Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Zivilrechtliche Abteilung, Beschwerde in Zivilsachen 4A.161/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
4A_161/2009

Urteil vom 8. Juni 2009
I. zivilrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Klett, Präsidentin,
Bundesrichter Corboz, Bundesrichterin Kiss,
Gerichtsschreiber Hurni.

Parteien
X.________ AG,
Beschwerdeführerin,

gegen

A.________,
Beschwerdegegnerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Alois Näf.

Gegenstand
Mietvertrag, Zuständigkeit

Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts
des Kantons Thurgau vom 26. Januar 2009.

Sachverhalt:

A.
Die X.________ AG (Beschwerdeführerin) betrieb A.________ (Beschwerdegegnerin)
beim Betreibungsamt Romanshorn für Mietzinsforderungen in der Höhe von
insgesamt Fr. 15'589.35. Auf Rechtsvorschlag der Beschwerdegegnerin hin
erteilte das Vizegerichtspräsidium Arbon am 17. Juli 2007 der
Beschwerdeführerin die provisorische Rechtsöffnung.

B.
B.a Am 30. August 2007 erhob die Beschwerdegegnerin beim Friedensrichteramt
Romanshorn Klage auf Aberkennung der Mietzinsforderungen. Mit Weisung vom 18.
September 2007 wurde das Verfahren am 2. Oktober 2007 beim Einzelrichter am
Bezirksgericht Arbon rechtshängig gemacht. Die Beschwerdeführerin erhob die
Einrede der Unzuständigkeit. Sie vertrat die Ansicht, die Beschwerdegegnerin
hätte zuerst die Schlichtungsbehörde in Mietsachen in Arbon anrufen müssen.
Mit Beschluss vom 8. Juli 2008 trat der Einzelrichter auf die Klage nicht ein.
Er begründete dies mit Hinweis auf BGE 133 III 645 (4A_237/2007 vom 28.
September 2007), in dem das Bundesgericht entschieden hat, dass für
Aberkennungsklagen betreffend Mietzinsforderungen die Schlichtungsbehörde in
Mietsachen sachlich zuständig ist.
B.b Gegen diesen Beschluss erhob die Beschwerdegegnerin beim Obergericht des
Kantons Thurgau Rekurs und beantragte dessen Aufhebung. Mit Beschluss vom 26.
Januar 2009 hiess das Obergericht den Rekurs gut, hob die Erledigungsverfügung
auf und wies die Vorinstanz an, das Verfahren fortzuführen (Dispositiv-Ziff.
1). Es begründete dies damit, dass die Klage vor Erscheinen des
Bundesgerichtsentscheids anhängig gemacht worden war. Der
Bundesgerichtsentscheid bewirke im Kanton Thurgau eine Änderung einer 13 Jahre
geltenden Praxis, wonach die Aberkennungsklage nur beim Friedensrichter
fristwahrend eingereicht werden konnte. Mit Blick auf die Rechtssicherheit und
den Grundsatz von Treu und Glauben sei die Prozesseinleitung der
Beschwerdegegnerin daher als korrekt zu beurteilen.

C.
Mit Beschwerde in Zivilsachen vom 16. März 2009 beantragt die
Beschwerdeführerin dem Bundesgericht, es sei Dispositiv-Ziff. 2 betreffend
Gerichtskosten und Parteientschädigung aufzuheben und auf deren Auferlegung zu
verzichten oder es seien diese dem Staat aufzuerlegen, eventuell sei der ganze
Beschluss des Obergerichts vom 26. Januar 2009 in Bestätigung des
erstinstanzlichen Beschlusses aufzuheben.
Die Beschwerdegegnerin verzichtete auf eine Vernehmlassung. Das Obergericht
schliesst in seiner Vernehmlassung auf Abweisung der Beschwerde.
Mit Präsidialverfügung vom 25. Mai 2009 wurde dem Gesuch um aufschiebende
Wirkung stattgegeben.

Erwägungen:

1.
1.1 Beim angefochtenen Entscheid des Obergerichts handelt es sich um einen
selbständig eröffneten Vorentscheid über die Zuständigkeit. Nach Art. 92 Abs. 1
BGG ist dagegen die Beschwerde an das Bundesgericht zulässig.

1.2 Gegenstand des Verfahrens bildet eine Zivilsache (Art. 72 Abs. 1 BGG). Die
Rechtsbegehren der Beschwerdeführerin sind im kantonalen Verfahren nicht
vollständig geschützt worden (Art. 76 Abs. 1 BGG), der für mietrechtliche Fälle
massgebende Streitwert von Fr. 15'000.-- ist überschritten (Art. 51 i.V.m. Art.
74 Abs. 1 lit. a BGG). Die Beschwerdefrist ist eingehalten (Art. 100 Abs. 1
BGG). Auf die Beschwerde ist damit grundsätzlich einzutreten.

2.
Die Beschwerdeführerin beantragt dem Bundesgericht sinngemäss, den Entscheid
der Vorinstanz aufzuheben und das Urteil der ersten Instanz wiederherzustellen.
Sie rügt, die Vorinstanz habe Art. 274a ff. OR und Art. 83 Abs. 2 SchKG
verletzt, indem sie den Entscheid der Vorinstanz aufgehoben und damit ohne
vorgängiges Verfahren vor der Schlichtungsbehörde in Mietsachen den
Friedensrichter als für die Aberkennungsklage zuständig erklärt habe. Dabei
verweist sie auf den bereits erwähnten BGE 133 III 645.

2.1 Die Vorinstanz hat den Friedensrichter entgegen der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung (BGE 133 III 645) für zuständig erklärt und damit Art. 274a ff.
OR und Art. 83 Abs. 2 SchKG verletzt. Allerdings bestand im Kanton Thurgau
gemäss den unbestrittenen Ausführungen der Vorinstanz während 13 Jahren eine
dem BGE 133 III 645 widersprechende Praxis. Für den Rechtssuchenden im Kanton
Thurgau kam das Urteil des Bundesgerichts somit einer Praxisänderung gleich.
Selbst wenn die Frage der Zuständigkeit höchstrichterlich vorher noch ungeklärt
war, rechtfertigt sich die Prüfung, ob die Beschwerdegegnerin in ihrem
Vertrauen auf die thurgauische Praxis zu schützen ist.

2.2 Eine neue Praxis ist grundsätzlich sofort und in allen hängigen Verfahren
anzuwenden (BGE 135 II 78 E. 3.2 S. 85; 132 II 153 E. 5.1 S. 159; 122 I 57 E.
3c/bb S. 59). Eine Einschränkung dieses Grundsatzes kann sich bei einer
verfahrensrechtlichen Änderung bzw. Klarstellung der bisherigen Rechtsprechung
aus dem Grundsatz des Vertrauensschutzes ergeben. Der Vorrang des
Vertrauensschutzes wird nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung bejaht, wenn
die Änderung oder Klarstellung die Eintretensvoraussetzungen betrifft,
insbesondere die Berechnung von Rechtsmittelfristen (BGE 135 II 78 E. 3.2 S.
85; 132 II 153 E. 5.1 S. 159). Sofern der Betroffene dadurch einen
Rechtsverlust erleiden würde, den er bei Kenntnis der neuen Praxis hätte
vermeiden können, darf diese nicht ohne vorgängige Ankündigung Anwendung finden
(BGE 135 II 78 E. 3.2 S. 85; 122 I 57 E. 3c/bb S. 60).

2.3 Im vorliegenden Fall betrifft die Klarstellung des Bundesgerichts zwar
nicht die Berechnung von Rechtsmittelfristen, wohl aber die Zuständigkeit,
deren Vorliegen ebenfalls zu den Eintretensvoraussetzungen gehört. Sofern die
Beschwerdegegnerin durch die Zuständigerklärung der Schlichtungsbehörde in
Mietsachen einen Rechtsverlust erleiden würde, wäre dem Vertrauensschutz
grundsätzlich der Vorrang zu gewähren.
Art. 32 Abs. 3 SchKG bestimmt indessen, dass bei Zurückweisen einer Klage wegen
Unzuständigkeit eine neue Klagefrist von gleicher Dauer beginnt. Es steht der
Beschwerdegegnerin somit offen, innert einer am Tag nach Zustellung des
Entscheides neu zu laufen beginnenden Frist von 20 Tagen nach Art. 83 Abs. 2
SchKG eine Aberkennungsklage bei der Schlichtungsbehörde in Mietsachen
einzureichen (vgl. Russenberger/Sauter, in: Kurzkommentar SchKG, 2009, N. 12 zu
Art. 32 SchKG; NORDMANN, in: Kommentar zum Bundesgesetz über Schuldbetreibung
und Konkurs SchKG I [Art. 1-87], 1998, N. 14 zu Art. 32 SchKG). Da dem Gesuch
der Beschwerdeführerin um aufschiebende Wirkung stattgegeben wurde, ist für den
Beginn des neuen Fristenlaufs die Zustellung des Rechtsmittelentscheides, hier
des Bundesgerichtsentscheides, massgebend (vgl. JAEGER ET AL., Bundesgesetz
über Schuldbetreibung und Konkurs, 4. Aufl. 1997, N. 5 zu Art. 32). Einen
Rechtsverlust erleidet die Beschwerdegegnerin nicht. Der Einzelrichter am
Bezirksgericht Arbon hat sich damit zu Recht als für die Aberkennungsklage
unzuständig erklärt.

3.
Aus diesen Gründen ist die Beschwerde gutzuheissen. Die Gerichtskosten sind der
Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Eine Parteientschädigung
ist nicht geschuldet, da die Beschwerdeführerin sich nicht durch einen Anwalt
vertreten liess (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG; vgl. BGE 133 III 439 E. 4 S. 446).
Die Sache ist zu neuem Entscheid über die Kosten- und Entschädigungsfolgen an
die Vorinstanz zurückzuweisen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Beschluss des Obergerichts des Kantons
Thurgau vom 26. Januar 2009 aufgehoben. Dispositiv-Ziff. 1 wird wie folgt neu
gefasst:
"Der Rekurs wird abgewiesen."

2.
Die Sache wird zur neuen Entscheidung über die Kosten- und Entschädigungsfolgen
des kantonalen Verfahrens an die Vorinstanz zurückgewiesen.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 1'000.-- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

4.
Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Thurgau
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 8. Juni 2009
Im Namen der I. zivilrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Die Präsidentin: Der Gerichtsschreiber:

Klett Hurni