Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Klage nach Art. 120 BGG 1E.1/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1E_1/2009

Urteil vom 21. Dezember 2009
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Reeb, Fonjallaz, Eusebio,
Gerichtsschreiber Haag.

Parteien
Kanton Bern, Kläger, vertreten durch die Polizei- und Militärdirektion, Amt für
Freiheitsentzug und Betreuung, Schermenweg 5, Postfach 5059, 3001 Bern,

gegen

Kanton Appenzell Ausserrhoden, Beklagter,
vertreten durch das Departement Sicherheit und Justiz,
Straf- und Massnahmenvollzug, Rathaus, 9043 Trogen.

Gegenstand
Zuständigkeit,

Klage.
Sachverhalt:

A.
Auf einem mit "Antrag auf Überstellung" bezeichneten Formular bekundete
X.________ am 26. Juli 2007 sein Interesse, zur weiteren Strafverbüssung in die
Schweiz überstellt zu werden. Nach den im genannten Formular enthaltenen
Angaben verbüsste X.________ gestützt auf ein Urteil eines Madrider Gerichts in
einem spanischen Gefängnis eine Freiheitsstrafe von 9 Jahren und einem Tag. In
der Folge ersuchte das Bundesamt für Justiz das Departement Sicherheit und
Justiz des Kantons Appenzell A.Rh., sich zum Überstellungsgesuch zu äussern.
Das Departement Sicherheit und Justiz des Kantons Appenzell A.Rh. erklärte sich
für unzuständig. X.________ habe weder Wohnsitz noch Bürgerrecht im Kanton
Appenzell A.Rh. Er habe sich bereits am 25. August 2007 aus der Gemeinde
Speicher abgemeldet.

B.
Hierauf richtete sich das Bundesamt für Justiz mit Schreiben vom 14. Juli 2008
an die Polizei- und Militärdirektion des Kantons Bern mit der Frage, ob sie
einer Überstellung von X.________ zustimme. Die Abteilung Straf- und
Massnahmenvollzug der Polizei- und Militärdirektion des Kantons Bern erachtete
in ihrem Schreiben vom 21. August 2008 die Zuständigkeit des Kantons Appenzell
A.Rh. als gegeben. Die formellen Voraussetzungen für eine Überstellung seien
erfüllt. Nach Art. 342 StGB seien die Behörden des Wohnorts oder subsidiär des
Heimatorts zuständig. X.________ sei in Kleindietwil BE heimatberechtigt. Der
Heimatort komme jedoch im vorliegenden Fall nicht zum Tragen, weil X.________
seinen Wohnsitz nach wie vor in der Gemeinde Speicher AR habe. Seit Eingang des
Überstellungsgesuchs beim Bundesamt für Justiz sei bereits mehr als ein Jahr
vergangen. Der Kanton Bern sei daher namentlich aus humanitären Gründen der
Ansicht, dass das Verfahren so rasch als möglich abgeschlossen werden müsse.
Sofern der Kanton Appenzell A.Rh. nicht bereit sei, seine Zuständigkeit
anzuerkennen, würde der Kanton Bern in dieser Angelegenheit an die
Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts gelangen.
Um weitere Verzögerungen zu vermeiden, biete die Abteilung Straf- und
Massnahmenvollzug des Kantons Bern an, dass einer vorläufigen Überstellung in
den Kanton Bern - mit entsprechender Kostenfolge - zugestimmt werde. Dies
geschehe allerdings unter der Bedingung, dass sich der Kanton Appenzell A.Rh.
vorgängig bereit erkläre, den weiteren Vollzug zu übernehmen und dem Kanton
Bern die im Zusammenhang mit der Überstellung entstandenen Kosten
zurückzuerstatten, wenn die Zuständigkeit nach gerichtlicher Beurteilung der
Sache beim Kanton Appenzell A.Rh. liegen sollte.
Das Departement Sicherheit und Justiz des Kantons Appenzell A.Rh. hielt in
einem weiteren Schreiben an das Bundesamt für Justiz an seiner Rechtsauffassung
fest und erklärte, ebenfalls an einer baldmöglichsten Klärung der Zuständigkeit
interessiert zu sein. Der Kanton Appenzell A.Rh. sei daher mit dem Vorschlag
der Abteilung Straf- und Massnahmenvollzug des Kantons Bern einverstanden, dass
X.________ - mit entsprechender Kostenfolge - vorläufig in den Kanton Bern
überstellt werde. Der vom Kanton Bern angestrebte Entscheid der
Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts werde akzeptiert. Der Kanton Appenzell
A.Rh. werde den weiteren Vollzug der Strafe mit rückwirkender Kostenfolge
übernehmen, wenn das Bundesstrafgericht zum Schluss komme, die Zuständigkeit
liege beim Kanton Appenzell A.Rh.
Mit Vollzugsauftrag für Strafen und Massnahmen vom 2. Oktober 2009 hielt der
Kanton Bern hierauf das Regionalgefängnis Bern, Anstalten in Witzwil, an,
X.________ zum Zwecke des Strafvollzugs aufzunehmen.

C.
Mit Entscheid vom 6. Juli 2009 trat die I. Beschwerdekammer des
Bundesstrafgerichts auf das Gesuch des Kantons Bern, die Zuständigkeit für die
Übernahme des Strafvollzugs im Zusammenhang mit der Überstellung des in Spanien
verurteilten X.________ zu bestimmen, nicht ein. Zur Begründung seines
Entscheids führte das Bundesstrafgericht im Wesentlichen aus, es gehe im
vorliegenden Fall nicht um die Bestimmung des Gerichtsstands durch das
Bundesstrafgericht im Sinne von Art. 345 StGB. Das Bundesamt für Justiz lege
mit seinem Entscheid gemäss Art. 104 Abs. 1 IRSG (SR 351.1) über die Annahme
des ausländischen Ersuchens die innerstaatliche Zuständigkeit fest. Ein solcher
Entscheid könne beim Bundesstrafgericht nicht angefochten werden.

D.
Der Kanton Bern erhebt mit Rechtsschrift vom 7. Oktober 2009 gegen den Kanton
Appenzell A.Rh. Klage beim Bundesgericht. Er stellt den Antrag, es sei
festzustellen, dass der Kanton Appenzell A.Rh. in Sachen X.________ zum Vollzug
der mit Urteil des Untersuchungsgerichts Madrid No 15 vom 29. Mai 2007
ausgesprochenen und mit Entscheid des Gerichtskreises IV Aarwangen-Wangen vom
28. Oktober 2008 als vollstreckbar erklärten Freiheitsstrafe von neun Jahren
und einem Tag zuständig sei. Der Kanton Bern beruft sich auf Art. 120 Abs. 1
lit. b BGG und macht geltend, es sei kein Rechtsmittel zum Entscheid über die
Zuständigkeit gegeben.

E.
Das Departement Sicherheit und Justiz des Kantons Appenzell A.Rh. beantragt,
die Klage sei abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei.

Erwägungen:

1.
Das Bundesgericht prüft seine Zuständigkeit von Amtes wegen und mit freier
Kognition (Art. 29 Abs. 1 BGG).

1.1 Gemäss Art. 120 Abs. 1 lit. b BGG beurteilt das Bundesgericht auf Klage als
einzige Instanz unter anderem öffentlich-rechtliche Streitigkeiten zwischen
Kantonen. Nach Art. 120 Abs. 2 BGG ist die Klage jedoch unzulässig, wenn ein
anderes Bundesgesetz eine Behörde zum Erlass einer Verfügung über solche
Streitigkeiten ermächtigt. Gegen die Verfügung ist letztinstanzlich die
Beschwerde an das Bundesgericht zulässig.

1.2 Nach Art. 104 Abs. 1 IRSG entscheidet das Bundesamt nach Rücksprache mit
der Vollzugsbehörde über die Annahme des ausländischen Ersuchens. Nimmt es
dieses an, so übermittelt es die Akten und seinen Antrag der Vollzugsbehörde
und verständigt den ersuchenden Staat. Es kann die Übernahme des Strafvollzugs
in sinngemässer Anwendung von Art. 91 Abs. 4 IRSG ablehnen. Nach dem klaren
Wortlaut von Art. 104 Abs. 1 IRSG entscheidet das Bundesamt verbindlich über
die Übernahme des Strafvollzugs durch die Schweiz und durch den bestimmten
Kanton. Die kantonale Zuständigkeit ist nach den Regeln von Art. 342 StGB
festzulegen (vgl. Art. 105 IRSG i.V.m. Art. 342 StGB in der Fassung des dritten
Buchs StGB vom 13. Dezember 2002, in Kraft seit 1. Januar 2007 [AS 2006 3459
3535]). Danach sind für Straftaten, die im Ausland begangen wurden, die
Behörden des Wohnorts des Täters zuständig. Fehlt ein Wohnort in der Schweiz,
so sind die Behörden des Heimatorts zuständig (Art. 342 Abs. 1 StGB).
Vor seinem Entscheid hat das Bundesamt mit dem von ihm als zuständig erachteten
Vollzugskanton Rücksprache zu nehmen. Diese Rücksprache dient im Wesentlichen
der Wahrung des rechtlichen Gehörs gegenüber dem Vollzugskanton vor Erlass der
Verfügung über die Übernahme des Strafvollzugs (Art. 29 Abs. 2 BV). Hält sich
ein angefragter Kanton für nicht zuständig, so ist je nach den konkreten
Umständen noch mit einem oder mehreren anderen Kantonen Rücksprache zu nehmen
(z.B. bei mehreren Heimatkantonen). Nach erfolgter Rücksprache hat das
Bundesamt über das Übernahmegesuch betreffend den Strafvollzug eine Verfügung
zu treffen. Stimmt es der Übernahme zu, so bestimmt es gleichzeitig nach den
Regeln von Art. 342 StGB den Kanton, der für die Vollstreckung des
ausländischen Urteils und die Durchführung des Exequaturverfahrens nach Art.
105 f. IRSG zuständig ist.

1.3 Ist die hier umstrittene Zuständigkeitsfrage erstinstanzlich durch den
Erlass einer Verfügung zu entscheiden, so tritt an die Stelle der Klage nach
Art. 120 Abs. 1 BGG die Beschwerde gemäss Art. 120 Abs. 2 BGG. In diesem
Beschwerdeverfahren beurteilt das Bundesgericht letztinstanzlich die kantonale
Zuständigkeit. Die Beschwerde nach Art. 120 Abs. 2 BGG betrifft im vorliegenden
Zusammenhang lediglich die Frage der Zuständigkeit zur Durchführung des
Exequaturverfahrens und zur Vollstreckung des ausländischen Strafurteils. Es
handelt sich dabei um eine staatsrechtliche Streitigkeit, die in Bezug auf
Anfechtungsgegenstand, Vorinstanz, Beschwerdelegitimation etc. nicht in jeder
Hinsicht den Regeln einer der drei Einheitsbeschwerden des BGG unterliegt.
Anfechtungsobjekt bildet die gemäss Art. 104 Abs. 1 IRSG erlassene Verfügung
des Bundesamts für Justiz. Zur Beschwerde gegen diese Verfügung ist der Kanton
berechtigt, dem das Bundesamt die Prüfung der Vollstreckungsvoraussetzungen
überträgt. In Bezug auf Form und Frist sind die Art. 42 und 100 Abs. 1 BGG
anwendbar.

1.4 Dem beschriebenen Rechtsweg zur Klärung der Zuständigkeitsfrage steht Art.
14 IRSV (SR 351.11) nicht entgegen. Diese vor Erlass des BGG eingefügte
Bestimmung bezeichnet Entscheide des Bundesamts über die Annahme oder die
Weiterleitung eines Ersuchens an die ausführende Behörde im Sinne von Art. 104
IRSG als nicht selbstständig anfechtbar. Dies entspricht grundsätzlich der
Praxis des Bundesgerichts zur Anfechtbarkeit von Vorprüfungsentscheiden des
Bundesamts für Justiz (Urteil 1A.53/2001 vom 26. April 2001; ROBERT ZIMMERMANN,
La coopération judiciaire internationale en matière pénale, 3. Aufl. 2009, S.
730). Soweit jedoch mit dem Entscheid des Bundesamts auch über die
innerstaatliche Zuständigkeit zum Exequaturverfahren nach Art. 105 f. IRSG
entschieden wird, liegt ein Entscheid über eine Rechtsfrage vor, welche für das
Exequaturverfahren von grundlegender Bedeutung ist und nicht auf einen späteren
Zeitpunkt verschoben werden kann. Nach rechtskräftiger Beurteilung der
Zuständigkeitsfrage hat der als zuständig bezeichnete Kanton das
Exequaturverfahren im Sinne von Art. 105 f. IRSG durchzuführen (Urteil des
Bundesgerichts 1A.53/2001 vom 26. April 2001 E. 2b). Der Entscheid des
erstinstanzlichen Exequaturrichters unterliegt einem kantonalen Rechtsmittel
(Art. 106 Abs. 3 IRSG). Der kantonale Rechtsmittelentscheid kann anschliessend
mit Beschwerde in Strafsachen beim Bundesgericht angefochten werden (Art. 78
Abs. 2 lit. b BGG).

2.
Es ergibt sich, dass das Bundesamt für Justiz die Zuständigkeitsfrage gestützt
auf Art. 104 Abs. 1 IRSG in einer Verfügung zu regeln hat, welche nach Art. 120
Abs. 2 BGG der Beschwerde durch den betroffenen Kanton an das Bundesgericht
unterliegt. Auf die vorliegende Klage kann somit nicht eingetreten werden.
Den Parteien sind für das bundesgerichtliche Verfahren in Anwendung von Art. 66
Abs. 4 und Art. 68 Abs. 3 BGG keine Gerichtskosten aufzuerlegen und keine
Parteientschädigungen zuzusprechen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Auf die Klage wird nicht eingetreten.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Bundesamt für Justiz schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 21. Dezember 2009
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Féraud Haag