Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilrechtliche Abteilung, Beschwerde in Zivilsachen 5A.553/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
5A_553/2009

Urteil vom 15. Dezember 2009
II. zivilrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Hohl, Präsidentin,
Bundesrichterin Escher, Bundesrichter von Werdt,
Gerichtsschreiberin Gut Kägi.

Parteien
X.________,
Beschwerdeführerin,
vertreten durch Fürsprecher Peter-René Wyder,

gegen

Y.________,
Beschwerdegegner,
vertreten durch Fürsprecher Kurt Bonaria.

Gegenstand
Vorsorgliche Massnahmen (Obhutszuteilung),

Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Bern,
Appellationshof, 1. Zivilkammer, vom 20. Juli 2009.

Sachverhalt:
A. Y.________ und X.________ sind die Eltern des Sohnes A.________, geb. 2003,
und der Tochter B.________, geb. 2004.
A.a Mit Eheschutzverfügung des Gerichtspräsidenten C.________ des
Gerichtskreises D.________ vom 31. Mai 2007 wurden die beiden Kinder unter die
Obhut der Mutter gestellt und der persönliche Verkehr mit dem Vater geregelt.
Das Gesuch um Abänderung des Eheschutzentscheids von Y.________ vom 1. April
2008 wurde mit Entscheid des Gerichtspräsidenten vom 30. Oktober 2008
abgewiesen.
A.b Unterdessen ist zwischen den Parteien ein Ehescheidungsverfahren hängig.
Y.________ beantragte als vorsorgliche Massnahme für die Dauer dieses
Verfahrens die Obhut über die beiden Kinder. Mit Entscheid vom 8. Mai 2009 wies
der Gerichtspräsident C.________ des Gerichtskreises D.________ das Gesuch ab.
A.c Gegen diesen Entscheid erklärte Y.________ Appellation beim Obergericht des
Kantons Bern. Er beantragte die Obhut über die beiden Kinder. Zudem sei
X.________ zur Bezahlung von Kinderunterhaltsbeiträgen zu verpflichten und es
sei die Erziehungsbeistandschaft an die zuständige Behörde seines Wohnortes zu
übertragen. Weiter verlangte er die Erteilung der aufschiebenden Wirkung der
Beschwerde sowie die Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege.
Mit Entscheid vom 20. Juli 2009 wurde in teilweiser Gutheissung der Appellation
die Obhut über die beiden Kinder für die Dauer des Scheidungsverfahrens
Y.________ zugeteilt. X.________ wurde ein gerichtsübliches Besuchsrecht
eingeräumt und die angeordnete Beistandschaft wurde bestätigt. Beiden Parteien
wurde die unentgeltliche Rechtspflege bewilligt. Soweit weitergehend wurde die
Appellation abgewiesen.

B.
X.________ (fortan: Beschwerdeführerin) ist mit Beschwerde in Zivilsachen vom
26. August 2009 an das Bundesgericht gelangt. Sie verlangt die Aufhebung des
Entscheids des Obergerichts. Zudem ersucht sie um Gewährung der aufschiebenden
Wirkung der Beschwerde.
Mit Vernehmlassung zum Gesuch um aufschiebende Wirkung vom 7. September 2009
verlangte Y.________ (fortan: Beschwerdegegner) sinngemäss die Abweisung des
Gesuchs. Zudem ersucht er um Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege. Das
Obergericht hat auf eine Stellungnahme verzichtet. Mit Verfügung vom 9.
September 2009 ist der Beschwerde mit Bezug auf die Obhutszuteilung die
aufschiebende Wirkung zuerkannt worden.
In der Sache sind keine Vernehmlassungen eingeholt worden.

Erwägungen:

1.
Streitgegenstand des vorliegenden Beschwerdeverfahrens bildet die Zuteilung der
elterlichen Obhut über die beiden Kinder A.________ und B.________ für die
Dauer des Scheidungsverfahrens. Es handelt sich dabei um eine Zivilsache im
Sinn von Art. 72 Abs. 1 BGG. Der angefochtene Entscheid des Obergerichts ist
ein kantonal letztinstanzlicher Endentscheid nicht vermögensrechtlicher Natur
(Art. 75 Abs. 1 und Art. 90 BGG; BGE 134 III 426 E. 2.2 S. 431 f., vgl. auch
Urteil 5A_649/2007 vom 5. Februar 2008 E. 1.3). Die Beschwerde erweist sich
grundsätzlich als zulässig.

1.1 Die Beschwerdeschrift hat ein Rechtsbegehren zu enthalten (Art. 42 Abs. 1
BGG). Die Beschwerde in Zivilsachen ist ein reformatorisches Rechtsmittel (Art.
107 Abs. 2 BGG). Daher darf sich die Beschwerdeführerin grundsätzlich nicht
darauf beschränken, die Aufhebung des angefochtenen Entscheids zu beantragen,
sondern muss einen Antrag in der Sache stellen (vgl. BGE 134 III 379 E. 1.3 S.
383). Vorliegend lautet der Antrag lediglich auf Aufhebung des angefochtenen
Urteils. Damit wird die Beschwerdeführerin der reformatorischen Natur der
Beschwerde nicht gerecht. Aus der Begründung ergibt sich immerhin, dass sie die
Obhut über die beiden Kinder für die Dauer des Scheidungsverfahrens verlangt,
weshalb bei grosszügiger Auslegung das Antragserfordernis als gewahrt
betrachtet werden kann.

1.2 Der angefochtene Entscheid betrifft schliesslich eine vorsorgliche
Massnahme im Sinn von Art. 98 BGG. Damit kann vorliegend einzig die Verletzung
verfassungsmässiger Rechte geltend gemacht werden, weshalb die Art. 95 und 97
BGG und auch Art. 105 Abs. 2 BGG nicht zur Anwendung gelangen (BGE 133 III 393
E. 5 S. 396 f., 398 E. 7.1; 133 III 585 E. 3.3 S. 587, 588 E. 4.1). Die hier
gegebenen Verhältnisse entsprechen denjenigen bei der subsidiären
Verfassungsbeschwerde (Art. 113 ff. BGG; BGE 133 III 585 E. 4.1 S. 588 f.). Die
Beschwerdeführerin muss angeben, welches verfassungsmässige Recht verletzt
wurde und substanziiert darlegen, worin die Verletzung besteht (vgl. der zu
Art. 90 OG ergangene BGE 130 I 26 E. 2.1 S. 31). Das Bundesgericht kann die
Verletzung eines Grundrechts nur insofern prüfen, als eine solche Rüge in der
Beschwerde präzis vorgebracht und detailliert begründet worden ist. Auf rein
appellatorische Kritik am angefochtenen Entscheid tritt es nicht ein (Art. 106
Abs. 2 BGG; vgl. BGE 133 III 439 E. 3.2 S. 444). Wird die Verletzung des
Willkürverbots gerügt, reicht es nicht aus, die Rechtslage aus Sicht der
Beschwerdeführerin darzulegen und den davon abweichenden angefochtenen
Entscheid als willkürlich zu bezeichnen; vielmehr ist im Einzelnen darzulegen,
inwiefern das kantonale Gericht willkürlich entschieden haben soll und der
angefochtene Entscheid deshalb an einem qualifizierten und offensichtlichen
Mangel leidet (BGE 117 Ia 10 E. 4b S. 11 f.).

2.
Vorab rügt die Beschwerdeführerin Art. 11 BV i.V.m. Art. 41 Abs. 1 lit. c und
lit. f BV und Art. 301 ff. ZGB als verletzt.

2.1 Zur Begründung führt sie insbesondere aus, der siebenjährige A.________,
bei dem ein Entwicklungsrückstand vorliege, habe in letzter Zeit grosse
Fortschritte gemacht. Dies sei der Zusammenarbeit zwischen der
Beschwerdeführerin und dem Erziehungsbeistand, der heilpädagogischen
Früherzieherin und der für solche Problemstellungen besonders geeigneten Schule
E.________ zu verdanken. Diesbezüglich verweist die Beschwerdeführerin auf den
vor Bundesgericht eingereichten Schulbericht. Zudem würden die Kinder von der
Beschwerdeführerin unter Mithilfe weiterer Familienangehörigen täglich betreut.
Zwar werde die Obhutszuweisung an den Beschwerdegegner mit dessen angeblich
besseren Erziehungsfähigkeit begründet. Nach dessen Betreuungskonzept erfolge
jedoch der grösste Teil der Betreuung durch familienexterne Stellen wie
Tagesmutter und Sonderschule in einer neuen Sprachgegend. Bedenklich sei auch,
dass der Beschwerdegegner nicht bereit sei, sein Arbeitspensum zu reduzieren.
Die momentane Betreuungssituation habe sich bewährt und müsse daher fortgesetzt
werden.

2.2 Die Verletzung von Art. 301 ff. ZGB kann mit der Beschwerde gegen einen
Massnahmeentscheid nicht gerügt werden (E. 1.3), und aus der Begründung geht
nicht ansatzweise hervor, weshalb das Obergericht bei der Zuteilung der
elterlichen Obhut verfassungsmässige Rechte verletzt haben sollte. Anstatt sich
mit den Erwägungen des Obergerichts auseinander zu setzen und detailliert
aufzuzeigen, inwiefern Verfassungsbestimmungen verletzt worden wären, begnügt
sich die Beschwerdeführerin damit, die Geschehnisse aus ihrer Sichtweise zu
schildern und allgemeine Kritik am Verfahren und den Sachverhaltsfeststellungen
des Obergerichts zu üben. Damit kommt sie den Begründungsanforderungen an eine
Beschwerde gegen einen Massnahmeentscheid in keiner Weise nach. Insbesondere
setzt sie sich nicht mit dem Argument des Obergerichts auseinander, wonach die
Ursachen für den Kariesbefall der Zähne der Kinder auf eine Überforderung der
Beschwerdeführerin mit der Kinderbetreuung schliessen liessen. Auch auf die
gewichtige obergerichtliche Erkenntnis, dass auch die Beschwerdeführerin nicht
in der Lage sei, die Kinder ohne Hilfe ihrer Mutter und ihrer Schwester zu
erziehen und dass es trotz dieser Hilfe durch die Familie zu verfaulten Zähnen
und damit zu Vernachlässigungen gekommen sei, geht sie nicht ein. Bei den
Behauptungen der Beschwerdeführerin betreffend die Fortschritte von A.________
und dem Schulbericht der Schule E.________ vom Juli 2009 handelt es sich zudem
um neue und damit unzulässige Vorbringen (Art. 99 Abs. 1 BGG). Das Gesagte gilt
auch für die geäusserten Vorbehalte gegen die Tagesmutter aufgrund der
möglichen Einführung einer Bewilligungspflicht für die Kinderbetreuung. Auf die
Vorbringen der Beschwerdeführerin, wonach Art. 11 BV i.V.m. Art. 41 Abs. 1 lit.
c und lit. f BV und Art. 301 ff. ZGB verletzt sein sollen, kann somit nicht
eingetreten werden.

3.
Weiter rügt die Beschwerdeführerin Art. 9 BV als verletzt.

3.1 Der Entscheid des Obergerichts beruhe auf einer sachlich unhaltbaren
Ermessensausübung. Der Beschwerdegegner habe die Beschwerdeführerin der
Kindesmisshandlung beschuldigt. Diese Beschuldigungen hätten sich jedoch als
völlig haltlos erwiesen. Aufgrund dieses Verhaltens erscheine die Bereitschaft
des Beschwerdegegners den Umgang mit dem anderen Elternteil zu fördern, als
fraglich. Das Gutachten der beiden Psychologen F.________ und G.________
spreche sich zwar für die Unterstellung unter die Obhut des Beschwerdegegners
aus, jedoch sei auch eine Drittplatzierung von A.________ in einem
Sonderschulheim in Erwägung gezogen worden. Mit der obergerichtlichen
Obhutszuteilung würden die Kinder aus einer gut funktionierenden
Betreuungssituation herausgerissen und in eine neue Umgebung in einer neuen
Sprachregion gebracht, obwohl der Beschwerdegegner nicht gewillt sei, sein
Arbeitspensum zu reduzieren und stattdessen eine Fremdbetreuung vorziehe. Zudem
befänden sich die Kinder nun in zahnärztlicher Behandlung und es sei darauf
hinzuweisen, dass auch der sorgerechtsberechtigte Beschwerdegegner die Kinder
hätte auf eigene Initiative zum Zahnarzt bringen können. Das Obergericht habe
die Kinderzuteilungsregeln willkürlich gehandhabt und einseitig auf die
eingeschränkte Erziehungsfähigkeit der Beschwerdeführerin abgestellt.

3.2 Inwiefern der obergerichtliche Zuteilungsentscheid willkürlich sein und
damit Art. 9 BV verletzt haben sollte, ist nicht ersichtlich. Auch das
Obergericht hat klar festgehalten, dass eine Misshandlung der Kinder durch die
Beschwerdeführerin oder durch Familienangehörige nicht erstellt und auch nicht
glaubhaft gemacht worden sei. Dass die Anschuldigungen hingegen - wie von der
Beschwerdeführerin behauptet - völlig haltlos gewesen wären, geht aus den Akten
nicht hervor. Auch spricht die inzwischen begonnene zahnärztliche Behandlung
nicht gegen eine Vernachlässigung der Kinder, wird doch damit nicht auch die
Ursache für die Kariesbildung, nämlich die schlechte Ernährung, beseitigt. Dass
das Obergericht schliesslich die mangelnde Erziehungsfähigkeit beim
Zuteilungsentscheid besonders gewichtet, kann nicht beanstandet werden, handelt
es sich doch dabei um ein wichtiges Kriterium für die Frage der
Kinderzuteilung, welches auch einen Wechsel der gewohnten Umgebung
rechtfertigen kann. Weshalb schliesslich der Umzug in eine neue Sprachregion
einen Nachteil darstellen sollte, ist ebenfalls weder ersichtlich noch
dargetan. Betreffend die Ausführungen zum Arbeitspensum des Beschwerdegegners
ist anzumerken, dass die Beschwerdeführerin ebenfalls auf Mithilfe bei der
Kinderbetreuung angewiesen ist. Auch dass der Gerichtspräsident - im Hinblick
auf das Scheidungsurteil - ein ergänzendes Obergutachten in Auftrag gegeben
hat, trägt vorliegend nichts zur Entscheidfindung bei. Insgesamt werden keine
Gründe aufgezeigt, welche den obergerichtlichen Zuteilungsentscheid als
willkürlich erscheinen lassen oder auf eine Überschreitung des dem kantonalen
Gericht bei der Regelung der Obhut zustehenden Ermessen hinweisen (5P.507/2006
vom 5. April 2007 E. 4.2).

4.
Nach dem Gesagten erweist sich die Beschwerde, soweit auf diese überhaupt
eingetreten werden kann, als unbegründet und muss abgewiesen werden.
Ausgangsgemäss trägt die Beschwerdeführerin die Kosten (Art. 66 Abs. 2 BGG).
Die Stellungnahme des Beschwerdegegners bezieht sich nur auf das Gesuch um
aufschiebende Wirkung. Denn zur Sache wurde er nicht zur Vernehmlassung
eingeladen. Weil er in diesem Punkt unterlegen ist, ist der Beschwerdeführerin
keine Parteientschädigung aufzuerlegen (Art. 68 Abs. 1 BGG). Da das
Bundesgericht praxisgemäss während der Verfahrensdauer die bestehende
Obhutsregelung nicht verändert, ansonsten es dem Urteil in der Sache vorgreifen
bzw. eine neue Situation schaffen würde, war es vorauszusehen, dass vorliegend
der Beschwerde die aufschiebende Wirkung erteilt würde (Urteil 5A_160/2009 vom
13. Mai 2009 E. 5). Die Ausführungen des Beschwerdegegners waren somit
aussichtslos, weshalb ihm für die durch die Stellungnahme verursachten Kosten
auch keine unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren ist (Art. 64 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.

4.
Das Gesuch des Beschwerdegegners um unentgeltliche Rechtspflege wird
abgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Bern,
Appellationshof, 1. Zivilkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 15. Dezember 2009
Im Namen der II. zivilrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Die Präsidentin: Die Gerichtsschreiberin:

Hohl Gut Kägi