Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 1067/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_1067/2009

Urteil vom 12. April 2010
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Seiler,
Gerichtsschreiber Traub.

Verfahrensbeteiligte
K.________,
Beschwerdeführer,

gegen

Amt für AHV und IV des Kantons Thurgau, St. Gallerstrasse 13, 8500 Frauenfeld,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Ergänzungsleistung zur AHV/IV,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom
4. November 2009.

Sachverhalt:
Das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau wies eine Beschwerde des K.________
gegen einen Einspracheentscheid des Amtes für AHV und IV des Kantons Thurgau
vom 2. Juni 2009 betreffend Ergänzungsleistungen ab (Entscheid VV.2009.273/E
vom 4. November 2009).

K.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem
Rechtsbegehren, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und - sinngemäss -
der Anspruch auf Ergänzungsleistungen neu zu berechnen.

Das Bundesgericht holt beim Grundbuchamt X.________ einen Auszug betreffend die
Liegenschaft Nr. 703, Grundbuch Y.________, ein.

Erwägungen:

1.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat. Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes
wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf
einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2
BGG).

2.
Strittig ist unter anderem die Bundesrechtskonformität des vorinstanzlich
geschützten Standpunktes der Verwaltung, der Erbanteil des Beschwerdeführers an
der Liegenschaft Z.________ in Y.________ (Nachlass des am 15. April 1999
verstorbenen B.________) sei im Rahmen der Bedarfsrechnung (Art. 9 Abs. 1 ELG)
im Sinne einer anrechenbaren Einnahme zu berücksichtigen, weil ein darauf
lastendes Nutzniessungsrecht (Art. 745 ZGB) zugunsten der Mutter des
Beschwerdeführers nicht nachgewiesen sei.

2.1 Das kantonale Gericht führte dazu aus, der Beschwerdeführer trage in dem
Sinne die Folgen der Beweislosigkeit, als er sich das Vermögen aus der
unverteilten Erbschaft anrechnen lassen müsse, soweit nicht nachgewiesen werden
könne, dass dieses effektiv mit einer Nutzniessung zugunsten der Mutter
belastet sei. Jedoch gehe aus der Erbschaftssteuerrechnung vom 1. Juni 1999
nicht hervor, dass der dem Beschwerdeführer zustehende Erbanteil von Fr.
78'287.55 mit einer Nutzniessung zugunsten seiner Mutter belastet wäre. Gemäss
Erkundigungen des kantonalen Amtes für AHV und IV beim Notariat S.________ vom
18. Oktober 2007 existierten weder ein Ehe- und Erbvertrag noch ein Testament.
Eine Nutzniessung müsste zudem gemäss Art. 746 Abs. 1 ZGB im Grundbuch
eingetragen sein. Ein solcher Eintrag gehe jedoch weder aus den
Administrativakten noch aus den vom Beschwerdeführer eingereichten Unterlagen
hervor. Schreiben der Kantonalen Steuerverwaltung vom 13. September 2004 und
der Politischen Gemeinde Y.________ vom 5. April 2004, in denen vom Bestand
einer entsprechenden Dienstbarkeit ausgegangen werde, reichten nicht für den
Nachweis einer effektiv bestehenden Nutzniessung der Mutter des
Beschwerdeführers an der gemeinsam geerbten Liegenschaft aus. Nachdem das
gesamte Nachlassvermögen - aus welchen Gründen auch immer - offensichtlich von
der Mutter versteuert werde, sei die Steuerbehörde nicht veranlasst gewesen,
der Frage weiter nachzugehen.

2.2 Der Bestand einer Nutzniessung im Sinne eines dinglichen Rechts lässt sich
durch Einholung eines Grundbuchauszuges zweifelsfrei feststellen oder
ausschliessen. Das Bundesgericht holte diese Beweisvorkehr im Rahmen des
letztinstanzlichen Verfahrens nach. Der Auszug aus dem Grundbuch Y.________ vom
12. März 2010 betreffend die hier interessierende Liegenschaft Nr. 703
(Z.________ in Y.________) weist in der Rubrik "Dienstleistungen und
Grundlasten" nur eine Berechtigung in Form einer Baubeschränkung zulasten
anderer Parzellen aus, nicht aber eine Nutzniessung. Nach Art. 746 Abs. 1 ZGB
wäre zur Bestellung einer Nutzniessung die Eintragung in das Grundbuch
erforderlich gewesen. Der Anrechnung hypothetischer Einnahmen nach Art. 11 Abs.
1 lit. c ELG steht insoweit nichts im Wege (vgl. AHI 1997 S. 146 E. 5a, P 34/
94; Rz. 2108 der Wegleitung des Bundesamtes für Sozialversicherungen über die
Ergänzungsleistungen zur AHV und IV [WEL] e contrario).

2.3 Für die Anrechnung von Erbschaftsvermögen ist der Zeitpunkt des Erwerbs der
Erbschaft (Art. 560 ZGB) massgebend und nicht derjenige, in welchem der
Ergänzungsleistungsansprecher über seinen Erbteil effektiv verfügen kann. Der
Anteil an einer, wie hier, unverteilten Erbschaft stellt ab dem Zeitpunkt der
Eröffnung des Erbgangs grundsätzlich einen Vermögenswert dar, der auch im
Rahmen der Ergänzungsleistungsberechnung zu berücksichtigen ist (Urteil P 54/02
vom 17. September 2003 E. 3.3; ZAK 1992 S. 327 E. 2c und d, P 6/91). Damit
steht die Anrechenbarkeit desjenigen Anteils des Erbanspruchs, der auf anderen
Vermögenswerten als der Liegenschaft beruht, ausser Frage (vgl. im Einzelnen
das Steuer-Inventar vom 19. Mai 1999). Soweit die Liegenschaft betroffen ist,
muss sich der Beschwerdeführer diesbezügliches Vermögen aus unverteilter
Erbschaft auch dann anrechnen lassen, wenn angenommen würde, seine Mutter
könnte gestützt auf Art. 612a Abs. 2 ZGB eine Nutzniessung oder ein Wohnrecht
geltend machen (vgl. auch Art. 219 Abs. 1 und Art. 244 Abs. 2 ZGB). Allfällige
Schwierigkeiten bei der Realisierung rechtfertigen als solche kein Abgehen von
der Anrechnung unverteilter Erbschaften bei der Ergänzungsleistungsberechnung.
Vielmehr wird verlangt, dass sämtliche rechtlichen Möglichkeiten zur
Durchsetzung der Erbansprüche wahrgenommen werden (Urteil P 8/02 vom 12. Juli
2002 E. 3b). Das in den erwähnten Bestimmungen verfolgte Schutzziel zugunsten
des überlebenden Ehegatten, wie es vor allem in Art. 219 Abs. 1 erster Teilsatz
ZGB zum Ausdruck kommt, würde im vorliegenden Fall durch eine Aufteilung der
Erbschaft nicht gefährdet, da die Liegenschaft Z.________ nur gut einen Viertel
der Nachlassaktiven ausmacht, die sich zu einem grossen Teil aus Wertschriften
zusammensetzen. Unter diesen Umständen braucht nicht entschieden zu werden, wie
es sich verhielte, wenn der Nachlass ganz vorwiegend aus einer vom überlebenden
Ehegatten bewohnten Liegenschaft bestünde.

3.
Bezüglich aller weiteren beschwerdeweise gerügten Punkte ist nicht ersichtlich,
inwiefern der eingehend und klar begründete vorinstanzliche Entscheid
Bundesrecht verletzen würde. Auf die entsprechenden Ausführungen wird verwiesen
(Art. 109 Abs. 3 BGG).

4.
Dem Verfahrensausgang entsprechend werden die Gerichtskosten dem
Beschwerdeführer auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 200.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 12. April 2010

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Traub