Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilrechtliche Abteilung, Beschwerde in Zivilsachen 5A.291/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
5A_291/2009

Urteil vom 28. August 2009
II. zivilrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterinnen Hohl, Präsidentin, Escher,
Bundesrichter L. Meyer, Marazzi, von Werdt,
Gerichtsschreiber Möckli.

Parteien
Gemeinde A.________,
vertreten durch das Sozialamt der Stadt A.________, Rechtsdienst,
Beschwerdeführerin,

gegen

X.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Jürg Stahel,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Verwandtenunterstützung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts St. Gallen, II. Zivilkammer,
vom 25. März 2009.

Sachverhalt:

A.
Z.________, geboren 1978, ist der Sohn von X.________. Er bezog in der Zeit vom
1. Juli 2006 bis 30. Juni 2007 Sozialhilfe vom Sozialamt der Stadt A.________.
Im August 2006 war er in der psychiatrischen Klinik B.________ auf der Entzugs-
und Therapiestation für Drogenabhängige. Im Dezember 2006 trat er auf
ärztlichen Rat für eine Entwöhnungstherapie in das Haus C.________ ein. Die
Kosten dieser Therapie wurden von der Krankenkasse nicht übernommen und vom
Sozialamt bezahlt.

B.
Im März 2007 forderte das Sozialamt den Vater auf, zur Abklärung der
Verwandtenunterstützungspflicht einen Fragebogen betreffend Einkommens- und
Vermögensverhältnisse auszufüllen. Nachdem keine einvernehmliche Regelung
erzielt werden konnte, reichte das Sozialamt im Juni 2007 Klage beim
Kreisgericht St. Gallen ein und verlangte von X.________ die Bezahlung der
Unterstützungskosten für seinen Sohn in der Höhe von Fr. 35'410.90.

Das Kreisgericht hiess die Klage am 15. September 2008 gut, das Kantonsgericht
St. Gallen wies sie am 25. März 2009 ab.

C.
Gegen den Entscheid des Kantonsgerichts hat die Stadt A.________ am 27. April
2009 eine Beschwerde in Zivilsachen eingereicht mit den Begehren um dessen
Aufhebung und Gutheissung der Klage, eventualiter um Rückweisung der Sache zur
Neubeurteilung an das Kantonsgericht. Der Vater verlangt mit Vernehmlassung vom
2. Juni 2009 die Beschwerdeabweisung, das Kantonsgericht hat auf eine
Vernehmlassung verzichtet.
Erwägungen:

1.
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Endentscheid in einer
Zivilsache mit Fr. 30'000.-- übersteigendem Streitwert; die Beschwerde in
Zivilsachen ist somit gegeben (Art. 72 Abs. 2, Art. 74 Abs. 1 lit. b, Art. 75
Abs. 1, Art. 90 BGG).

Die Rechtsanwendung überprüft das Bundesgericht grundsätzlich mit freier
Kognition (Art. 106 Abs. 1 BGG). Für die Verwandtenunterstützung gilt es
freilich zu beachten, dass der Richter bei der Auslegung bzw. Anwendung der in
Art. 328 Abs. 1 ZGB enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffe auf sein Ermessen
verwiesen ist (Art. 4 ZGB) und das Bundesgericht bei der Überprüfung solcher
Entscheide eine gewisse Zurückhaltung übt (BGE 129 III 380 E. 2 S. 382; 131 III
12 E. 4.2 S. 15; 132 III 97 E. 1 S. 99).

2.
Das Kreisgericht hatte "günstige Verhältnisse" im Sinn von Art. 328 Abs. 1 ZGB
bejaht. Es erwog, trotz hoher Unterhaltszahlungen von rund Fr. 80'000.-- an die
Ehefrau hätte das Vermögen des Beschwerdegegners in den letzten Jahren
tendenziell noch zugenommen (Fr. 1'765'000.-- im Jahr 2003, Fr. 1'839'000.-- im
Jahr 2004, Fr. 2'028'000.-- im Jahr 2005); sodann bewohne er in der Schweiz und
in Griechenland eigene Liegenschaften, die Unterhalt verursachten. Dies lasse
darauf schliessen, dass er von Einnahmen leben könne, die nicht alle bekannt
seien. Ohnehin sei er vermögend und lebe in günstigen Verhältnissen; auch die
Altersvorsorge sei auf längere Zeit gesichert.
Demgegenüber hat das Kantonsgericht befunden, es könne nicht von günstigen
Verhältnissen ausgegangen werden. Gemäss den Steuerrechnungen 2003 bis 2005 und
der Steuererklärung 2006 erziele der Beschwerdegegner einen Wertschriften- und
Liegenschaftsertrag von rund Fr. 150'000.-- pro Jahr; nach Abzug der
Schuldzinsen von Fr. 95'000.-- und der Unterhaltsbeiträge an die abgeschiedene
Ehefrau von rund Fr. 80'000.-- resultiere ein Minuseinkommen. Nach den
SKOS-Richtlinien komme eine Unterstützungspflicht aber erst in Frage, wenn der
verheiratete Pflichtige ein steuerbares Einkommen von über Fr. 180'000.-- pro
Jahr erziele. Ausgehend von einem Vermögen von Fr. 1'840'000.-- wäre gemäss den
SKOS-Richtlinien zwar ein Vermögensverzehr von Fr. 45'000.-- pro Jahr zumutbar
(1/30 des um den Freibetrag von Fr. 500'000.-- verminderten Vermögens), aber
dieser liege weit unterhalb der relevanten Einkommensschwelle.

3.
Wie bereits im kantonalen Verfahren (Klage S. 3; Berufungsantwort S. 3) bringt
die Beschwerdeführerin auch vor Bundesgericht wiederum vor, gemäss
Schlussrechnung für das Steuerjahr 2001 habe der Beschwerdegegner ein Vermögen
von Fr. 5'932'000.-- versteuert und gemäss Scheidungsurteil vom 18. Februar
2002 habe er ein solches von Fr. 6'300'000.-- besessen. Gestützt auf diese
Zahlen habe sie die Klage eingereicht und ursprünglich hätte der
Beschwerdegegner seine Zahlungsfähigkeit auch gar nicht bestritten, sondern
andere Gründe vorgebracht (Unbilligkeit wegen fehlenden Kontaktes mit dem
Sohn). Die markante Vermögensverminderung gemäss den späteren Steuererklärungen
lasse sich nicht allein mit der Scheidung erklären. Im Übrigen könne es sich
der gesunde und erst 59-jährige Beschwerdeführer leisten, seit mehreren Jahren
auf eine Erwerbsarbeit zu verzichten und mehrere Monate pro Jahr in seinem Haus
in Griechenland zu verbringen. Seine finanzielle Gesamtsituation erlaube es
ihm, ein wohlhabendes Leben zu führen, und er könne dieses Leben auch nach
Bezahlung der eingeklagten einmaligen Summe für die seitens der Gemeinde
vorfinanzierten Kosten weiterführen.

Der Beschwerdegegner macht geltend, das Kantonsgericht habe seine Situation
gestützt auf die Steuerrechnungen 2003 bis 2005 und die Steuererklärung 2006
korrekt beurteilt. Die Steuerrechnung 2001 sei irrelevant, weil die
Unterstützungsleistungen später erfolgt seien. Sein Vermögen im Ausland sei
berücksichtigt worden und es sei kein Platz für Spekulationen.

4.
Wer in günstigen Verhältnissen lebt, ist verpflichtet, Verwandte in auf- und
absteigender Linie zu unterstützen, die ohne diesen Beistand in Not geraten
würden (Art. 328 Abs. 1 ZGB).

Nach der Rechtsprechung befindet sich in einer Notlage im Sinne dieser
Bestimmung, wer sich das zum Lebensunterhalt Notwendige nicht mehr aus eigener
Kraft verschaffen kann (BGE 121 III 441 E. 3 S. 442). Der
Unterstützungsanspruch geht in der Regel auf die Verschaffung von Nahrung,
Kleidung, Wohnung sowie ärztlicher Betreuung und Heilmitteln bei Krankheit (BGE
106 II 287 E. 3a S. 292; 132 III 97 E. 2.2 S. 100), aber auch auf Beschaffung
der Mittel, welche zur Deckung der Kosten für Aufenthalt und Behandlung
Suchtabhängiger in einer Anstalt nötig sind. In diesem Zusammenhang liegt eine
Notlage im Sinn des Gesetzes vor, wenn kein dem Behandlungsbedürfnis des
Suchtkranken entsprechendes und anerkanntes Angebot an Behandlungsanstalten
besteht, dessen Kosten vom obligatorischen Krankenversicherer getragen werden;
ebenso dürfte sie zu bejahen sein, wenn zwar eine solche Einrichtung besteht,
die entsprechenden Kosten aber vom obligatorischen Krankenversicherer, etwa
aufgrund eines Selbstbehalts des Versicherten, nicht voll übernommen werden
(BGE 133 III 507 E. 5.1 S. 509).

In günstigen Verhältnissen im Sinn von Art. 328 Abs. 1 ZGB lebt, wer nebst den
notwendigen Auslagen (wie Miet-/Hypothekarzins, Wohnnebenkosten,
Krankenkassenprämien, Steuern, notwendige Berufsauslagen, Vorsorge- und
eventuelle Pflegefallkosten) auch diejenigen Ausgaben tätigen kann, die weder
notwendig noch nützlich zu sein brauchen, zur Führung eines gehobenen
Lebensstils jedoch anfallen (wie Ausgaben in den Bereichen Reisen, Ferien,
Kosmetik, Pflege, Mobilität, Gastronomie, Kultur etc; in diesem Sinne schon BGE
82 II 197 E. 2 S. 199), d.h. wer aufgrund seiner finanziellen Gesamtsituation
ein wohlhabendes Leben führen kann (Urteil 5C.186/2006, E. 3.2.3). Massgeblich
für die Beurteilung dieser Gesamtsituation ist nicht nur das Einkommen, sondern
auch das Vermögen. Ein Anspruch auf dessen ungeschmälerte Erhaltung besteht nur
dann, wenn die Unterstützung das eigene Auskommen des Pflichtigen schon in
naher Zukunft gefährdet (BGE 132 III 97 E. 3.2 S. 105 f.). Zu berücksichtigen
sind ferner auch die verwandtschaftlichen Beziehungen (Urteil 5C.186/2006, E.
3.2.3). Insgesamt sind alle sachlich wesentlichen Umstände des konkreten
Einzelfalls zu berücksichtigen und eine den besonderen Verhältnissen angepasste
Lösung zu finden (BGE 132 III 97 E. 1 S. 99).

5.
Was das Element der verwandtschaftlichen Nähe anbelangt, so geht es im
vorliegenden Fall um die Unterstützung eines erwachsenen Kindes, mithin um ein
Familienmitglied ersten Grades in absteigender Linie.

Zentraler ist im vorliegenden Einzelfall jedoch, dass es - anders als in den
meisten Fällen, welche das Bundesgericht in der letzten Zeit zu beurteilen
hatte - nicht um dauerhafte Unterstützungsleistungen, wie sie insbesondere bei
der Altersunterstützung im Zusammenhang mit einer Langzeitpflege typisch sind,
sondern im Wesentlichen um die einmaligen Kosten für eine Entwöhnungstherapie
geht.
In dieser konkreten Situation ist es keine den besonderen Verhältnissen und der
finanziellen Gesamtsituation angepasste Lösung, wenn für eine einmalige
Unterstützungsleistung das Vermögen in Anwendung der SKOS-Richtlinien auf ein
Dauereinkommen umgerechnet wird. Dass die gewählte Vorgehensweise für die
einmalige Unterstützungsleistung unsachgemäss ist, zeigt sich insbesondere im
Umstand, dass das auf der Basis des um die verlangte Unterstützung verminderten
Vermögens berechnete Einkommen praktisch unverändert bliebe und sich insofern
nicht sagen lässt, zufolge der Unterstützung könne sich der Beschwerdeführer
seine angestammte Lebensführung nicht mehr leisten.

Wie es sich bei dauerhafter Unterstützung, aber auch bei wiederholt anfallenden
Einzelleistungen - namentlich bei immer wieder anfallenden Therapien des
Sohnes, wenn das bevorschussende Gemeinwesen hierfür stets von neuem die
Verwandtenunterstützungspflicht in Anspruch nehmen würde - verhielte, braucht
vorliegend nicht diskutiert zu werden. Jedenfalls stellt der gewählte
Berechnungsmodus für den konkret zu beurteilenden Einzelfall keine angepasste
Lösung im Sinn der zitierten Rechtsprechung dar.

Bereits angesichts des kantonal festgestellten Sachverhaltes liegt unabhängig
von der Frage, ob das effektive Vermögen Fr. 2 Mio. oder Fr. 6 Mio. beträgt,
auf der Hand, dass der Beschwerdegegner ein weit überdurchschnittliches Leben
führen kann, scheint er doch je in einem Eigenheim zwei permanente Wohnsitze in
der Schweiz und in Griechenland zu haben, ohne dass dies zu einer
Vermögensverminderung führen würde. Indes hat das Kantonsgericht, indem es
einfach das Vermögen auf ein Dauereinkommen umgerechnet hat, unbekümmert um die
für die Verwandtenunterstützungspflicht geltende Untersuchungsmaxime (Art. 329
Abs. 3 i.V.m. Art. 280 Abs. 2 ZGB) keine näheren Sachverhaltsfeststellungen
getroffen, ob dem Beschwerdegegner aufgrund seiner finanziellen Gesamtsituation
ein wohlhabendes Leben möglich ist und ob diese Lebensführung mit der Zahlung
des einmaligen Betrages von Fr. 35'410.90 beeinträchtigt wäre. Zumal ohnehin
weitere Anspruchsvoraussetzungen zu prüfen sind, welche das Kantonsgericht
ausdrücklich offen gelassen und zu denen es insbesondere auch keine
Sachverhaltsfeststellungen getroffen hat (namentlich Unbilligkeitsgründe), ist
die Sache deshalb zur Sachverhaltsergänzung und neuen Entscheidung im Sinn der
Erwägungen an die Vorinstanz zurückzuweisen.

6.
Der materielle Ausgang des Verfahrens ist zufolge Rückweisung offen; bei dieser
Sachlage sind die Gerichtskosten praxisgemäss zu halbieren und die Parteikosten
wettzuschlagen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
In Gutheissung des Eventualbegehrens wird der Entscheid des Kantonsgerichts St.
Gallen vom 25. März 2009 aufgehoben und die Sache zur Sachverhaltsergänzung und
neuen Entscheidung im Sinn der Erwägungen an das Kantonsgericht zurückgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 3'000.-- werden den Parteien je zur Hälfte
auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht St. Gallen, II.
Zivilkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 28. August 2009
Im Namen der II. zivilrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Die Präsidentin: Der Gerichtsschreiber:

Hohl Möckli