Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 160/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_160/2009

Urteil vom 2. September 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Seiler, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber R. Widmer.

Parteien
N.________, vertreten durch Rechtsanwalt Philip Stolkin,
Beschwerdeführer,

gegen

Kantonsgericht Wallis, Avenue Mathieu-Schiner 1, 1950 Sitten,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts Wallis vom 23. Januar 2009.

Sachverhalt:

A.
Der 1963 geborene N.________ meldete sich am 21. April 2008 bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die Kantonale IV-Stelle Wallis
führte am 3. Juni 2008 ein Assessment mit dem Versicherten durch. Gemäss
Mitteilung vom 14. Juli 2008 gewährte die Invalidenversicherung eine
Orientierungsmassnahme (Action emploi). Der Kursbeginn wurde auf den 24. Juli
2008 festgesetzt. Die Massnahme sollte bis 20. August 2008 dauern. N.________
wurde auf die Pflicht zur Kursteilnahme sowie die gesetzlichen Folgen einer
Pflichtverletzung hingewiesen.

Mit Verfügung vom 4. September 2008 lehnte die IV-Stelle den Anspruch von
N.________ auf Leistungen der Invalidenversicherung (berufliche Massnahmen,
Taggeld, Rente) ab, weil der Versicherte während des Kurses nur ein minimalstes
Interesse gezeigt habe; so habe er private Telefongespräche geführt, andere
Kursteilnehmer gestört, sei abwesend gewesen und habe sich nicht kooperativ
gezeigt, was letztlich zum Scheitern der Massnahme geführt habe. Gestützt auf
die gesetzlichen Bestimmungen entfalle der Leistungsanspruch.

B.
N.________ liess Beschwerde führen und zur Hauptsache beantragen, unter
Aufhebung der Verfügung sei ihm eine ganze Invalidenrente zuzusprechen. Ferner
ersuchte er um die Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege.

Mit Entscheid vom 23. Januar 2009 wies das Kantonsgericht Wallis das Gesuch um
unentgeltlichen Rechtsbeistand ab und setzte dem Versicherten eine Frist von 30
Tagen zur Bezahlung eines Kostenvorschusses.

C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt N.________
beantragen, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei das
Kantonsgericht zu verpflichten, ihm die unentgeltliche Rechtspflege und für das
vorinstanzliche Verfahren eine Parteientschädigung zu gewähren. Zudem ersucht
er für das bundesgerichtliche Verfahren um die Bewilligung der unentgeltlichen
Rechtspflege.

Das Kantonsgericht Wallis verzichtet auf eine Vernehmlassung.

D.
Mit Verfügung vom 11. Mai 2009 wies das Bundesgericht das Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege ab, weil die behauptete Bedürftigkeit nicht
ausgewiesen sei, worauf N.________ den von ihm gleichzeitig einverlangten
Kostenvorschuss bezahlte.

Erwägungen:

1.
Gegen selbstständig eröffnete, weder die Zuständigkeit noch den Ausstand (vgl.
Art. 92 BGG) betreffende Zwischenentscheide ist die Beschwerde an das
Bundesgericht - abgesehen vom hier nicht gegebenen Ausnahmefall gemäss Art. 93
Abs. 1 lit. b BGG - nur zulässig, wenn sie einen nicht wieder gutzumachenden
Nachteil bewirken kann (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG). Angefochten ist ein in
einem hängigen kantonalen Beschwerdeverfahren ergangener Entscheid betreffend
unentgeltliche Rechtspflege; dabei handelt es sich um einen Zwischenentscheid
(Urteil 9C_286/2009), von dem die Rechtsprechung annimmt, er bewirke in der
Regel einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil, jedenfalls wenn nicht nur die
unentgeltliche Rechtspflege verweigert, sondern zugleich auch die Anhandnahme
des Rechtsmittels von der Bezahlung eines Kostenvorschusses durch die
gesuchstellende Partei abhängig gemacht wird (zitiertes Urteil 9C_286/2009 vom
28. Mai 2009).

2.
Gemäss Art. 61 ATSG bestimmt sich das Verfahren vor dem kantonalen
Versicherungsgericht unter Vorbehalt von Art. 1 Abs. 3 VwVG nach kantonalem
Recht, das gewissen bundesrechtlichen Anforderungen zu genügen hat. So sieht
lit. f von Art. 61 ATSG vor, dass das Recht, sich verbeiständen zu lassen,
gewährleistet sein muss (erster Satz). Wo die Verhältnisse es rechtfertigen,
wird der beschwerdeführenden Person ein unentgeltlicher Rechtsbeistand
bewilligt (zweiter Satz). Gemäss Art. 64 Abs. 2 BGG bestellt das Bundesgericht
der Partei einen Anwalt oder eine Anwältin, wenn es zur Wahrung ihrer Rechte
notwendig ist. Gemäss Art. 29 Abs. 3 BV hat die bedürftige Partei in einem für
sie nicht aussichtslosen Verfahren Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege;
soweit es zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch
auf unentgeltlichen Rechtsbeistand. Die unentgeltliche Rechtspflege bezweckt,
auch der bedürftigen Partei den Zugang zum Gericht und die Wahrung ihrer
Parteirechte zu ermöglichen (BGE 131 I 350 E. 3.1 S. 355). Art. 29 Abs. 3 BV
will nur sicherstellen, dass jedermann unabhängig von seinen finanziellen
Verhältnissen nicht aussichtslose Streitsachen zur gerichtlichen Entscheidung
bringen und sich dabei im Prozess, sofern es sachlich geboten ist, durch einen
Anwalt vertreten lassen kann; der verfassungsmässige Anspruch soll der
bedürftigen Partei die Mittel zur Prozessführung in die Hand geben und nicht
etwa allgemein ihre finanzielle Situation verbessern helfen (BGE 135 I 1 E. 7.1
S. 2 mit Hinweis).

3.
3.1 Das Kantonsgericht Wallis wies das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege
ab, weil es die Beschwerde als aussichtslos erachtete. Der Versicherte habe
wiederholt zu erkennen gegeben, dass er an dem für ihn vorgesehenen Kurs kein
Interesse hat. Die Gründe für die verfügte Leistungsverweigerung seien im
Gesetz abgestützt.

3.2 Der Beschwerdeführer rügt u.a. eine Verletzung des rechtlichen Gehörs und
die Tatsache, dass die IV-Stelle, ohne einen Vorbescheid erlassen zu haben, am
4. September 2008 die Ablehnung seines Leistungsgesuchs verfügt habe.

4.
4.1 Gemäss Art. 57a Abs. 1 IVG teilt die IV-Stelle der versicherten Person den
vorgesehenen Endentscheid über ein Leistungsbegehren oder den Entzug oder die
Herabsetzung einer bisher gewährten Leistung mittels Vorbescheid mit (Satz 1).
Die versicherte Person hat Anspruch auf rechtliches Gehör im Sinne von Art. 42
ATSG (Satz 2). Gegenstand des Vorbescheids sind nach Art. 73bis Abs. 1 IVV
Fragen, die in den Aufgabenbereich gemäss Art. 57 Abs. 1 lit. a-d IVG der
IV-Stellen fallen. Dazu zählen namentlich die Abklärung der
Eingliederungsfähigkeit der versicherten Person, die Berufsberatung und die
Arbeitsvermittlung (Art. 57 Abs. 1 lit. d IVG). Im Falle beruflicher
Eingliederungsmassnahmen ist demzufolge ein Vorbescheidverfahren durchzuführen.
Die erwähnten Fragen standen denn auch im Mittelpunkt der von der IV-Stelle
eingeleiteten Abklärung. Es hätte daher nach Massgabe von Art. 57 Abs. 1 lit. d
IVG ein Vorbescheidverfahren durchgeführt werden müssen.

4.2 Der angefochtene Entscheid enthält keine Feststellung zur Frage, ob ein
Vorbescheidverfahren durchgeführt wurde. In Ergänzung der insoweit
unvollständigen und damit bundesrechtswidrigen Sachverhaltsfeststellung durch
das Bundesgericht (Art. 105 Abs. 2 BGG) ergibt sich nach Lage der Akten, dass
in der Tat kein Vorbescheidverfahren stattgefunden hat, wie der
Beschwerdeführer rügt. Mit Blick auf diesen Umstand sowie die Tatsache, dass
zur Frage, welche Konsequenzen der Verzicht auf das seit 1. Juli 2006
gesetzlich verankerte Vorbescheidverfahren für das Verwaltungsverfahren der
Invalidenversicherung hat, keine Rechtsprechung besteht, lässt sich der vom
Beschwerdeführer vertretene, auf formellrechtlichen Einwendungen basierende
Standpunkt nicht als aussichtslos bezeichnen, ohne dass die übrigen
Einwendungen des Versicherten einer vertieften Überprüfung unterzogen werden
müssten. Damit hat der Beschwerdeführer, sofern auch die Voraussetzung der
Bedürftigkeit gegeben ist, was das Kantonsgericht prüfen wird, Anspruch auf
unentgeltliche Rechtspflege, wogegen über die materielle Begründetheit der bei
der Vorinstanz anhängig gemachten Beschwerde noch nichts ausgesagt ist.

5.
Gestützt auf Art. 66 Abs. 1 BGG wird von der Erhebung von Gerichtskosten
abgesehen. Der Kanton Wallis hat dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung
zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der angefochtene Entscheid
vom 23. Januar 2009 aufgehoben wird. Die Sache wird an das Kantonsgericht
Wallis zurückgewiesen, damit es über den Anspruch auf unentgeltliche
Rechtspflege im kantonalen Verfahren neu entscheide.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Der Kanton Wallis hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren
mit Fr. 2000.- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Kantonalen IV-Stelle Wallis, der
Ausgleichskasse des Kantons Wallis und dem Bundesamt für Sozialversicherungen
schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 2. September 2009
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Widmer