Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilrechtliche Abteilung, Beschwerde in Zivilsachen 5A.195/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
5A_195/2009

Urteil vom 15. Oktober 2009
II. zivilrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Hohl, Präsidentin,
Bundesrichterin Escher,
Bundesrichter Meyer, Marazzi, von Werdt,
Gerichtsschreiber Möckli.

Parteien
X.________,
Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwältin Therese Buchegger,

gegen

Y.________,
Beschwerdegegner,
vertreten durch Fürsprecherin Armida Bianchi Lerch.

Gegenstand
Ehescheidung,

Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau, Zivilgericht,
1. Kammer, vom 23. Februar 2009.

Sachverhalt:

A.
X.________ (geb. März 1964) und Y.________ (geb. April 1960), heirateten im
Frühling 1984. Aus der Ehe gingen die gemeinsamen Kinder A.________ (1985),
B.________ (1987), C.________ (1988) und D.________ (1988) hervor. Seit Mitte
1999 leben die Parteien getrennt.
Die vier gemeinsamen Kinder sind inzwischen selbständig. Die Ehefrau hat jedoch
noch die Tochter E.________ (2001) aus einer anderen Beziehung zu betreuen.

B.
Mit Urteil vom 18. Oktober 2007 schied das Bezirksgericht F.________ die Ehe
zwischen den Parteien auf gemeinsames Begehren. Insbesondere mit Bezug auf den
nachehelichen Unterhalt konnten sich die Parteien nicht mit Vergleich einigen.
Ausgehend von einem Einkommen des Ehemannes von Fr. 8'086.-- und einem
hypothetischen Einkommen der Ehefrau von Fr. 3'000.-- sowie von Existenzminima
des Mannes von Fr. 3'792.-- und der Frau von Fr. 3'113.-- sprach ihr das
Bezirksgericht nachehelichen Unterhalt von Fr. 1'500.-- bis März 2017 zu.
In seinem Urteil vom 23. Februar 2009 ging das Obergericht des Kantons Aargau
von relevanten Gesamteinkünften der Familie von Fr. 7'600.-- und einem
hypothetischen Einkommen der Ehefrau von Fr. 3'400.-- aus. Es berechnete ihr
Existenzminimum mit Fr. 2'908.-- und setzte ihren gebührenden Unterhalt auf Fr.
3'418.-- fest. Anschliessend erwog es, sie vermöge diesen aus eigener Kraft zu
decken, weshalb kein nachehelicher Unterhalt geschuldet sei.

C.
Gegen dieses Urteil hat die Ehefrau am 23. März 2009 eine Beschwerde in
Zivilsachen eingereicht mit den Begehren um dessen Aufhebung und um Bestätigung
des erstinstanzlichen Urteils (gemeint: um Verurteilung des Beschwerdegegners,
ihr bis März 2017 monatliche Unterhaltsbeiträge von Fr. 1'500.-- zu bezahlen),
eventualiter um Rückweisung der Sache zur neuen Entscheidung. In seiner
Vernehmlassung verlangt der Beschwerdegegner die Abweisung der Beschwerde,
soweit darauf einzutreten sei. Sodann ersuchen beide Parteien um Gewährung der
unentgeltlichen Rechtspflege.

Erwägungen:

1.
Angefochten sind die Fr. 30'000.-- übersteigenden vermögensrechtlichen Folgen
eines kantonal letztinstanzlichen Ehescheidungsurteils; auf die Beschwerde ist
somit einzutreten (Art. 72 Abs. 1, Art. 74 Abs. 1 lit. b, Art. 75 Abs. 1 und
Art. 90 BGG).
Das Bundesgericht wendet das Recht im Rahmen behaupteter und begründeter
Verletzungen (Art. 42 Abs. 2 BGG) von Amtes wegen und mit freier Kognition an
(Art. 106 Abs. 1 BGG). Hingegen ist es grundsätzlich an die kantonalen
Sachverhaltsfeststellungen gebunden (Art. 105 Abs. 1 BGG). Diesbezüglich kann
einzig vorgebracht werden, der Sachverhalt sei offensichtlich unrichtig
festgestellt worden (Art. 97 Abs. 1 BGG), und hierfür gilt das strenge
Rügeprinzip (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 133 II 249 E. 1.4.2 S. 254). Das
bedeutet, dass das Bundesgericht nur klar und detailliert erhobene und soweit
möglich belegte Rügen prüft, während es auf ungenügend begründete Rügen und
rein appellatorische Kritik am angefochtenen Entscheid nicht eintritt (BGE 130
I 258 E. 1.3 S. 262). Wird die Verletzung des Willkürverbots gerügt, reicht es
sodann nicht aus, die Situation aus eigener Sicht zu schildern und den davon
abweichenden angefochtenen Entscheid als willkürlich zu bezeichnen; vielmehr
ist im Einzelnen darzulegen, inwiefern das kantonale Gericht willkürlich
entschieden haben soll und der angefochtene Entscheid deshalb an einem
qualifizierten und offensichtlichen Mangel leidet (BGE 134 II 244 E. 2.2 S.
246).

2.
Kritisiert wird in erster Linie die Sachverhaltsfeststellung. Die Beschwerde
erschöpft sich indes, soweit die Vorbringen nicht ohnehin neu und damit
unzulässig sind (Art. 99 Abs. 1 BGG), weitgehend in stets wechselnden
Einkommenszusammenstellungen für die Zeit während des ehelichen Zusammenlebens,
ohne dass dabei konkret auf die Feststellungen im angefochtenen Entscheid Bezug
genommen wird. Mit einer solchen Schilderung der Situation aus eigener Sicht
ist keine Willkür darzutun.
Dazu kommt, dass für die Bestimmung der Leistungsfähigkeit des
Beschwerdegegners ohnehin nicht die damalige, sondern die aktuelle
Einkommenssituation massgeblich ist. Die Einkommensverhältnisse zur Zeit des
ehelichen Zusammenlebens haben einzig für die Bestimmung des gebührenden
Unterhaltes der Beschwerdeführerin eine Bedeutung. Inwiefern das Obergericht in
Willkür verfallen wäre, indem es diesen auf Fr. 3'400.-- pro Monat festgesetzt
hat, zeigt die Beschwerdeführerin aber nicht in einer für Willkürrügen
erforderlichen bzw. dem Rügeprinzip von Art. 106 Abs. 2 BGG genügenden Weise
auf, müsste sie doch im Einzelnen dartun, dass es ihr mit diesem Betrag nicht
möglich ist, den während des ehelichen Zusammenlebens gepflegten Standard
aufrecht zu erhalten.
Nach dem Gesagten ist mangels substanziierter Rügen willkürfrei und damit für
das Bundesgericht verbindlich festgestellt, dass der gebührende Unterhalt der
Beschwerdeführerin Fr. 3'400.-- beträgt (Art. 105 Abs. 1 BGG).

3.
Es bleibt zu prüfen, ob die Beschwerdeführerin diesen Unterhalt aus eigener
Kraft decken kann oder ob sie auf einen Unterhaltsbeitrag angewiesen ist (sog.
Eigenversorgungskapazität). Sie macht einerseits geltend, es sei ihr nicht
möglich, im kaufmännischen Bereich tätig zu werden; andererseits anerkennt sie
aber im Grundsatz eine 100%ige Erwerbsfähigkeit und ein hypothetisches
Einkommen von Fr. 3'000.--.
Was die Annahme eines hypothetischen Einkommens anbelangt, ist die effektive
Erzielbarkeit (angesichts des Alters, der Gesundheit, der Ausbildung und
persönlichen Fähigkeiten, der Arbeitsmarktlage, etc.) eine Tatfrage, hingegen
eine Rechtsfrage, ob die Erzielung ausgehend von den getroffenen
Tatsachenfeststellungen als zumutbar erscheint (vgl. BGE 126 III 10 E. 2b S. 13
oben; 128 III 4 E. 4c/bb und cc S. 7).
In objektiver Hinsicht lässt sich dem angefochtenen Entscheid entnehmen, dass
die Beschwerdeführerin gesund ist, dass sie im Zeitpunkt der Trennung, ab
welchem sie sich grundsätzlich mit dem beruflichen Wiedereinstieg beschäftigen
musste (BGE 128 III 65 E. 4a S. 67 unten; 130 III 537 E. 3.2 S. 542), 35 Jahre
alt war und dass zu diesem Zeitpunkt die jüngsten gemeinsamen Kinder bereits
über 10 Jahre alt waren, so dass ein Teilzeiterwerb grundsätzlich zumutbar war
(BGE 115 II 6 E. 3c S. 10). Die Beschwerdeführerin verfügt zwar über wenig
einschlägige Berufserfahrung, aber mit dem KV über eine abgeschlossene Lehre,
die ein äusserst breites Spektrum an Tätigkeiten eröffnet.
Vor diesem Hintergrund geht die Beschwerde nicht über appellatorische
Ausführungen hinaus, wenn behauptet wird, angesichts des Alters und der
fehlenden Berufserfahrung sei der berufliche Einstieg im kaufmännischen Bereich
bislang nicht geglückt. Damit ist weder mit Bezug auf die tatsächliche
Möglichkeit einer Tätigkeit im kaufmännischen Bereich Willkür dargetan, noch in
rechtlicher Hinsicht die Unzumutbarkeit einer solchen Tätigkeit begründet,
zumal die Beschwerdeführerin die obergerichtliche Erwägung, das Kind E.________
müsse gänzlich ausser Betracht bleiben, nicht beanstandet.
Im Jahr 2004 wurden die jüngsten gemeinsamen Kinder 16-jährig und inzwischen
sind alle gemeinsamen Kinder selbstständig, womit grundsätzlich von einer
100%igen Erwerbsfähigkeit auszugehen ist. Dass eine (willkürfrei festgestellte)
kaufmännische Tätigkeit ein Einkommen von Fr. 3'400.-- erlaubt, stellt die
Beschwerdeführerin nicht in Frage; mit Bezug auf die Höhe des hypothetischen
Einkommens werden somit keine Willkürrügen erhoben, weshalb sich weitere
Erwägungen hierzu erübrigen.

4.
Zusammenfassend ergibt sich, dass die Beschwerde abzuweisen ist, soweit auf sie
eingetreten werden kann.
Beide Parteien stellen ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege. Bei der
Beschwerdeführerin ist die prozessuale Bedürftigkeit offensichtlich; die
konkret vorgebrachten Rügen bewegen sich aber an der Grenze zur
Aussichtslosigkeit, jedoch ohne diese zu überschreiten, weshalb die
unentgeltliche Rechtspflege gerade noch erteilt werden kann und die
Beschwerdeführerin durch Rechtsanwältin Therese Buchegger zu verbeiständen ist.
Nicht von der unentgeltlichen Rechtspflege erfasst wird die
Entschädigungspflicht gegenüber dem obsiegenden Beschwerdegegner. Angesichts
der zweifelhaften Einbringlichkeit der Entschädigung fragt sich, ob dessen
Gesuch gegenstandslos wird. Indes ist es ohnehin abzuweisen: Der Ehemann war im
bundesgerichtlichen Verfahren zwar einlassungspflichtig; er verfügt aber über
ein geregeltes Erwerbseinkommen, weshalb das Gesuch im Einzelnen zu begründen
wäre. Hierzu ist der nicht näher spezifizierte Verweis auf die kantonalen Akten
untauglich; die Begründung der Anträge muss in der an das Bundesgericht
gerichteten Eingabe selbst enthalten sein (BGE 116 II 92 E. 2 S. 93 f.; 126 III
198 E. 1d S. 201), was verstärkt für ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege
gilt, weil das bundesgerichtliche Verfahren nicht eine Fortsetzung des
kantonalen ist und überdies auch der Kostenträger ändert.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde in Zivilsachen wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege erteilt, unter
Beigabe von Rechtsanwältin Therese Buchegger. Das Gesuch des Beschwerdegegners
um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen, soweit es nicht gegenstandslos
ist.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt,
jedoch einstweilen auf die Gerichtskasse genommen.

4.
Rechtsanwältin Therese Buchegger wird für das bundesgerichtliche Verfahren mit
Fr. 2'000.-- entschädigt.

5.
Die Beschwerdeführerin hat den Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen.

6.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau,
Zivilgericht, 1. Kammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 15. Oktober 2009
Im Namen der II. zivilrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Die Präsidentin: Der Gerichtsschreiber:

Hohl Möckli