Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 1059/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_1059/2009

Urteil vom 4. August 2010
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Kernen, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
P.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Michèle Wehrli Roth,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau,
Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 20. Oktober 2009.

Sachverhalt:

A.
Der 1968 geborene P.________, gelernter Maurer, liess sich wegen
Rückenbeschwerden im Zeitraum von Juni bis November 2006 zu Lasten der
Invalidenversicherung zum Bus/Car-Chauffeur umschulen. Am 16. Dezember 2005
unterzog er sich in der Neurochirurgischen Klinik des Spitals X.________ einer
Rückenoperation (u.a. Sequesterektomie und Diskektomie L5/S1 links). Mit
Verfügung vom 19. Dezember 2006 verneinte die IV-Stelle des Kantons Aargau den
Anspruch auf eine Invalidenrente, was das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau mit Entscheid vom 28. August 2007 bestätigte. Dieses Erkenntnis erwuchs
in Rechtskraft (vgl. Urteil 9C_746/2007 vom 17. Dezember 2007).
Im November 2008 meldete sich P.________ erneut bei der Invalidenversicherung
an und beantragte eine Rente. Mit dem Gesuch reichte er den Bericht des Spitals
X.________, Rheumaklinik und Institut für Physikalische Medizin und
Rehabilitation, vom 27. August 2008 ein. U.a. gestützt auf die Stellungnahme
des Dr. med. G.________, FMH Rehabilitation und Rheumatologie, vom Regionalen
Ärztlichen Dienst (RAD) vom 23. Dezember 2008 wies die IV-Stelle das
Leistungsbegehren nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren mit Verfügung vom
15. April 2009 ab.

B.
Die Beschwerde des P.________ wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau
mit Entscheid vom 20. Oktober 2009 ab.

C.
P.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 20. Oktober 2009 sei aufzuheben und
die Sache zur Neubeurteilung an das kantonale Versicherungsgericht
zurückzuweisen, eventualiter ihm mit Wirkung ab 1. April 2008 eine ganze
Invalidenrente zuzusprechen.
IV-Stelle, kantonales Gericht und Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten
auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
1.1 Das Bundesgericht legt seinem Urteil - von hier nicht interessierenden
Ausnahmen abgesehen - den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat. Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen oder
auf Rüge hin (Art. 97 Abs. 1 BGG) berichtigen oder ergänzen, wenn sie
offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von
Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG).

1.2 Einem ärztlichen Bericht kommt Beweiswert zu, wenn er für die streitigen
Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch die
geklagten Beschwerden berücksichtigt und in Kenntnis der Vorakten (Anamnese)
abgegeben worden ist, wenn die Beschreibung der medizinischen Situation und
Zusammenhänge einleuchtet und die Schlussfolgerungen begründet sind (BGE 125 V
351 E. 3a S. 352). Der Arzt muss über die notwendigen fachlichen
Qualifikationen verfügen (Urteil 9C_736/2009 vom 26. Januar E. 2.1). Den diesen
Anforderungen genügenden Berichten der regionalen ärztlichen Dienste (RAD; Art.
59 IVG und Art. 47 ff. IVV) kommt ebenfalls Beweiswert zu (SVR 2009 IV Nr. 56,
9C_323/2009, E. 4.3.1).

2.
Wurde eine Rente wegen eines zu geringen Invaliditätsgrades verweigert, wird
eine neue Anmeldung nur geprüft, wenn die gesuchstellende Person glaubhaft
macht, dass sich der Grad der Invalidität in einer für den Anspruch erheblichen
Weise geändert hat (Art. 87 Abs. 3 und 4 IVV). Tritt die IV-Stelle auf eine
Neuanmeldung ein, hat sie - und im Beschwerdefall das kantonale
Versicherungsgericht oder das Bundesverwaltungsgericht - wie bei einer Revision
nach Art. 17 Abs. 1 ATSG zu prüfen, ob sich die tatsächlichen Verhältnisse seit
Erlass der letzten, auf einer materiellen Prüfung des Rentenanspruchs mit
rechtskonformer Sachverhaltsabklärung, Beweiswürdigung und Ermittlung des
Invaliditätsgrades beruhenden Verfügung verändert haben (BGE 130 V 71 E. 3.2.3
S. 75 ff.; vgl. auch BGE 133 V 108). Ist das zu verneinen, weist sie das Gesuch
mit dieser Begründung ab (Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 96/06 vom
26. Mai 2006 E. 2); andernfalls hat sie zu prüfen, ob aufgrund der
festgestellten Veränderung nunmehr eine anspruchsbegründende Invalidität
besteht (BGE 117 V 198 E. 3a S. 198; Urteil 9C_733/2007 vom 3. April 2008 E.
1). Dazu hat sie den Invaliditätsgrad auf der Grundlage eines richtig und
vollständig festgestellten Sachverhalts und ohne Bindung an frühere
Invaliditätsschätzungen neu zu ermitteln (vgl. Urteil 9C_215/2010 vom 20. April
2010 E. 1.1).

3.
Die Vorinstanz hat eine erhebliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes
seit der Verfügung vom 19. Dezember 2006 verneint. Sie hat festgestellt,
entweder seien keine Korrelate vorhanden, welche die subjektiven Schmerzangaben
hinreichend erklärten, oder allfällige objektivierbare Befunde seien bereits
anlässlich der ersten materiellen Überprüfung des Leistungsanspruchs im
Dezember 2006 bekannt gewesen und dort berücksichtigt worden. Entgegen den
Vorbringen in der Beschwerde seien seither keine neuen Diagnosen hinzugekommen.
Das neu in den Berichten des Spitals X.________, Rheumaklinik und Institut für
Physikalische Medizin und Rehabilitation, vom 13. Juni, 9. Juli, 25. und 27.
August 2008 erwähnte lumboradikuläre Schmerz- und sensible Ausfallsyndrom auf
der Höhe L4 und L5 und eventuell S1 rechts sei gemäss Bericht derselben Klinik
vom 5. Juni 2008 den Facettengelenksarthrosen auf Höhe L4/L5 und L5/S1
zuzuschreiben. Diese degenerativen Veränderungen seien sowohl im MRI der LWS
vom 22. Februar 2006, als auch in demjenigen vom 11. April 2008 sichtbar
gewesen und jeweils vom Radiologen Dr. med. W.________ als leicht qualifiziert
worden, und es sei daher von unveränderten Befunden auszugehen.

4.
Wenn eine über die Jahre hin mit der gleichen Person befasste (z.B. wie im
Falle des Beschwerdeführers auf Rückenbeschwerden) spezialisierte Klinik, hier
das Spital X.________, neurologische und rheumatologische Abteilung - bei der
kein Grund zur Annahme besteht, die Attestationen wiesen Gefälligkeitscharakter
auf -, die Stellungnahme zur Arbeitsfähigkeit im Verlaufe der Zeit verschärft
(nur noch 50 % für leichte Tätigkeiten laut Bericht vom 27. August 2008 statt
100 % nach Vorbericht vom 14. Februar 2006), begründet das im Sinne eines
erheblichen Anhaltspunktes (Indizes) die natürliche Vermutung, es gehe dem
Patienten gesundheitlich und/oder leistungsmässig tatsächlich schlechter.
Dieser Schluss weicht einfachem Gegenbeweis; er ist erbracht, wenn feststeht,
dass entweder gar keine neuen Befunde vorhanden sind oder dass die bestätigten
neuen Befunde keine (zusätzlichen) Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit haben.
Hier steht aufgrund verbindlicher vorinstanzlicher Tatsachenerhebung die
Existenz neuer Befunde, zumindest in Form einer neuen Symptomatik, ausser
Diskussion (lumboradikuläres Schmerz- und sensibles Ausfallsyndrom auf Höhe von
L4 und L5 rechts). Bezüglich der Frage, ob dieses Syndrom die Arbeitsfähigkeit
für leichte Tätigkeiten einschränke, ist der Beweis nicht abschliessend
geführt: Der Auffassung des Spitals X.________, welches diese Frage aufgrund
eingehender Untersuchungen, namentlich unter Berücksichtigung des Zustandes,
wie er sich nach der Radiofrequenz-Therapie der Facettengelenke von L5 bis S2
(8. Mai 2008) und des Sakralblockes (5. August 2008) präsentierte, ferner nach
Erläuterung der rückenchirurgischen Interventionsmöglichkeiten (ventrale
Diskektomie L5/S1 mit Implantation einer Bandscheibenprothese), bejaht hatte
(27. August 2008), steht einzig die Stellungnahme des RAD vom 23. Dezember 2008
gegenüber, welche wegen fehlender eigener Untersuchung des Beschwerdeführers
nicht geeignet ist, die anderslautende Einschätzung der Klinik zu entkräften,
und zwar umso weniger als RAD-Arzt Dr. med. G.________ den "insgesamt
stationären Gesundheitszustand" letztlich einzig mit dem Fehlen einer
dokumentierten "Neurokompression" begründet, wo doch erfahrungsgemäss, je nach
Ausprägung und Schweregrad, eine lumbale Symptomatik die Arbeitsfähigkeit auch
ohne radikuläre Beteiligung einschränken kann. In dieser Beweislage bestand für
die Beschwerdegegnerin die Pflicht zu ergänzenden medizinischen Abklärungen
(Art. 43 f. ATSG), weshalb die Vorinstanz die Abweisungsverfügung vom 15. April
2009 nicht hätte bestätigen dürfen (Art. 61 lit. c ATSG).

5.
Bei diesem Ergebnis braucht auf die Vorbringen in der Beschwerde betreffend die
Invaliditätsbemessung in der Verfügung vom 15. April 2009 nicht eingegangen zu
werden.

6.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat die IV-Stelle die Gerichtskosten zu
tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung
zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des
Kantons Aargau vom 20. Oktober 2009 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons
Aargau vom 15. April 2009 werden aufgehoben. Die Sache wird an die Verwaltung
zurückgewiesen, damit sie nach ergänzenden Abklärungen im Sinne der Erwägungen
über den Anspruch des Beschwerdeführers auf eine Rente der
Invalidenversicherung neu verfüge.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der IV-Stelle des Kantons Aargau
auferlegt.

3.
Die IV-Stelle des Kantons Aargau hat den Beschwerdeführer für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4.
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau hat die Gerichtskosten und die
Parteientschädigung für das vorangegangene Verfahren neu festzusetzen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 4. August 2010
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Fessler