Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilrechtliche Abteilung, Beschwerde in Zivilsachen 5A.6/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
5A_6/2009

Urteil vom 30. April 2009
II. zivilrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Hohl, Präsidentin,
Bundesrichterin Escher, Bundesrichter L. Meyer, Bundesrichter Marazzi,
Bundesrichter von Werdt,
Gerichtsschreiber Möckli.

Parteien
X.________,
Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Bruno Beeler,

gegen

Y.________,
Beschwerdegegnerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Walter A. Stöckli.

Gegenstand
Ehescheidung,

Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts des Kantons Schwyz,
Zivilkammer, vom 23. September 2008.

Sachverhalt:

A.
X.________ (geb. 1970) und Y.________ (geb. 1969) heirateten im April 2002. Sie
haben die gemeinsame Tochter A.________ (geb. 2003). Das Getrenntleben begann
nach ungefähr zwei Ehejahren.

B.
Auf Klage des Ehemannes hin schied das Bezirksgericht B.________ die Ehe mit
Urteil vom 24. Oktober 2007 und stellte die Tochter unter die elterliche Sorge
der Mutter. In finanzieller Hinsicht verpflichtete es den Ehemann zu
Kindesunterhalt von Fr. 800.-- (zzgl. Kinderzulagen) sowie zu nachehelichem
Unterhalt von Fr. 1'685.-- bis April 2013 und von Fr. 935.-- bis April 2019.
Auf Berufung des Ehemannes hin setzte das Kantonsgericht Schwyz den
nachehelichen Unterhalt mit Urteil vom 23. September 2008 auf Fr. 1'650.-- bis
April 2013 und auf Fr. 350.-- bis April 2018 fest.

C.
Gegen dieses Urteil hat der Ehemann am 5. Januar 2009 eine Beschwerde in
Zivilsachen eingereicht, im Wesentlichen mit den Begehren um Festsetzung des
nachehelichen Unterhalts auf Fr. 1'055.-- pro Monat (zuzüglich der Hälfte der
jährlichen Gratifikation) bis zum Eintritt von A.________ in die 1.
Primarklasse und auf Fr. 350.-- pro Monat (zuzüglich der Hälfte der jährlichen
Gratifikation) bis zum Eintritt von A.________ in die 1. Oberstufe sowie um
Aufhebung der Kostenziffern, unter hälftiger Teilung der erstinstanzlichen
Kosten und Auferlegung der zweitinstanzlichen Kosten an die Ehefrau. Er
verlangt in diesem Zusammenhang insbesondere auch die Feststellung, dass der
Ehefrau per sofort eine Erwerbsarbeit von 20% bzw. ein Erwerbseinkommen von Fr.
900.-- zumutbar sei.
Das Kantonsgericht verlangt in seiner Vernehmlassung vom 16. Februar 2009 die
Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei. Die Ehefrau hat in
ihrer Vernehmlassung vom 10. März 2009 auf Abweisung der Beschwerde
geschlossen.
Beide Parteien verlangen die unentgeltliche Rechtspflege.

Erwägungen:

1.
Angefochten sind Fr. 30'000.-- übersteigende vermögensrechtliche Nebenfolgen
eines kantonal letztinstanzlichen Ehescheidungsurteils; die Beschwerde in
Zivilsachen ist somit gegeben (Art. 72 Abs. 1, Art. 74 Abs. 1 lit. b, Art. 75
Abs. 1 und Art. 90 BGG).

2.
Nach den Sachverhaltsfeststellungen des Kantonsgerichts ist der Ehemann zu 100%
erwerbstätig und verfügt über ein Nettoeinkommen von Fr. 5'700.--. Die Ehefrau
hat während der Ehe eine KV-Ausbildung und einen SIZ-Kurs absolviert. Sie ist
zur Zeit nicht erwerbstätig und widmet sich der Betreuung des gemeinsamen,
inzwischen sechs Jahre alten Kindes. Das Kantonsgericht hat sich auf die
bundesgerichtlichen Richtlinien gestützt, wonach einer Mutter eine teilweise
Erwerbstätigkeit erst zumutbar ist, sobald das jüngste Kind 10 Jahre alt ist,
bzw. eine volle Erwerbstätigkeit, sobald das jüngste Kind 16 Jahre alt ist, und
es hat ihr in der Folge ab Mai 2013 ein hypothetisches Einkommen von 50% und ab
Mai 2018 ein solches von 100% angerechnet; dabei ist es von einem erzielbaren
Einkommen von Fr. 4'500.-- ausgegangen.

2.1 Der Ehemann rügt in verschiedener Hinsicht eine Verletzung des
Willkürverbots und Rechtsverletzungen. Er macht insbesondere geltend, die
betreffenden Richtlinien entsprächen nicht mehr der heutigen Zeit und es gehe
nicht an, dass er während mehrerer Jahre auf sein Existenzminimum gesetzt werde
und sich die Ehefrau darauf beschränke, das einzige Kind zu erziehen, umso
weniger als sie ihre KV-Ausbildung mit Blick auf eine Erwerbsaufnahme
absolviert habe. Vor dem Hintergrund, dass es bereits für den Kindergarten
einen Mittagstisch gebe und das Kind demnächst zur Schule gehe, sei der Ehefrau
bereits jetzt eine Erwerbsarbeit im Umfang von 20% zumutbar; notfalls könne sie
das Kind auch in eine Krippe geben.

2.2 Für die Höhe und Dauer des nachehelichen Unterhalts kommt es wesentlich auf
die Unterscheidung zwischen lebensprägenden und nicht lebensprägenden Ehen an;
bei der ersteren haben beide Parteien Anspruch auf Fortführung der ehelichen
Lebenshaltung; prägend ist eine Ehe vermutungsweise, wenn sie länger als zehn
Jahre gedauert hat, unabhängig von der Ehedauer aber auch, wenn aus ihr
gemeinsame Kinder hervorgegangen sind (BGE 135 III 59 E. 4.1 S. 61). Selbst die
lebensprägende Ehe führt aber nicht automatisch zu Scheidungsalimenten: Nach
der bundesgerichtlichen Rechtsprechung geniesst der Grundsatz der
Eigenversorgung gegenüber dem Unterhaltsanspruch Vorrang, was sich direkt aus
Art. 125 Abs. 1 ZGB ergibt (Prinzip des clean break); nur dann und insoweit hat
ein Ehegatte gegenüber dem anderen einen Anspruch auf Scheidungsalimente, als
er seinen gebührenden Unterhalt nicht aus eigener Kraft zu decken vermag und
der andere Teil leistungsfähig ist (BGE 134 III 145 E. 4 S. 146).
Die Eigenversorgungskapazität kann insbesondere durch die Kinderbetreuung ganz
oder teilweise eingeschränkt sein. Als Richtlinie gilt, dass dem betreuenden
Elternteil die (Wieder-)Aufnahme einer Erwerbsarbeit zumutbar ist, im Umfang
von 50% sobald das jüngste Kind 10-jährig und zu 100% sobald das jüngste Kind
16-jährig ist (BGE 115 II 6 E. 3c S. 10). In einem neuesten, zur Publikation
bestimmten Urteil hat das Bundesgericht festgehalten, dass diese Richtlinien
auch bei den heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen ihre Gültigkeit
behielten, weil nach wie vor die unmittelbare persönliche Betreuung und Pflege
vor allem kleiner und im obligatorischen Schulalter stehender Kinder deren
Interessen diene und einen wesentlichen Gesichtspunkt für die Zuteilung der
elterlichen Sorge bilde (zur Publ. best. Urteil 5A_210/2008, E. 3.2). Ferner
schliesst die Formulierung "das jüngste Kind" auch Einkinderfamilien ein (so
explizit Urteil 5A_100/2007, E. 4); das Bundesgericht hat die zitierten
Richtlinien denn auch in anderen Fällen stets auf solche Verhältnisse angewandt
(z.B. Urteile 5C.70/2004, E. 2.3; 5C.203/2006, E. 3.2).
Richtlinien stellen jedoch definitionsgemäss keine starren Regeln dar; vielmehr
sind sie auf durchschnittliche Verhältnisse zugeschnitten und müssen vor einer
jeden Einzelfallbetrachtung standhalten (Urteile 5C.43/2006, E. 6.3; 5A_100/
2007, E. 4). So wäre etwa eine darüber hinausgehende Erwerbsarbeit zumutbar,
wenn sie bereits während des ehelichen Zusammenlebens ausgeübt worden ist oder
das Kind fremdplatziert ist und deshalb den Inhaber der elterlichen Sorge bzw.
der Obhut nicht an einer Erwerbsarbeit hindert (Urteil 5A_100/2007, E. 4).
Umgekehrt kann eine Erwerbsarbeit auch länger unzumutbar bleiben, etwa bei
einem behinderten Kind oder wenn zahlreiche Kinder zu betreuen sind (Urteile
5C.139/2005, E. 2.2; 5A_100/2007, E. 4). Der Sachrichter hat deshalb die
Richtlinien in pflichtgemässer Ausübung seines weiten Ermessens in
Unterhaltsfragen (Art. 4 ZGB; BGE 134 III 577 E. 4 S. 580) und mit Augenmass
anzuwenden.

2.3 Aus den kantonalen Sachverhaltsfeststellungen ergibt sich, dass die Ehefrau
während der Ehe eine KV-Lehre und einen SIZ-Kurs absolviert hat. Insbesondere
die KV-Lehre erfordert ein Engagement, das einer ausserhäuslichen
Erwerbstätigkeit entspricht. Soweit die Lehre in die Zeit nach der Geburt der
Tochter gefallen sein sollte, wozu der angefochtene Entscheid nichts
feststellt, hätte die Mutter die gemeinsame Tochter offensichtlich
fremdbetreuen lassen müssen. Ob dieselben Schlussfolgerungen auch im
Zusammenhang mit dem SIZ-Kurs zu ziehen wären, kann mangels entsprechender
tatsächlicher Feststellungen (wie Dauer und zeitliche Beanspruchung) nicht
beurteilt werden.
Wie bereits erwähnt, gilt eine Erwerbstätigkeit ungeachtet allfälliger
Betreuungspflichten als zumutbar, wenn sie bereits während der Ehe ausgeübt
wurde und deshalb eine Fremdbetreuung der Kinder erforderlich war. Aus der
Sicht des Kindes bzw. des Kindeswohls ist aber nicht entscheidend, aus welchem
Grund eine Fremdbetreuung stattgefunden hat, weshalb eine Ausbildungstätigkeit
vom Grundsatz her nicht anders zu behandeln ist als eine Erwerbstätigkeit.
Insofern können sich aber Unterschiede ergeben, als bei einer Ausbildung die
Lebensplanung der Ehegatten zu berücksichtigen ist, die sich im Unterschied zur
Erwerbstätigkeit nicht bereits aus der Tatsache der Tätigkeit selbst ergibt:
Eine Ausbildung muss nicht zwingend in der Absicht einer unmittelbar
anschliessenden Arbeitsaufnahme erfolgen. Vielmehr kann es auch dem Lebensplan
der Ehegatten entsprechen, dass sich der betreffende Gatte nach Abschluss der
Ausbildung zuerst um die Kinder kümmern und erst dann, wenn diese ein
bestimmtes Alter erreicht haben, eine Erwerbstätigkeit aufnehmen soll;
diesfalls dient die Ausbildung dem späteren beruflichen (Wieder)Einstieg.
Ferner ist an den Fall zu denken, dass eine Frau während einer Ausbildung
unerwartet schwanger wird und sich die Ehegatten entscheiden, dass die
Ausbildung zwar abgeschlossen, aber danach keine Erwerbstätigkeit aufgenommen
werden soll.
Es entspricht allgemeiner Erfahrung, dass bei angespannten finanziellen
Verhältnissen - vorliegend deckt das Einkommen des Ehemannes den allseitigen
Notbedarf nur ganz knapp - eine Aus- oder Weiterbildung in der Regel mit dem
Ziel einer unmittelbaren Verbesserung der Einkommenssituation absolviert wird,
zumal wenn nur ein Kind zu betreuen und dieses dem eigentlichen Kleinkindalter
entwachsen ist. Dennoch sind die im vorangehenden Abschnitt erörterten
Sachverhaltsfragen offen. Sodann setzt die Verpflichtung der Ehefrau zu einer
Erwerbsaufnahme in jedem Fall voraus, dass sie in tatsächlicher Hinsicht eine
Arbeit finden kann, die sich primär während der Kindergarten- bzw. Schulzeit
des Kindes ausüben lässt. Soweit eine Fremdbetreuung unumgänglich wäre, muss
nach Abzug der hieraus entstehenden Kosten (sowie allfälliger weiterer Kosten
und der Steuerfolgen) ein vernünftiger Betrag übrig bleiben, so dass insgesamt
von einer wesentlichen Verbesserung der finanziellen Verhältnisse gesprochen
werden kann.
All diese Fragen sind nicht liquid, weshalb der angefochtene Entscheid
aufzuheben und die Sache zur weiteren Abklärung im Sinn der Erwägungen an das
Kantonsgericht zurückzuweisen ist.

2.4 Infolge Rückweisung werden die weiteren Vorbringen in der Sache,
insbesondere aber auch die Ausführungen im Zusammenhang mit den kantonalen
Kosten gegenstandslos.

3.
Die beidseitigen Gesuche um unentgeltliche Rechtspflege sind infolge
offensichtlicher Prozessbedürftigkeit gutzuheissen und die Parteien sind je
durch die sie vertretenden Rechtsanwälte zu verbeiständen (Art. 64 Abs. 1 und 2
BGG).
Ist der materielle Ausgang des Verfahrens offen, werden die Kosten für das
bundesgerichtliche Verfahren praxisgemäss geteilt. Zudem sind beide
Parteianwälte aus der Bundesgerichtskasse zu entschädigen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
In Gutheissung der Beschwerde in Zivilsachen wird das Urteil des
Kantonsgerichts Schwyz vom 23. September 2008 aufgehoben und die Sache zur
Abklärung und neuen Beurteilung im Sinn der Erwägungen an das Kantonsgericht
zurückgewiesen.

2.
Beiden Parteien wird die unentgeltliche Rechtspflege erteilt. Dem
Beschwerdeführer wird Dr. B. Beeler, und der Beschwerdegegnerin Walter A.
Stöckli, als unentgeltlicher Rechtsanwalt beigegeben.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden den Parteien hälftig auferlegt,
jedoch einstweilen auf die Gerichtskasse genommen.

4.
Beide Rechtsanwälte werden aus der Gerichtskasse mit je Fr. 2'000.--
entschädigt.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht des Kantons Schwyz,
Zivilkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 30. April 2009
Im Namen der II. zivilrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Die Präsidentin: Der Gerichtsschreiber:

Hohl Möckli