Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilrechtliche Abteilung, Beschwerde in Zivilsachen 5A.332/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
5A_332/2009

Urteil vom 31. Juli 2009
II. zivilrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Hohl, Präsidentin,
Bundesrichter L. Meyer, Marazzi,
Gerichtsschreiber Gysel.

Parteien
X.________,
Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Peter Kreis,

gegen

Y.________,
Beschwerdegegner,
vertreten durch Rechtsanwältin lic. iur. Veronica Hälg-Büchi.

Gegenstand
Eheschutzmassnahmen (Unterhaltsbeiträge),

Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts St. Gallen (Einzelrichter im
Familienrecht) vom 20. April 2009.

Sachverhalt:

A.
Y.________ und X.________ heirateten im Juni 1991 und sind die Eltern des
Sohnes A.________, geboren 1992, und der Tochter B.________, geboren 2003. Seit
dem 26. Juni 2008 leben sie getrennt.
Mit Eingabe vom 13. Oktober 2008 ersuchte Y.________ beim Kreisgericht
C.________ um Anordnung von Eheschutzmassnahmen. Anlässlich der Verhandlung vor
der Eheschutzrichterin der 2. Abteilung des Kreisgerichts vom 5. März 2009
schlossen die Ehegatten eine Vereinbarung, worin unter anderem festgelegt
wurde, dass X.________ an den Unterhalt von Y.________ monatliche Beiträge von
Fr. 200.-- bezahle (Ziff. 9). Y.________ liess die Eheschutzrichterin mit
Schreiben vom 9. März 2009 wissen, dass er mit Ziff. 9 der Vereinbarung nicht
(mehr) einverstanden sei, da er mit dem vereinbarten Betrag nicht genug für
seinen Lebensbedarf habe.
In ihrem Entscheid vom 19. März 2009 verpflichtete die Eheschutzrichterin
X.________, an den Unterhalt von Y.________ monatliche Beiträge von Fr. 525.--
zu zahlen.
Den von X.________ gegen diese Anordnung gerichteten Rekurs wies der
Einzelrichter im Familienrecht am Kantonsgericht St. Gallen am 20. April 2009
ab (Dispositiv-Ziffer 1). Er auferlegte die Gerichtskosten X.________, befreite
diese aber von der Bezahlung (Dispositiv-Ziffer 2) und entschied, dass die
Rechtsvertreterin von Y.________ wählen könne, ob sie von X.________
Anwaltskosten von Fr. 1'790.-- fordern oder als unentgeltliche
Rechtsvertreterin vom Staat eine Entschädigung von Fr. 1'445.-- beanspruchen
wolle (Dispositiv-Ziffer 4).

B.
Mit Beschwerde vom 14. Mai 2009 verlangt X.________, die Dispositiv-Ziffern 1,
2 und 4 des kantonsgerichtlichen Entscheids aufzuheben und davon abzusehen, sie
zur Leistung von Unterhaltsbeiträgen an den Beschwerdegegner zu verpflichten;
allenfalls sei die in der Vereinbarung der Parteien vom 5. März 2009 getroffene
Unterhaltsregelung zu genehmigen und zum Urteil zu erheben. Ausserdem stellt
die Beschwerdeführerin die Prozessbegehren, ihr für das bundesgerichtliche
Verfahren die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren und der Beschwerde
aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.
Der Beschwerdegegner verlangt, auf das Gesuch um aufschiebende Wirkung nicht
einzutreten, es allenfalls abzuweisen. Im Übrigen ersucht auch er um Gewährung
der unentgeltlichen Rechtspflege. Der Einzelrichter im Familienrecht hat auf
eine Vernehmlassung zum Gesuch um aufschiebende Wirkung ausdrücklich
verzichtet.
Durch Präsidialverfügung vom 2. Juni 2009 ist das Begehren, der Beschwerde
aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, abgewiesen worden.
Mit Eingabe vom 6. Juli 2009 beantragt der Beschwerdegegner, auf die Beschwerde
nicht einzutreten, sie allenfalls abzuweisen. Der Einzelrichter im
Familienrecht hat auf eine Vernehmlassung zur Beschwerde verzichtet.

Erwägungen:

1.
Die Anordnung von Massnahmen zum Schutze der ehelichen Gemeinschaft (Art. 172
ff. ZGB) ist eine Zivilsache im Sinne von Art. 72 Abs. 1 BGG. Strittig ist
vorliegend ausschliesslich die Unterhaltspflicht der Beschwerdeführerin, d.h.
eine Frage vermögensrechtlicher Natur. Voraussetzung für die Zulässigkeit der
Beschwerde in Zivilsachen in einem Fall der vorliegenden Art ist, dass der
Streitwert den Betrag von 30'000 Franken erreicht (Art. 74 Abs. 1 lit. b BGG).
Dies trifft hier angesichts der verhältnismässig geringen Höhe des im Streite
liegenden Unterhaltsbeitrags nicht ohne weiteres zu. Ob die Beschwerde in
Zivilsachen tatsächlich offen steht, oder ob die Eingabe der Beschwerdeführerin
wegen Nichterreichens des erforderlichen Streitwerts als subsidiäre
Verfassungsbeschwerde - mit entsprechender Einschränkung der Beschwerdegründe
(Art. 116 BGG) - entgegenzunehmen sei (Art. 113 BGG), braucht indessen nicht
abschliessend erörtert zu werden: Nach der Rechtsprechung gelten
Eheschutzentscheide grundsätzlich als Entscheide über vorsorgliche Massnahmen
im Sinne von Art. 98 BGG, und Umstände, die allenfalls eine abweichende
Qualifizierung zu rechtfertigen vermöchten, liegen hier nicht vor (dazu BGE 133
III 393 E. 5.1 und 5.2 S. 396 f.). Wie die Beschwerdeführerin zutreffend
bemerkt, können gegen den angefochtenen Entscheid demnach ohnehin nur Rügen der
Verletzung verfassungsmässiger Rechte erhoben werden (Art. 98 BGG).

2.
Die Beschwerdeführerin wirft dem Einzelrichter im Familienrecht in erster Linie
vor, er habe den Grundsatz der Verfahrensfairness (Art. 6 Abs. 1 EMRK)
verletzt, ihren Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) missachtet
und gegen den Grundsatz von Treu und Glauben (Art. 9 BV) verstossen, indem er
über ihren Rekurs entschieden habe, ohne ihre Stellungnahme zur Rekursantwort
des Beschwerdegegners abzuwarten.

2.1 Am 15. April 2009 ging bei der Vorinstanz die vom 14. April 2009 datierte
Antwort des Beschwerdegegners zu dem von der Beschwerdeführerin gegen den
eheschutzrichterlichen Entscheid erhobenen Rekurs ein. Der Einzelrichter im
Familienrecht stellte die Rekursantwort noch am gleichen Tag der
Beschwerdeführerin zu mit der Aufforderung, sich dazu nur dann zu äussern, wenn
das rechtliche Gehör eine Stellungnahme gebiete. Gleichzeitig wurde
ausdrücklich Art. 164 des St. Galler Zivilprozessgesetzes (ZPO) erwähnt. Der
Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin nahm die Rekursantwort am nächsten Tag,
dem 16. April 2009, in Empfang. Am 20. April 2009 fällte der Einzelrichter im
Familienrecht den angefochtenen Entscheid, den die Beschwerdeführerin am 21.
April 2009 entgegennahm.

2.2 Der Partei in einem Gerichtsverfahren steht im Sinne eines Teilgehalts des
verfassungsmässigen Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) ein
Anspruch auf Replik zu. Das bedeutet, dass die Verfahrenspartei vom Gericht
über den Empfang von Vernehmlassungen der übrigen Verfahrensbeteiligten und
weiterer Stellen zu orientieren ist und ihr ausserdem die Möglichkeit
eingeräumt werden muss, sich zu solchen Eingaben zu äussern. Ein weiterer
Schriftenwechsel ist indessen nicht unbedingt anzuordnen: Es genügt, neu
eingegangene Eingaben den Verfahrensbeteiligten zur Kenntnisnahme zuzustellen.
Wünscht einer von ihnen, sich dazu zu äussern, hat er es ohne Verzug zu tun
(BGE 133 I 98 E. 2.1 und 2.2 S. 99 f.).
Ob der Einzelrichter im Familienrecht aus der Sicht der dargelegten
Rechtsprechung seinen Entscheid bereits fünf Tage nach dem Versand der
Rekursantwort an die Beschwerdeführerin hat fällen dürfen, braucht nicht
erörtert zu werden, zumal hier besondere Verhältnisse vorlagen: Die
Beschwerdeführerin wurde im Hinblick auf eine allfällige Stellungnahme zur
Rekursantwort ausdrücklich auf Art. 164 ZPO hingewiesen. Nach Art. 164 Abs. 1
ZPO ist eine nachträgliche Eingabe zulässig, wenn sie erhebliche
Tatsachenbehauptungen oder Beweisanträge enthält, die trotz zumutbarer Sorgfalt
nicht früher vorgebracht werden konnten (lit. a) bzw. wenn das rechtliche Gehör
es erfordert (lit. b). Art. 164 Abs. 2 ZPO bestimmt, dass ein Gesuch um
Zulassung innert zehn Tagen, nachdem der Gesuchsteller vom Grund Kenntnis
erhalten hat, einzureichen ist. Die angeführten Bestimmungen gelten auch im
Rechtsmittelverfahren (CHRISTOPH LEUENBERGER/BEATRICE UFFER-TOBLER, Kommentar
zur Zivilprozessordnung des Kantons St. Gallen, Bern 1999, N. 4 zu Art. 164).

2.3 Der Beschwerdeführerin ist - ungeachtet einer allfälligen Praxis in
Rekursfällen, wie sie vom Beschwerdegegner geltend gemacht wird - darin
beizupflichten, dass sie aufgrund der Erwähnung der Möglichkeit, sich vernehmen
zu lassen, und des Hinweises auf Art. 164 ZPO in guten Treuen davon ausgehen
durfte, sie verfüge über zehn Tage ab Zustellung der Rekursantwort an sie, um
eine Stellungnahme einzureichen, und der Einzelrichter im Familienrecht werde
mit seinem Entscheid gegebenenfalls bis zum Ende dieser Frist zuwarten. Der
ohne ersichtlichen Grund früher gefällte Entscheid verstösst in willkürlicher
Weise gegen Art. 164 ZPO und gegen das Gebot von Treu und Glauben (Art. 9 BV)
und kommt im Ergebnis auch einer Missachtung des Anspruchs der
Beschwerdeführerin auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) gleich.

3.
Nach dem Dargelegten ist die Beschwerde gutzuheissen, ohne dass die ebenfalls
in der Sache selbst erhobenen Rügen zu prüfen wären, und der angefochtene
Entscheid aufzuheben. Der Einzelrichter im Familienrecht wird der
Beschwerdeführerin (nochmals) Gelegenheit zur Einreichung einer Stellungnahme
zur Rekursantwort einzuräumen und alsdann neu zu entscheiden haben.

4.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens ist der Beschwerdegegner an sich kosten- und
entschädigungspflichtig (Art. 66 Abs. 1 und Art. 68 Abs. 1 BGG), wodurch das
Gesuch der Beschwerdeführerin um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege
bezüglich der Gerichtskosten gegenstandslos wird. Sowohl bei der
Beschwerdeführerin als auch beim ebenfalls um unentgeltliche Rechtspflege
nachsuchenden Beschwerdegegner ist die nach Art. 64 Abs. 1 BGG geforderte
Bedürftigkeit gegeben. Der Anspruch auf Gewährung des Armenrechts ist auch
sonst bei beiden zu bejahen, zumal der Beschwerdegegner sich der Beschwerde in
guten Treuen hat widersetzen dürfen. Gerichtskosten sind deshalb keine zu
erheben. Da eine Parteientschädigung angesichts der prekären wirtschaftlichen
Verhältnisse des Beschwerdegegners als von vornherein uneinbringlich betrachtet
werden muss, ist auch der Anwalt der Beschwerdeführerin sogleich aus der
Bundesgerichtskasse zu entschädigen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
In Gutheissung der Beschwerde wird der Entscheid des Kantonsgerichts St. Gallen
(Einzelrichter im Familienrecht) vom 20. April 2009 aufgehoben und die Sache zu
neuem Entscheid im Sinne der Erwägungen an die kantonale Instanz
zurückgewiesen.

2.
2.1 Dem Gesuch der Beschwerdeführerin um Gewährung der unentgeltlichen
Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren wird entsprochen, soweit es
nicht gegenstandslos geworden ist, und der Beschwerdeführerin wird in der
Person von Rechtsanwalt Dr. Peter Kreis, ein unentgeltlicher Rechtsbeistand
beigegeben.

2.2 Dem Gesuch des Beschwerdegegners um Gewährung der unentgeltlichen
Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren wird entsprochen, und dem
Beschwerdegegner wird in der Person von Rechtsanwältin lic. iur. Veronica
Hälg-Büchi, eine unentgeltliche Rechtsbeiständin beigegeben.

3.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

4.
4.1 Rechtsanwalt Dr. Peter Kreis wird aus der Bundesgerichtskasse eine
Entschädigung von Fr. 1'500.-- ausgerichtet.

4.2 Rechtsanwältin lic. iur. Veronica Hälg-Büchi wird aus der
Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 1'000.-- ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht St. Gallen
(Einzelrichter im Familienrecht) schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 31. Juli 2009
Im Namen der II. zivilrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Die Präsidentin: Der Gerichtsschreiber:

Hohl Gysel