Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Zivilrechtliche Abteilung, Beschwerde in Zivilsachen 4A.386/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
4A_386/2009

Urteil vom 21. Oktober 2009
I. zivilrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Klett, Präsidentin,
Bundesrichter Corboz,
Bundesrichterin Kiss,
Gerichtsschreiber Leemann.

Parteien
X.________ AG,
Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwältin Brigitte Bitterli,

gegen

Y.________,
Beschwerdegegner,
vertreten durch Fürsprecher Markus Jordi.

Gegenstand
Zuständigkeit nach Art. 5 LugÜ,

Beschwerde gegen das Urteil des Handelsgerichts des Kantons Aargau, 2. Kammer,
vom 23. Juni 2009.
Sachverhalt:

A.
A.a Die X.________ AG mit Sitz in D.________/AG (Beschwerdeführerin) bezweckt
den Handel von Kosmetika, Körperpflegemitteln, Wasch- und Reinigungsmitteln.
Sie stellt unter anderem Kosmetika unter der Marke A.________ her.
Y.________, (Beschwerdegegner) ist eine italienische Handelsagentur in der
juristischen Form einer Einzelfirma. Er vermittelt unter anderem den Verkauf
von kosmetischen Produkten.
A.b Am 1. September 2005 schlossen die Parteien einen als "Contratto di
Agenzia" bezeichneten Vertrag, in dem sich der Beschwerdegegner verpflichtete,
die kosmetische Produktelinie A.________ in Italien einzuführen und Verkäufe zu
vermitteln. Die Parteien vereinbarten eine feste Vertragsdauer bis zum 31.
August 2008, die sich auf unbestimmte Zeit verlängert, falls keine Partei
schriftlich kündigt. Die Vereinbarung enthält zudem eine Rechtswahl, die den
Vertrag dem italienischen Recht unterstellt.
A.c Im Jahr 2006 kündigte die Beschwerdeführerin den Vertrag schon frühzeitig
per 31. August 2008. Der Beschwerdegegner forderte mit Rechnung vom 25. Februar
2007 einen Betrag von EUR 58'738.14, indem er den durchschnittlich erzielten
Umsatz der ersten Monate hochrechnete. Die Beschwerdeführerin verweigerte die
Bezahlung der Provision mit Schreiben vom 28. März 2007, worauf der
Beschwerdegegner am 27. August 2008 nochmals die gleiche Rechnung stellte, die
unter Berücksichtigung von Verzugszinsen auf EUR 64'583.59 lautete.

B.
In der Folge klagte die Beschwerdeführerin beim Handelsgericht des Kantons
Aargau gegen den Beschwerdegegner auf Zahlung von Fr. 6'825.50. Im Weiteren
beantragte sie, es sei festzustellen, dass dem Beschwerdegegner ihr gegenüber
keine Forderung über EUR 64'583.59 zustehe. Zur Begründung führte sie im
Wesentlichen aus, ihr sei ein Schaden in Form von unnötigen Anwaltskosten
entstanden. Ausserdem habe sie den Vertrag korrekt auf den vereinbarten Termin
gekündigt, weshalb sie dem Beschwerdegegner nichts schulde.
Das Handelsgericht des Kantons Aargau trat auf die Klage der Beschwerdeführerin
mit Urteil vom 23. Juni 2009 nicht ein. Es erwog, dass es für die beiden
Rechtsbegehren der Beschwerdeführerin an einem Gerichtsstand im Sinne von Art.
5 Ziff. 1 des Lugano-Übereinkommens vom 16. September 1988 über die
gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen
in Zivil- und Handelssachen (LugÜ; SR 0.275.11) in der Schweiz fehle.

C.
Mit Beschwerde in Zivilsachen beantragt die Beschwerdeführerin dem
Bundesgericht, es sei das Urteil des Handelsgerichts des Kantons Aargau vom 23.
Juni 2009 aufzuheben und das Handelsgericht als örtlich zuständig zu erklären.
Der Beschwerdegegner schliesst auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf
einzutreten sei. Die Vorinstanz hat auf eine Vernehmlassung verzichtet.

Erwägungen:

1.
1.1 Mit der Gutheissung der Unzuständigkeitseinrede des Beschwerdegegners hat
die Vorinstanz, ein Fachgericht für handelsrechtliche Streitigkeiten, als
einzige kantonale Instanz (Art. 75 Abs. 2 lit. b BGG) einen Endentscheid
gefällt (Art. 90 BGG). Hiergegen ist in der vorliegenden zivilrechtlichen
Vermögensstreitigkeit (Art. 72 Abs. 1 BGG) mit einem Fr. 30'000.--
übersteigenden Streitwert (Art. 74 Abs. 1 lit. b BGG) die Beschwerde in
Zivilsachen gegeben.

1.2 Nach Art. 42 Abs. 2 BGG ist in der Beschwerdeschrift in gedrängter Form
darzulegen, inwiefern der angefochtene Akt Recht verletzt. Soweit eine
Verletzung von einfachem Bundesrecht oder Völkerrecht geltend gemacht wird,
wendet das Bundesgericht das Recht zwar von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1
BGG). Es überprüft aber grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern
die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind. Es ist nicht
gehalten, wie eine erstinstanzliche Behörde alle sich stellenden rechtlichen
Fragen zu untersuchen, wenn diese vor Bundesgericht nicht mehr vorgetragen
werden (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254; 133 III 545 E. 2.2 S. 550).

2.
Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung von Art. 5 Ziff. 1 LugÜ.

2.1 Sie bringt im Wesentlichen vor, der Erfüllungsort richte sich nach dem
Recht, auf welches das Kollisionsrecht am Gerichtsort verweise. Dies führe
vorliegend unter Berücksichtigung von Art. 117 IPRG (SR 291) zu einem
Klägergerichtsstand, da Geldschulden nach Art. 74 Abs. 2 Ziff. 1 OR
Bringschulden seien. Der Erfüllungsort der konkret strittigen
Schadenersatzforderungen befinde sich in der Schweiz. Entgegen der Ansicht der
Vorinstanz, wonach nicht auf die Schadenersatzforderung als Sekundärleistung
abzustellen sei, ist die Beschwerdeführerin der Auffassung, "dass es nicht nur
Zweck des Art. 5 Ziff. 1 LugÜ sein kann, einen Prozess in Anwendung der
entsprechenden Norm in die Schweiz zu holen, sondern auch äusserst sinnvoll
ist, wenn immer sich die Möglichkeit ergibt und die Klägerschaft dies auch
anstrebt, das Verfahren in einem Land, wo grosse Rechtssicherheit herrscht und
die Verfahren innert akzeptablen Fristen abgehandelt werden, durchgeführt
wird".
Die Vorinstanz habe in diesem Zusammenhang die Problematik des "Italian
Torpedo" völlig ausgeblendet. Da insbesondere italienische Gerichte dafür
bekannt seien, dass namentlich komplexere Verfahren sehr lange dauerten, wobei
vorliegend mit einer Verfahrensdauer von zehn bis zwölf Jahren gerechnet werden
müsse, könne mittels einem Gerichtsstand in Italien ein Verfahren während
Jahren blockiert werden. Angesichts dieser begründeten Gefahr der
Prozessverschleppung erscheine ein Gerichtsstand in der Schweiz in Anwendung
von Art. 5 Ziff. 1 LugÜ absolut geboten.

2.2 Die beiden von der Beschwerdeführerin gestellten Rechtsbegehren betreffen
Ansprüche aus einem Vertrag im Sinne von Art. 5 Ziff. 1 LugÜ. Diese Bestimmung
ermöglicht es dem Kläger, alternativ zum allgemeinen Wohnsitzgerichtsstand
(Art. 2 LugÜ), den Beklagten vor dem Gericht des Ortes zu verklagen, an dem die
Verpflichtung erfüllt worden ist oder zu erfüllen wäre. Zur Bestimmung des
Erfüllungsorts ist nicht jede beliebige vertragliche Verpflichtung massgebend,
sondern nur jene, die dem vertraglichen Anspruch entspricht, auf den der Kläger
seine Klage stützt. Macht er etwa eine Schadenersatzforderung geltend, so ist
auf die vertragliche Verpflichtung abzustellen, deren Nichterfüllung zur
Begründung dieses Anspruchs behauptet wird (BGE 4A_115/2009 vom 11. Juni 2009
E. 3.1; BGE 124 III 188 E. 4a S. 189 f. mit Hinweisen auf die Rechtsprechung
des EuGH). Massgebend ist demnach immer die strittige Primärpflicht und nicht
etwa die aus der Kündigung, Wandelung, Nicht- oder Schlechterfüllung,
Rückabwicklung des Vertrags etc. hervorgehende Sekundärpflicht (BGE 4A_115/2009
vom 11. Juni 2009 E. 3.2 mit Hinweisen).
Wird eine negative Feststellungsklage erhoben, die sich auf eine bestimmte
vertragliche Verpflichtung bezieht, so ist der Erfüllungsort für diese Pflicht
massgeblich (OBERHAMMER, in: Dasser/Oberhammer [Hrsg.], Kommentar zum
Lugano-Übereinkommen, 2008, N. 29 zu Art. 5 LugÜ).

2.3 Diese Grundsätze verkennt die Beschwerdeführerin, wenn sie hinsichtlich
ihres Rechtsbegehrens auf Ersatz der vorprozessualen Anwaltskosten auf den
Erfüllungsort der Schadenersatzforderung anstelle der angeblich verletzten
Primärpflicht des Beschwerdegegners abstellen will. Die Vorinstanz hat
demgegenüber in korrekter Anwendung von Art. 5 Ziff. 1 LugÜ geprüft, an welchem
Ort die angeblich verletzte agenturvertragliche Leistungspflicht des
Beschwerdegegners nach dem von den Parteien gewählten italienischen Recht (vgl.
Art. 116 Abs. 1 IPRG) zu erfüllen war. Sie hat dabei zutreffend geschlossen,
dass der Erfüllungsort der massgebenden Verpflichtung in Italien liegt und
demnach das von der Beschwerdeführerin angerufene Gericht für die Beurteilung
der eingeklagten Schadenersatzforderung nicht zuständig ist.
In Bezug auf ihre negative Feststellungsklage übersieht die Beschwerdeführerin
zunächst mit ihrem Hinweis auf Art. 74 Abs. 2 Ziff. 1 OR, dass der zwischen den
Parteien abgeschlossene Vertrag eine Rechtswahl zugunsten des italienischen
Rechts enthält. Die Vorinstanz hat den Erfüllungsort des der negativen
Feststellungsklage zugrunde liegenden Provisionsanspruchs nach den anwendbaren
italienischen Bestimmungen des Codice civile geprüft und befunden, dass sich
dieser in Italien befinde. Diese Erwägungen sind entgegen der Auffassung der
Beschwerdeführerin, die sich im Übrigen kaum mit den konkreten Ausführungen der
Vorinstanz auseinandersetzt, nicht zu beanstanden. Eine konkrete
Vertragspflicht, die an ihrem Sitz in D.________/AG erfüllt worden bzw. zu
erfüllen gewesen wäre, hat die Beschwerdeführerin nicht dargetan.
Die Beschwerdeführerin wendet vergeblich ein, die Vorinstanz habe die
Problematik des "Italian Torpedo" ausgeblendet. Das Argument der
Beschwerdeführerin, eine "Rechtshängigkeitssperre quasi ad infinitum zugunsten
eines italienischen Verfahrens" sei unzumutbar, verfängt schon deshalb nicht,
weil der Beschwerdegegner bislang kein Verfahren - weder in Italien noch in der
Schweiz - angestrengt hat und die Frage der Rechtshängigkeit (Art. 21 LugÜ)
daher gar nicht zur Diskussion steht. Auch die Ausführungen zu Art. 21 LugÜ
stossen daher ins Leere. Eine Zuständigkeit nach Art. 5 Ziff. 1 LugÜ lässt sich
mit dem Vorbringen der langen Verfahrensdauer in anderen Vertragsstaaten
entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin nicht begründen.

2.4 Zusammenfassend besteht ein Gerichtsstand in D.________/AG nach Art. 5
Ziff. 1 LugÜ weder für das Schadenersatz- noch das Feststellungsbegehren. Die
Vorinstanz ist daher auf die Klage der Beschwerdeführerin zu Recht mangels
örtlicher Zuständigkeit nicht eingetreten. Es erübrigt sich daher, auf die
weiteren Ausführungen der Beschwerdeführerin zum Feststellungsinteresse
einzugehen.

3.
Die Beschwerde erweist sich als unbegründet und ist abzuweisen, soweit darauf
eingetreten werden kann. Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend wird die
Beschwerdeführerin kosten- und entschädigungspflichtig (Art. 66 Abs. 1 und Art.
68 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 4'000.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdeführerin hat den Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 5'000.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Handelsgericht des Kantons Aargau, 2.
Kammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 21. Oktober 2009
Im Namen der I. zivilrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Die Präsidentin: Der Gerichtsschreiber:

Klett Leemann