Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilrechtliche Abteilung, Beschwerde in Zivilsachen 5A.350/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
5A_350/2009

Urteil vom 8. Juli 2009
II. zivilrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Hohl, Präsidentin,
Bundesrichter L. Meyer, Bundesrichter Marazzi,
Gerichtsschreiber von Roten.

Parteien
B.________,
Beschwerdeführerin,

gegen

K.________,
Beschwerdegegner,

und

I.________,
Verfahrensbeteiligte,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Bernhard Maag,

Gegenstand
vorsorgliche Massnahmen im Abänderungsprozess,

Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich, I.
Zivilkammer, vom 19. Februar 2009.

Sachverhalt:

A.
Mit Urteil vom 7. November 1997 wurde die Ehe zwischen B.________
(Beschwerdeführerin), Jahrgang 1964, und K.________ (Beschwerdegegner),
Jahrgang 1971, rechtskräftig geschieden, die elterliche Gewalt über die Tochter
I.________, geboren am xxxx 1993, der Beschwerdeführerin zugeteilt und dem
Beschwerdegegner ein Besuchsrecht an zwei einzelnen Tagen im Monat eingeräumt.
Der Beschwerdegegner verzichtete damals auf ein weitergehendes Besuchsrecht. Am
21. Juni 2007 klagte er auf Abänderung des Scheidungsurteils betreffend
Elternrechte und -pflichten. Der Abänderungsprozess ist in zweiter Instanz
hängig. Die Tochter I.________ hat einen Beistand und lebt seit 14. Januar 2008
in einem Internat.

B.
Streitig sind vorsorgliche Massnahmen betreffend Kinderbelange für die Dauer
des Abänderungsprozesses. Der Einzelrichter am Bezirksgericht G.________ entzog
der Beschwerdeführerin die Obhut über ihre Tochter (Ziff. 2), nahm zustimmend
Vormerk, dass sich das Kind seit 14. Januar 2008 in der Obhut des Internats
befindet (Ziff. 3), und stellte fest, dass ersatzweise, d.h. während der
Schulferien und über die Wochenenden, die Obhut bei den Grosseltern
väterlicherseits liege, wobei das Besuchsrecht der Parteien davon nicht berührt
werde (Ziff. 4). Schliesslich regelte der Einzelrichter den persönlichen
Verkehr zwischen den Eltern und ihrer Tochter an den Wochenenden und in den
Ferien (Ziff. 5 der Verfügung vom 27. Februar 2008).

C.
Auf Rekurs der Beschwerdeführerin hin änderte das Obergericht des Kantons
Zürich die Ziff. 5 der einzelrichterlichen Verfügung (Beschluss vom 27. Mai
2008), entschied dann aber auf Antrag des Prozessbeistands des Kindes und nach
dessen Anhörung, in Anbetracht des Alters von I.________ werde auf eine
Regelung des Besuchsrechts verzichtet und die Beiständin beauftragt, zwischen
I.________ und der Beschwerdeführerin zu vermitteln und den persönlichen
Kontakt zu fördern. Erneuerte und wiederholte Anträge der Beschwerdeführerin um
Abänderung bestehender bzw. um Anordnung neuer vorsorglicher Massnahmen wies
das Obergericht ab, soweit es darauf eintrat (Beschluss vom 19. Februar 2009).

D.
Die Beschwerdeführerin erhob gegen den obergerichtlichen Beschluss vom 19.
Februar 2009 Nichtigkeitsbeschwerde. Ihr Antrag auf vorsorgliche Regelung des
Besuchsrechts während der Dauer des Kassationsverfahrens wurde
zuständigkeitshalber an das Obergericht überwiesen (Präsidialverfügung vom 2.
April 2009), das auf das Begehren nicht eintrat, weil keine seit dem letzten
Entscheid eingetretene Veränderung der Verhältnisse glaubhaft gemacht worden
sei (Beschluss vom 7. April 2009). Das Kassationsgericht des Kantons Zürich
trat auf die Beschwerde nicht ein (Zirkulationsbeschluss vom 17. April 2009).

E.
Dem Bundesgericht beantragt die Beschwerdeführerin, den Beschluss des
Obergerichts vom 19. Februar 2009 aufzuheben, den Sachverhalt in einzeln
genannten Punkten zu korrigieren und die Sache zur Regelung des Besuchsrechts
an das Obergericht zurückzuweisen. Sie legt in ihren Anträgen dar, wie der
persönliche Verkehr zwischen dem Kind I.________ und seinen Eltern an den
Wochenenden und in den Ferien neu zu gestalten sei, verlangt weitere
Beweisabnahmen und ersucht um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege. Ihre
Begehren stellt sie unter Kosten- und Entschädigungsfolgen, einschliesslich
Schadenersatz und Genugtuung für erlittenen moralischen Schaden für
Kind-Mutter-Beziehung zu Lasten des Beschwerdegegners. Es sind die Akten,
hingegen keine Vernehmlassungen eingeholt worden.

Erwägungen:

1.
Angefochten ist der Beschluss des Obergerichts über vorsorgliche Massnahmen
(Obhutszuteilung und persönlicher Verkehr zwischen Eltern und Kind) für die
Dauer des Abänderungsprozesses. Der Beschluss betrifft eine nicht
vermögensrechtliche Zivilsache (Art. 72 Abs. 1 BGG). Er ist Endentscheid (Art.
90 BGG), gegen den nur die Verletzung verfassungsmässiger Rechte gerügt werden
kann (Art. 98 BGG; vgl. Urteil 5A_9/2007 vom 20. April 2007 E. 1 und E. 2.1,
in: Praxis 96/2007 Nr. 137 S. 941 ff.). Von daher gesehen kann auf die
Beschwerde eingetreten werden.

2.
Mit Bezug auf die Beschwerdefrist ergibt sich Folgendes: Die Beschwerde gegen
einen Entscheid ist innert dreissig Tagen nach der Eröffnung der vollständigen
Ausfertigung beim Bundesgericht einzureichen (Art. 100 Abs. 1 BGG). Wenn der
Entscheid eines oberen kantonalen Gerichts mit einem Rechtsmittel, das nicht
alle Rügen nach den Art. 95-98 BGG zulässt, bei einer zusätzlichen kantonalen
Gerichtsinstanz angefochten worden ist, so beginnt die Beschwerdefrist erst mit
der Eröffnung des Entscheids dieser Instanz (Art. 100 Abs. 6 BGG). Gemäss § 284
Ziff. 7 ZPO/ZH ist die Nichtigkeitsbeschwerde gegen den vorliegenden Beschluss
des Obergerichts betreffend vorsorgliche Massnahmen nicht zulässig, so dass die
Fristverlängerung gemäss Art. 100 Abs. 6 BGG nicht anwendbar ist und der
Beschluss des Obergerichts innert der Frist von dreissig Tagen direkt vor
Bundesgericht hätte angefochten werden müssen. Die Beschwerde erweist sich als
verspätet (BGE 134 III 92 E. 1 S. 93 ff.). Allerdings entspricht der
Rechtsmittelzug an das Kassationsgericht der Rechtsmittelbelehrung, welche das
Obergericht seinem Beschluss vom 19. Februar 2009 beigefügt hat. Dort wird
ausdrücklich erläutert, dass gegen diesen Entscheid innert 30 Tagen beim
Kassationsgericht Nichtigkeitsbeschwerde erhoben werden kann, was die
Beschwerdeführerin getan hat. Gemäss Art. 49 BGG dürfen den Parteien wegen
einer unrichtigen Rechtsmittelbelehrung keine Nachteile erwachsen. Dies
bedeutet zwar nicht, dass auf das nicht bestehende Rechtsmittel eingetreten
werden müsste (vgl. BGE 129 III 88 E. 2.1 Abs. 4 S. 89). Die unrichtige
Rechtsmittelbelehrung kann aber zur Folge haben, dass die Rechtsmittelfrist zu
verlängern ist und hier gemäss Art. 100 Abs. 6 BGG erst mit dem
Nichteintretensentscheid des Kassationsgerichts zu laufen beginnt. Da im
vorliegenden Fall nichts darauf hindeutet, dass die nicht durch einen Anwalt
vertretene Beschwerdeführerin die Unrichtigkeit der Rechtsmittelbelehrung
kannte oder kennen musste, ist die Beschwerde als rechtzeitig eingereicht zu
betrachten und darauf einzutreten (vgl. für Art. 49 i.V.m. Art. 100 BGG: BGE
5A_814/2008 vom 12. März 2009 E. 1.2; allgemein: BGE 134 I 199 E. 1.3.1 S.
202).

3.
In der Sache selbst erweist sich die Beschwerde als unbegründet aus folgenden
Gründen:

3.1 Streitgegenstand sind die Zuteilung der Obhut über das Kind und die
Regelung des persönlichen Verkehrs zwischen den Eltern und dem Kind für die
Dauer des Abänderungsprozesses, in dem über die elterliche Sorge und die
weiteren Kinderbelange erst noch abschliessend zu urteilen sein wird. Die
elterliche Sorge ist nicht Gegenstand des angefochtenen Beschlusses, so dass
die Ausführungen der Beschwerdeführerin gegen die Entziehung der elterlichen
Sorge (z.B. S. 11 Ziff. 5.1.1 und S. 14 Ziff. 5.2.1 der Beschwerdeschrift)
nicht zu hören sind.

3.2 Entscheidend für die Obhutszuteilung und die Regelung des persönlichen
Verkehrs sind die Aussagen des Kindes selber gewesen, das vor Obergericht
angehört wurde. Die gemeinsame Tochter der Beschwerdeparteien war damals knapp
sechzehn Jahre alt. In diesem Alter ist das Kind für die beiden Streitfragen
als urteilsfähig anzusehen und seinen Wünschen - soweit als möglich und mit dem
Kindeswohl vereinbar - zu entsprechen (vgl. BGE 122 III 401 E. 3c S. 403;
Urteile 5C.293/2005 vom 6. April 2006 E. 4.2, in: FamPra.ch 2006 S. 760, und
5P.17/2003 vom 25. Februar 2003 E. 3.2, in: FamPra.ch 2003 S. 703). In
rechtlicher Hinsicht braucht sich das Obergericht deshalb nichts vorwerfen zu
lassen, indem es die Wünsche und Äusserungen des Kindes berücksichtigt hat.
Weshalb das Obergericht das Kind nicht hätte persönlich anhören und die
Befragung an eine Drittperson hätte delegieren sollen, wie die
Beschwerdeführerin das verlangt, ist weder ersichtlich noch dargetan. Die
Anhörung des Kindes durch das Gericht und diejenige durch eine beauftragte
Drittperson stehen gemäss Art. 144 Abs. 2 ZGB auf der gleichen Stufe, wobei das
Gericht die Anhörung in der Regel selbst vornehmen und sie jedenfalls nicht
systematisch an Dritte delegieren soll (BGE 133 III 553 E. 4 S. 554).

3.3 Was die Obhutszuteilung angeht, bringt die Beschwerdeführerin gegen die
obergerichtliche Würdigung nichts Stichhaltiges vor (vorab S. 12 f. Ziff. 5.1.2
und S. 14 f. Ziff. 5.2.1 der Beschwerdeschrift). Das Obergericht hat sich mit
den von ihr erhobenen und heute erneuerten Einwänden ausführlich befasst und
namentlich die Beeinträchtigung des Kindes in der Willensbildung verneint (E.
3b S. 6 ff.). Auch auf die Bestätigungsschreiben, die die Beschwerdeführerin
eingereicht hat und heute ihrer Beschwerdeschrift wieder beilegt, ist das
Obergericht eingegangen (E. 3b S. 8 des angefochtenen Beschlusses). Inwiefern
seine Würdigung willkürlich sein könnte, ist nicht nachvollziehbar. Die Belege,
die die Beschwerdeführerin ohne nähere Begründung vor Bundesgericht offenbar
erstmals einreicht, dürfen nicht berücksichtigt werden (Art. 99 Abs. 1 BGG; BGE
133 III 393 E. 3 S. 395).

3.4 Mit Bezug auf das Besuchsrecht wirft die Beschwerdeführerin der
Schulleitung, der Beiständin des Kindes und weiteren Drittpersonen vor, sie
hätten ihre Kontaktversuche zur Tochter vereitelt und jedenfalls nicht
gefördert (S. 15 f. Ziff. 5.2.2 der Beschwerdeschrift). Sie stimmt damit der
obergerichtlichen Feststellung zu, dass das bisherige Besuchsrecht an
Wochenenden und in den Ferien nie in der vorgesehenen Art hat umgesetzt werden
können (E. 3c S. 9 des angefochtenen Beschlusses). Im Rahmen einer bloss
vorsorglichen Regelung während des Abänderungsprozesses ist nach den Gründen
für das Scheitern des persönlichen Verkehrs nicht zu forschen, so dass sich
weitere Beweisabnahmen dazu im kantonalen Verfahren erübrigt haben und die
heutigen Beweisanträge der Beschwerdeführerin gegenstandslos sind. Allfällige
Interessen der Eltern haben vor dem Kindeswohl zurückzustehen, das für die
Ausgestaltung des persönlichen Verkehrs stets als oberste Richtschnur gilt (BGE
130 III 585 E. 2.1 S. 587 f.). Wie die Beschwerdeführerin zwar zu Recht
hervorhebt, können der Vater und die Mutter gemäss Art. 273 Abs. 3 ZGB
verlangen, dass ihr Anspruch auf persönlichen Verkehr geregelt wird. Wenn nun
aber ein beinahe sechzehnjähriges urteilsfähiges Kind den klaren Wunsch
äussert, über die Regelung des persönlichen Verkehrs mitzuentscheiden, ist
darauf einzugehen und eine im Kindeswohl liegende Lösung zu suchen (E. 3.2
soeben). Dementsprechend hat das Obergericht auf eine Regelung des
Besuchsrechts verzichtet und die Beiständin beauftragt, zwischen dem Kind und
der Beschwerdeführerin zu vermitteln und den persönlichen Kontakt zu fördern.
Die Lösung ist mit Rücksicht auf sämtliche Umstände des konkreten Einzelfalls
nicht willkürlich. Eine Festsetzung bestimmter Besuchs- und Ferientage gegen
den erklärten Willen des Kindes durfte hier unter Willkürgesichtspunkten
unterbleiben (vgl. BGE 126 III 219 E. 2b S. 221/222; Urteile 5C.250/2005 vom 3.
Januar 2006 E. 3.2.1, in: FamPra.ch 2006 S. 752 f., und 5C.298/2006 vom 21.
Februar 2007 E. 2, in: FamPra.ch 2007 S. 714 ff.). Gegenteiliges vermag die
Beschwerdeführerin mit ihren Vorbringen nicht darzutun oder zu belegen (S. 16
f. Ziff. 5.2.3 der Beschwerdeschrift).

3.5 Der angefochtene Beschluss verletzt aus den dargelegten Gründen keine
verfassungsmässigen Rechte der Beschwerdeführerin und erscheint namentlich
nicht als willkürlich (Art. 9 BV; vgl. zum Begriff: BGE 134 I 140 E. 5.4 S.
148; 135 V 2 E. 1.3 S. 4).

4.
Soweit auf sie einzutreten ist, muss die Beschwerde als unbegründet abgewiesen
werden. Die für den gegenteiligen Fall gestellten Begehren, den
Beschwerdegegner zur Tragung der Kosten und zur Leistung einer Entschädigung,
einschliesslich Schadenersatz und Genugtuung zu verurteilen, werden damit
gegenstandslos. Dem Gesuch der Beschwerdeführerin um unentgeltliche
Rechtspflege kann wegen Aussichtslosigkeit der Rechtsbegehren nicht entsprochen
werden (Art. 64 Abs. 1 BGG), doch ist es auf Grund der Umstände des konkreten
Falls gerechtfertigt, auf die Erhebung von Gerichtskosten ausnahmsweise zu
verzichten (Art. 66 Abs. 1 BGG). Parteientschädigungen sind keine zuzusprechen,
da in der Sache keine Vernehmlassungen eingeholt wurden (vgl. Art. 68 Abs. 1
BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen. soweit darauf einzutreten ist.

2.
Das Gesuch der Beschwerdeführerin um unentgeltliche Rechtspflege wird
abgewiesen.

3.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, I.
Zivilkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 8. Juli 2009
Im Namen der II. zivilrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Die Präsidentin: Der Gerichtsschreiber:

Hohl von Roten