aArt. 48 Abs. 2 IVG). Das Auszahlungserfordernis der
rechtzeitigen Anmeldung hat keinen Einfluss auf den Beginn des Rentenanspruchs
mit Ablauf des Wartejahrs (aArt. 29 Abs. 1 lit. b IVG; Urteil I 476/99 vom 20.
Juli 2001 E. 1 und 2).

2.3 Der Beschwerdeführer lässt geltend machen, die Vorinstanz habe nicht
berücksichtigt, dass es ihm wegen leidensbedingt fehlender Krankheitseinsicht
respektive dadurch beeinträchtigtem Willen zur Geltendmachung des Anspruchs
verwehrt gewesen sei, die Arbeitsunfähigkeit als solche wahrzunehmen. Dies habe
sich erst geändert, als er sich im Oktober 2005 in psychotherapeutische
Behandlung begeben habe. Die Anmeldung bei der Invalidenversicherung im April
2006 sei somit innerhalb von zwölf Monaten seit Kenntnis des
anspruchsbegründenden Sachverhalts erfolgt. Es bestehe Anspruch auf
weitergehende Nachzahlungen gemäss aArt. 48 Abs. 2 IVG. Da die Nachzahlung vom
Monat der Anmeldung an maximal auf fünf Jahre zurück erfolgen könne, seien die
Rentenbetreffnisse mit Wirkung ab April 2001 auszubezahlen.

3.
Der entscheidungserhebliche Sachverhalt, wie er aus dem kantonalen
Beschwerdeentscheid hervorgeht, ist prinzipiell auch Grundlage der
bundesgerichtlichen Beurteilung (oben E. 1).

3.1 Das kantonale Gericht hat gestützt auf die Berichte des Gutachters Dr.
S.________ vom 22. November 2006 sowie des behandelnden Arztes Dr. W.________
vom 11. Mai 2006 festgestellt, das diagnostizierte psychische Leiden einer
Borderline-Persönlichkeitsstörung respektive einer kombinierten
Persönlichkeitsstörung entspreche nicht einer dauerhaften Bewusstseinsstörung
und damit einer Geisteskrankheit, -schwäche oder einem vergleichbaren Zustand
mit erheblichen Auswirkungen auf die Wahrnehmungsfähigkeit. Im Vordergrund
stünden eine emotionale Instabilität sowie unreife, abhängige, zwanghafte,
ängstlich vermeidende, paranoide und histrionische Züge der Persönlichkeit. Der
Administrativgutachter beschreibe den Versicherten als rigide,
perfektionistisch, dadurch blockiert, umständlich, langsam, beinahe unfähig,
Neues aufzunehmen, zudem emotional instabil, kränk- und reizbar mit der Neigung
zu Impulsdurchbrüchen. Die psychischen Grundfunktionen wie das Bewusstsein, die
Orientierung, das Gedächtnis, der Gedankengang, die Aufmerksamkeit sowie die
Konzentration seien indessen nach ärztlicher Feststellung nicht grob gestört.

3.2 Vollständigkeit und Richtigkeit dieser Tatsachenfeststellungen sind nicht
in Zweifel zu ziehen. Der Untersuchungsgrundsatz (Art. 61 lit. c ATSG) ist
nicht verletzt; die getroffenen Feststellungen taugen als Grundlage für eine
Beurteilung der Streitfrage (unten E. 4.4.2). Damit erübrigen sich die
beschwerdeweise beantragten näheren Abklärungen (vgl. Urteil 8C_364/2007 vom
19. November 2007 E. 3.2).

4.
4.1 Bundesgerichtlich frei überprüfbare Rechtsfrage ist, unter welchen
Voraussetzungen ein Ausnahmegrund im Sinne von aArt. 48 Abs. 2 Satz 2 IVG
angenommen werden darf, das heisst wie ausgeprägt eine Einschränkung gewesen
sein muss, damit sich die versicherte Person die unterlassene Anmeldung bei der
Invalidenversicherung nicht zuzurechnen lassen braucht.

4.2 Namentlich für urteilsunfähige Versicherte kann der anspruchsbegründende
Sachverhalt - nämlich der Gesundheitsschaden, der eine voraussichtlich
bleibende oder längere Zeit dauernde Erwerbsunfähigkeit verursacht - im
Einzelfall nicht erkennbar sein. Gemäss Art. 16 ZGB ist urteilsfähig, wem nicht
wegen seines Kindesalters oder infolge von Geisteskrankheit oder
Geistesschwäche, Trunkenheit oder ähnlichen Zuständen die Fähigkeit mangelt,
vernunftgemäss zu handeln. Der Begriff der Urteilsfähigkeit enthält zwei
Elemente: einerseits eine intellektuelle Komponente, nämlich die Fähigkeit,
Sinn, Zweckmässigkeit und Wirkungen einer bestimmten Handlung zu erkennen,
anderseits ein Willens- bzw. Charakterelement, nämlich die Fähigkeit, gemäss
der vernünftigen Erkenntnis nach seinem freien Willen zu handeln. Die
Urteilsfähigkeit ist nicht abstrakt festzustellen, sondern in Bezug auf eine
bestimmte Handlung je nach deren Schwierigkeit und Tragweite zu beurteilen. Es
ist daher denkbar, dass eine Person trotz allgemeiner Beeinträchtigung der
Urteilsfähigkeit zwar gewisse Alltagsgeschäfte noch besorgen kann und
diesbezüglich urteilsfähig ist, während ihr für anspruchsvollere Geschäfte die
Urteilsfähigkeit abzusprechen ist. Die Urteilsfähigkeit ist die Regel und wird
auf Grund allgemeiner Lebenserfahrung vermutet. Damit hinsichtlich des
anspruchsbegründenden Sachverhalts im Sinne von aArt. 48 Abs. 2 IVG
Urteilsunfähigkeit bejaht werden kann, muss somit eine Geisteskrankheit,
Geistesschwäche oder ein ähnlicher Zustand nachgewiesen sein, welcher im
fraglichen Zeitraum die Fähigkeit der versicherten Person, die Art und Schwere
ihres Gesundheitsschadens sowie dessen erwerbliche Auswirkungen abzuschätzen
und gemäss dieser Einsicht zu handeln, dauernd aufgehoben oder zumindest stark
beeinträchtigt hat (Urteile I 71/00 vom 29. März 2001 E. 2 und I 149/99 vom 16.
März 2000 E. 1c, je mit Hinweisen).

4.3 Das kantonale Gericht hat dazu festgehalten, der Umstand, dass der
Beschwerdeführer sich einer Aufforderung des Sozialamtes der Stadt Zürich,
einen Arzt aufzusuchen, widersetzt und er stattdessen die Aufnahme in ein
Arbeitsprogramm beantragt hat (Schreiben vom 5. Juli 2004), lasse eine
Urteilsunfähigkeit oder eine Unfähigkeit, einsichtsgemäss zu handeln, nicht als
überwiegend wahrscheinlich gegeben erscheinen. Vor dem Hintergrund seines
beruflichen Werdegangs könne dem Versicherten die Fähigkeit, Sinn, Nutzen und
Tragweite einer bestimmten Handlung zu erkennen und zu würdigen sowie gemäss
vernünftiger Erkenntnis nach freiem Willen zu handeln, nicht abgesprochen
werden. Dieser Schluss gelte auch für die Zeit ab 1999: Bei der
Arbeitslosenversicherung sei er damals für vollständig vermittelbar gehalten
worden. Zudem habe er - wenn auch auf Drängen seiner Ehefrau - ohne Zwang einen
Psychiater aufgesucht und sich eigenständig bei der Invalidenversicherung
angemeldet.
4.4
4.4.1 Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat im Urteil I 149/99 vom 16.
März 2000 ausgeführt, Persönlichkeitsstörungen, welche mit einer erhöhten
Kränkbarkeit sowie übertriebenen Erwartungen an die eigene Leistungsfähigkeit
verbunden seien, könnten dazu führen, dass die anspruchsberechtigte Person
Sozialversicherungsleistungen ablehne, weil "das Eingestehen der eigenen
Grenzen, Probleme und Miseren (...) für solche Patienten kaum zu ertragen" sei
(E. 3b). Es wurde daher nicht ausgeschlossen, dass in einem solchen Fall die
Einsichts- und Handlungsfähigkeit im Hinblick auf das förmliche Geltendmachen
des Sozialversicherungsanspruchs fehlen könnte.
4.4.2 Eine mit dem zitierten Präjudiz vergleichbare Ausgangslage ist hier nicht
gegeben. Die nachvollziehbaren ärztlichen Darstellungen von Symptomatik und
Krankheitsdynamik der Borderline- respektive kombinierten
Persönlichkeitsstörung (vgl. oben E. 3.1) lassen nicht darauf schliessen, der
Beschwerdeführer sei nach Eintritt des Gesundheitsschadens (spätestens im Jahr
1999) andauernd unfähig gewesen, das Notwendige zur Anspruchswahrung gegenüber
der Invalidenversicherung vorzukehren. Insbesondere kann aus der Aussage des
Psychotherapeuten, "jede kleine Herausforderung (wie die IV-Anmeldung)" werde
"für ihn zu einer Bewährungsprobe, bei der es um Leben oder Tod zu gehen
scheint" (Bericht vom 11. Mai 2006), nicht abgeleitet werden, es sei ihm aus
medizinischen Gründen geradezu verwehrt gewesen, sich mit dem Faktum einer
entsprechenden Gesundheitsstörung überhaupt auseinanderzusetzen und -
gegebenenfalls mit Hilfe Dritter - administrative Schritte zum Erhalt von
Erwerbsersatz zu unternehmen. Aus den ärztlichen Stellungnahmen wird denn auch
nicht ersichtlich, dass die im Oktober 2005 aufgenommene Psychotherapie
gleichsam innerpsychische Schranken einschlägigen Handelns beseitigt habe. Der
Umstand einer gesundheitsschadensbedingten Erschwernis, die aber nicht mit
Unzumutbarkeit oder gar Unmöglichkeit von Erkenntnis und Handlung gleichgesetzt
werden kann, bildet keinen Ausnahmegrund im Sinne von Art. 48 Abs. 2 Satz 2
IVG, der es verbieten würde, die Anmeldung zum Leistungsbezug in die
Eigenverantwortung des Beschwerdeführers zu stellen.

5.
Zusammengefasst hat bereits vor Beginn der Psychotherapie im Herbst 2005
anrechenbare Kenntnis des anspruchsbegründenden Sachverhalts im Sinne von aArt.
48 Abs. 2 Satz 2 IVG bestanden. Denn die psychische Gesundheitsbeeinträchtigung
des Beschwerdeführers hat die diesbezügliche Einsichts- und Handlungsfähigkeit
auch bis dahin nicht in dem von der Rechtsprechung geforderten weitgehenden
Ausmass eingeschränkt. Der vorinstanzliche Entscheid ist daher
bundesrechtskonform.

6.
Dem Verfahrensausgang entsprechend trägt der Beschwerdeführer die
Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich, dem Bundesamt für Sozialversicherungen und der Aargauischen
Pensionskasse schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 22. April 2009
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Traub