Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 1001/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_1001/2009

Urteil vom 15. April 2010
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Seiler, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
Ausgleichskasse des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau,
Beschwerdeführerin,

gegen

C.________ GmbH,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Alters- und Hinterlassenenversicherung (Beitragspflicht),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
20. Oktober 2009.

Sachverhalt:

A.
Mit zwei Veranlagungsverfügungen vom 7. April 2005 verpflichtete die
Ausgleichskasse des Kantons Aargau die P.________ GmbH (seit 1. Januar 2003:
C.________ GmbH) zur Bezahlung von 2001 und 2002 zu wenig entrichteten
Sozialversicherungsbeiträgen nach Bundes- und kantonalem Recht sowie
Betreibungskosten zuzüglich 5 % Verzugszins seit 4. Dezember 2004. Am selben
Tag verfügte sie Verzugszinsen für die Zeit vom 1. Januar 2002 bis 3. Dezember
2004 und weitere Betreibungskosten. Mit Entscheid vom 6. Juni 2005 wies die
Ausgleichskasse die hiegegen erhobenen Einsprachen ab.

B.
Die C.________ GmbH erhob beim Versicherungsgericht des Kantons Aargau
Beschwerde und beantragte, die mit den Verfügungen vom 7. April 2005 geltend
gemachten Forderungen seien abzuweisen.
Nach Vernehmlassung der Ausgleichskasse und Einholung weiterer Unterlagen
sistierte das kantonale Gericht am 24. Mai 2006 das Verfahren bis zum Abschluss
des laufenden steuerrechtlichen Revisionsverfahrens betreffend die am Recht
stehende Firma für 2001 bis 2003 und ersuchte das Kantonale Steueramt um
entsprechende Mitteilung mittels Aktenzustellung. Am 11. September 2009 teilte
es den Parteien mit, dass die Steuerunterlagen eingetroffen seien und das
Verfahren fortgesetzt werden könne.
Mit Entscheid vom 20. Oktober 2009 hob das kantonale Versicherungsgericht in
teilweiser Gutheissung der Beschwerde den Einspracheentscheid vom 6. Juni 2005
auf und wies die Sache zum Erlass einer neuen Beitrags- sowie
Verzugszinsverfügung betreffend das Beitragsjahr 2001 im Sinne der Erwägungen
an die Ausgleichskasse zurück.

C.
Die Ausgleichskasse führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 20. Oktober 2009 sei aufzuheben und
die Sache zur Gewährung des rechtlichen Gehörs sowie zur anschliessenden
Neubeurteilung an das kantonale Versicherungsgericht zurückzuweisen.
Das kantonale Gericht beantragt die Abweisung der Beschwerde. Die C.________
GmbH hat sich nicht innert Frist vernehmen lassen.

Erwägungen:

1.
Der vorinstanzliche Entscheid hebt den Einspracheentscheid auf und weist die
Sache zum Erlass einer neuen Verfügung betreffend das Beitragsjahr 2001 im
Sinne der Erwägungen an die Beschwerdeführerin zurück. In den Erwägungen wird
die massgebende Lohnsumme genau festgelegt. Es handelt sich somit um einen
Endentscheid im Sinne von Art. 90 BGG, woran die Rückweisung der Sache zur rein
rechnerischen Neuberechnung der Beiträge und Verzugszinsen für 2001 nichts
ändert (Urteil 9C_540/2009 vom 17. September 2009 E. 1 mit Hinweisen).

2.
Die Beschwerde führende Ausgleichskasse rügt einzig, die Vorinstanz habe in
ihrem Entscheid massgeblich auf Steuerunterlagen abgestellt. Diese seien ihr
nicht zur Einsichtnahme und allfälligen Stellungnahme zugestellt worden, was
eine nicht heilbare Verletzung des rechtlichen Gehörs darstelle.

3.
3.1 Die Vorinstanz hat die massgebenden Bruttoeinkommen anders festgesetzt als
die Verwaltung. Diese Festsetzung beruht nicht etwa auf unterschiedlichen
Rechtsauffassungen, sondern auf einer Würdigung des Sachverhalts. Es handelt
sich somit bei den vorinstanzlichen Feststellungen über die Höhe des
massgebenden Bruttolohnes um Sachverhaltsfeststellungen. Die Beschwerde
führende Ausgleichskasse behauptet nicht, geschweige denn in substantiierter
Form, dass und inwiefern diese Sachverhaltsfeststellungen unzutreffend sein
sollen. Sie rügt einzig eine Gehörsverletzung, macht aber nicht geltend, dass
und inwiefern ohne die behauptete Gehörsverletzung in der Sache ein anderer
Entscheid resultiert hätte.

3.2 Die Feststellung des Sachverhalts kann vor Bundesgericht nur gerügt werden,
wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne
von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des
Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Zu den
Rechtsverletzungen im Sinne von Art. 95 BGG gehört auch die Verletzung des
rechtlichen Gehörs. Wer vor Bundesgericht im Zusammenhang mit einer
Sachverhaltsrüge eine Verletzung des rechtlichen Gehörs geltend macht, muss
daher darlegen, dass und inwiefern die Gehörsverletzung für den Ausgang des
Verfahrens entscheidend sein kann, wobei die Glaubhaftmachung eines anderen
Entscheides in der Sache bei korrekter Vorgehensweise genügt (Art. 42 Abs. 2
bzw. Art. 106 Abs. 2 BGG; Urteile 2C_724/2008 vom 16. Februar 2009 E. 2.3;
2C_387/2007 vom 4. März 2008 E. 2.1 und 2.5; 8C_224/2009 vom 27. Juli 2009 E.
3.3.2; 9C_562/2008 vom 3. November 2008 E. 6.1, 9C_272/2009 vom 16. September
2009 E. 4.2). Diesen Anforderungen genügt die Beschwerde nicht. Ob allenfalls
bei einer schweren Gehörsverletzung von den genannten Anforderungen abgewichen
werden könnte, kann offenbleiben, da eine solche jedenfalls nicht vorliegt.

4.
4.1 Der in Art. 29 Abs. 2 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK verankerte, ebenfalls in
Art. 61 lit. c ATSG enthaltene Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst unter
anderem das Recht des Betroffenen, vor Erlass eines in seine Rechtsstellung
eingreifenden Entscheids sich zur Sache zu äussern, Einsicht in die Akten zu
nehmen, mit erheblichen Beweisanträgen gehört zu werden und an der Erhebung
wesentlicher Beweise mitzuwirken oder sich zumindest zum Beweisergebnis zu
äussern, wenn darauf abgestellt werden soll (BGE 121 V 151 E. 4a S. 152 mit
Hinweisen; Urteil 9C_617/2009 vom 15. Januar 2010 E. 2.2).

Das Akteneinsichtsrecht im Besonderen bezieht sich auf sämtliche
verfahrensbezogenen Akten, die geeignet sind, Grundlage des Entscheids zu
bilden. Die Akteneinsicht ist demnach auch zu gewähren, wenn dadurch der
Entscheid in der Sache nicht beeinflusst werden kann. Die Einsicht in die
Akten, die für ein bestimmtes Verfahren erstellt oder beigezogen wurden, kann
demnach nicht mit der Begründung verweigert werden, die betreffenden Dokumente
seien für den Verfahrensausgang belanglos. Es muss dem Betroffenen selber
überlassen sein, die Relevanz der Akten zu beurteilen (BGE 132 V 387 E. 3.2 S.
389). Um Akteneinsicht zu erhalten, haben die Rechtsuchenden grundsätzlich ein
Gesuch einzureichen. Dies bedingt, dass sie über den Beizug neuer
entscheidwesentlicher Akten, welche sie nicht kennen und auch nicht kennen
können, informiert werden (BGE 132 V 387 E. 6.2 S. 391; Urteil 9C_534/2009 vom
4. Februar 2010 E. 1.1.1).

4.2 Die Vorinstanz hat bei ihrem Entscheid hauptsächlich auf die von ihr
einholten Steuerunterlagen abgestellt, was unbestritten ist. Den Parteien hatte
sie die betreffenden Dokumente zwar nicht zugestellt. Diese hatten jedoch
Kenntnis von deren Beizug und sie mussten davon ausgehen, dass sie
entscheidrelevant sein könnten. In der Sistierungsverfügung vom 24. Mai 2006
wurde festgehalten, der Ausgang des steuerrechtlichen Revisionsverfahrens resp.
die daraus resultierenden Steuerakten hätten entscheidenden Einfluss auf das
Verfahren, sei doch umstritten, auf welchen von der Beschwerdeführerin an
mehrere Personen entrichteten Lohnsummen Sozialversicherungsbeiträge zu erheben
seien.

4.3 Entgegen der Auffassung der Ausgleichskasse ergibt sich aus dem
Gehörsanspruch nicht, dass ihr die Vorinstanz die eingeholten Steuerunterlagen
zur Einsichtnahme und allfälligen Stellungnahme zuzustellen gehabt hätte. Es
genügte, dass sie über den Beizug der Akten informiert war. Um deren Zustellung
hatte sie selber nachzusuchen, es sei denn, es bestand eine anders lautende
Gerichtspraxis. Dies wird jedoch nicht geltend gemacht und von der Vorinstanz
in ihrer Vernehmlassung ausdrücklich verneint. Danach würden schon seit Jahren
in Beitragsstreitigkeiten häufig die Steuerakten beigezogen und dies den
Parteien angezeigt in der Meinung, dass sie ein allfälliges Bedürfnis nach
Akteneinsicht und Stellungnahme mitteilten. Die Ausgleichskasse hat dieser
Darstellung im Rahmen ihres Replikrechts (Urteil 9C_534/2009 vom 4. Februar
2010 E. 1.3.1 mit Hinweisen) nicht widersprochen.

Die Ausgleichskasse hatte nach ihren Angaben seit 21. September 2009 Kenntnis
vom Eingang der Steuerakten bei der Vorinstanz. Bis zum Erlass des Entscheids
am 20. Oktober 2009 resp. dessen Zustellung am 2. November 2009 ersuchte sie
indessen nicht um Edition dieser Unterlagen. Es sind keine Gründe ersichtlich
und es wird auch nicht geltend gemacht, dass ein solches Gesuch
unverschuldeterweise nicht rechtzeitig habe gestellt werden können. Unter
diesen Umständen kann nicht von einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches
Gehör durch die Vorinstanz gesprochen werden. Die Beschwerde ist unbegründet.

5.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Ausgleichskasse die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 1'100.- werden der Ausgleichskasse des Kantons
Aargau auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt.

Luzern, 15. April 2010

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Fessler