Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 1034/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_1034/2009

Urteil vom 8. Juni 2010
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Kernen, Seiler, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiberin Dormann.

Verfahrensbeteiligte
B.________, vertreten durch
Rechtsanwalt Philip Stolkin,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Freiburg, route du Mont-Carmel 5, 1762 Givisiez,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts Freiburg vom 16. Oktober
2009.

Sachverhalt:

A.
Der 1955 geborene B.________ ist seit 1982 als selbständigerwerbender Spengler
und Dachdecker tätig. Unter Hinweis auf Morbus Dupuytren an beiden Händen
meldete er sich im Januar 2002 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug
an. Nach Abklärungen und Durchführung des Vorbescheidverfahrens verneinte die
IV-Stelle des Kantons Freiburg mit Verfügung vom 23. Mai 2007 einen
Rentenanspruch.

B.
Dagegen liess B.________ Beschwerde führen mit dem Rechtsbegehren, unter
Aufhebung der angefochtenen Verfügung sei ihm eine Rente auf der Basis eines
Invaliditätsgrades von 100 % zu gewähren. In verfahrensrechtlicher Hinsicht
beantragte er u.a., es sei eine öffentliche Verhandlung durchzuführen und er
sei persönlich zu seiner funktionellen Arbeitsfähigkeit einzuvernehmen. Mit
Entscheid vom 16. Oktober 2009 wies das Kantonsgericht Freiburg die Beschwerde
ab, ohne eine öffentliche Verhandlung durchgeführt zu haben.

C.
B.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
und die Aufhebung des Entscheids vom 16. Oktober 2009 verlangen sowie den
Antrag auf Zusprechung einer Invalidenrente erneuern.

Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde, während das kantonale
Gericht und das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Stellungnahme
verzichten.

Erwägungen:

1.
Der Beschwerdeführer verlangt die Durchführung eines zweiten Schriftenwechsels.
Die IV-Stelle hat in der Beschwerdeantwort lediglich auf den angefochtenen
Entscheid und die Verfügung vom 23. Mai 2007 verwiesen und sich jeglicher
materiellen Bemerkungen enthalten. Unter diesen Umständen besteht keine
Veranlassung zu einem zweiten Schriftenwechsel (Art. 102 Abs. 3 BGG; vgl.
Urteil 9C_274/2009 vom 18. Juni 2009 E. 3.3 mit Hinweisen).

2.
2.1 Der Beschwerdeführer rügt in formeller Hinsicht eine Verletzung des in Art.
6 Abs. 1 EMRK verankerten Öffentlichkeitsprinzips, weil das kantonale Gericht
trotz entsprechenden Antrags keine öffentliche Verhandlung durchgeführt hat,
obwohl eine persönliche Anhörung als geeignete Grundlage für die Einschätzung
der gesundheitlichen Einschränkungen zu betrachten sei. Die Vorinstanz hat das
Gesuch um Durchführung einer öffentlichen Verhandlung unter Hinweis auf die
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) sowie
des Bundesgerichts resp. des Eidg. Versicherungsgerichts abgewiesen mit der
Begründung, von der Anhörung seien keine weiteren Erkenntnisse zu erwarten.

2.2 Nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK hat jedermann Anspruch darauf, dass seine Sache in
billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist von einem
unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht gehört wird, das
über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die
Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden
hat (Satz 1).

Das kantonale Gericht, welchem es primär obliegt, die Öffentlichkeit der
Verhandlung zu gewährleisten (BGE 122 V 47 E. 3 S. 54), hat bei Vorliegen eines
klaren und unmissverständlichen Parteiantrages grundsätzlich eine öffentliche
Verhandlung durchzuführen (BGE 122 V 47 E. 3a und b S. 55 f.). Von einer
ausdrücklich beantragten öffentlichen Verhandlung kann abgesehen werden, wenn
der Antrag der Partei als schikanös erscheint oder auf eine Verzögerungstaktik
schliessen lässt und damit dem Grundsatz der Einfachheit und Raschheit des
Verfahrens zuwider läuft oder sogar rechtsmissbräuchlich ist. Gleiches gilt,
wenn sich ohne öffentliche Verhandlung mit hinreichender Zuverlässigkeit
erkennen lässt, dass eine Beschwerde offensichtlich unbegründet oder unzulässig
ist (BGE 122 V 47 E. 3b cc und dd S. 56). Als weiteres Motiv für die
Verweigerung einer beantragten öffentlichen Verhandlung fällt die hohe
Technizität der zur Diskussion stehenden Materie in Betracht, was etwa auf rein
rechnerische, versicherungsmathematische oder buchhalterische Probleme
zutrifft, wogegen andere dem Sozialversicherungsrecht inhärente Fragestellungen
materiell- oder verfahrensrechtlicher Natur wie die Würdigung medizinischer
Gutachten in der Regel nicht darunter fallen. Schliesslich kann das kantonale
Gericht von einer öffentlichen Verhandlung absehen, wenn es auch ohne eine
solche allein aufgrund der Akten zum Schluss gelangt, dass dem materiellen
Rechtsbegehren der bezüglich der Verhandlung antragstellenden Partei zu
entsprechen ist (BGE 122 V 47 E. 3b ee und ff S. 57 f.).

2.3 Beim vorliegenden Prozess über eine Rente der Invalidenversicherung handelt
es sich um eine Streitigkeit über einen zivilrechtlichen Anspruch im Sinne von
Art. 6 Ziff. 1 EMRK (BGE 125 V 499 E. 2a S. 501, 122 V 47 E. 2a S. 50 mit
Hinweisen; SVR 2006 IV Nr. 1 E. 3.3). Ferner liegt auch ein rechtzeitig
gestellter, unmissverständlicher Antrag auf Durchführung einer öffentlichen
Verhandlung vor (BGE 122 V 47 E. 3b/bb S. 56).

2.4 Das Bundesgericht hat sich im (zur Publikation in der amtlichen Sammlung
vorgesehenen) Urteil 9C_870/2009 vom heutigen Tag eingehend mit der - als nicht
einheitlich erkannten - Rechtsprechung sowohl des EGMR als auch des
Bundesgerichts zum Verzicht auf eine beantragte öffentliche Verhandlung im
erstinstanzlichen Beschwerdeverfahren betreffend sozialversicherungsrechtliche
Ansprüche auseinandergesetzt. Es hat entschieden, dass in Verfahren mit
hauptsächlich medizinischer Fragestellung eine bessere Eignung des
schriftlichen Verfahrens nicht erkennbar sei, auch wenn Gegenstand in einer
allfälligen Verhandlung einzig die Auseinandersetzung mit den vorhandenen
Stellungnahmen von Ärztinnen und Ärzten zu Gesundheitsschaden und Grad der
Arbeitsunfähigkeit bildet. Es handle sich bei der Würdigung solcher
medizinischen Berichte und der Beurteilung der Beweiskraft einander
widersprechender ärztlicher Aussagen um eine auf dem Gebiet des
Sozialversicherungsrechts alltägliche und damit nicht um eine "hochtechnische"
Thematik im Sinne der Rechtsprechung.
2.5
Im Lichte dieses Entscheides sind die Voraussetzungen für einen Verzicht auf
die vom Versicherten in der Beschwerde an die Vorinstanz ausdrücklich
beantragte Durchführung einer öffentlichen Verhandlung nicht gegeben. Weder ist
der Antrag schikanös, noch läuft er dem Grundsatz der Einfachheit und Raschheit
des Verfahrens zuwider. Sodann kann das Rechtsmittel nicht als offensichtlich
unbegründet oder unzulässig bezeichnet werden, was denn auch seitens des
Kantonsgerichts nicht angenommen wurde. Von hoher Technizität kann im
vorliegenden Fall ebenfalls nicht gesprochen werden: Streitig ist insbesondere,
inwieweit ein seit 1992 bestehendes Handleiden die Arbeitsfähigkeit des
Beschwerdeführers auch in angepassten Tätigkeiten beeinträchtigt. Damit liegt
ein Streit um den Arbeitsunfähigkeitsgrad vor, der keine Ausnahme von der
Pflicht, eine öffentliche Verhandlung durchzuführen, begründet. Schliesslich
war dem materiellen Rechtsbegehren des Versicherten allein auf Grund der Akten
nicht ohne weiteres zu entsprechen.

2.6 Indem die Vorinstanz unter diesen Umständen von der beantragten
öffentlichen Verhandlung abgesehen hat, wurde dieser in Art. 6 Ziff. 1 EMRK
gewährleisteten Verfahrensgarantie nicht Rechnung getragen. Es ist daher
unumgänglich, die Sache an das Kantonsgericht zurückzuweisen, damit dieses den
Verfahrensmangel behebt und die vom Beschwerdeführer verlangte öffentliche
Verhandlung durchführt. Hernach wird es über die Beschwerde materiell neu
befinden.

3.
Dem Prozessausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden
IV-Stelle aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Diese hat dem Beschwerdeführer
überdies eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, als der angefochtene Entscheid
vom 16. Oktober 2009 aufgehoben wird. Die Sache wird an das Kantonsgericht
Freiburg zurückgewiesen, damit es im Sinne der Erwägungen verfahre.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Freiburg,
Sozialversicherungsgerichtshof, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen
schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 8. Juni 2010

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Meyer Dormann